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§ 2Umfang und neuere Entwicklung der Jugendkriminalität I.Natur und Umfang der Jugendkriminalität

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31Im Folgenden wird ein kurzer Überblick über spezifische Erkenntnisse der jugendkriminologischen Forschung gegeben.45

32Obgleich sowohl die polizeiliche Kriminalstatistik wie auch die Verurteiltenstatistik die als Täter der Polizei bekannt gewordenen bzw. von den Gerichten verurteilten Jugendlichen und Heranwachsenden gesondert aufführen, lässt sich jedoch ein auch nur einigermaßen zuverlässiges Bild vom wirklichen Umfang der Jugendkriminalität aus diesen amtlichen Statistiken nicht gewinnen. Abgesehen von den allgemeinen Fehlerquellen der Kriminalstatistik,46 kommt für die Jugendkriminalstatistik noch hinzu, dass sich der Umfang jener „unechten Kriminalität“ junger Menschen, die lediglich in bagatellmäßigen Entgleisungen im Sozialisationsprozess besteht, und der Bereich der „echten“ Jugendkriminalität statistisch kaum erfassen oder gar trennen lässt. Jede noch so harmlose Entwendung geringfügiger Gegenstände aus Selbstbedienungsläden, jede Benutzung von Bus und Bahn ohne gültigen Fahrausweis wird, wenn sie polizeilich aufgeklärt bzw. förmlich abgeurteilt wird, als Diebstahl bzw. Beförderungserschleichung in den Statistiken erscheinen, während andererseits auch die echte Kriminalität junger Menschen deshalb statistisch oft überbewertet wird, weil jugendliche Täter meist mit geringerem Raffinement zu Werk gehen und deshalb leichter entdeckt und überführt werden. Zudem verursachen sie gerade im Bereich der Eigentums- und Vermögensdelikte regelmäßig nur geringe Schäden. Allerdings deuten die Statistiken darauf hin, dass junge Menschen vermehrt Gewalt anwenden, vor allem gegen Gleichaltrige, wenn auch in einem großen Teil der Fälle mit nur geringen Verletzungsfolgen.47

33Um die Aufhellung der von der Verurteiltenstatistik nicht erfassten Kriminalität hat sich die neuere deutsche und ausländische Dunkelfeldforschung48 bemüht. Sie hat ergeben, dass es auch unter den bisher nicht strafrechtlich auffälligen Jugendlichen und Heranwachsenden nur wenige gibt, die nicht bei anonymer Befragung zugeben würden, eine oder mehrere Straftaten begangen zu haben. Dabei handelt es sich in der Regel um jene relativ leichten Vergehen, an deren Begehung sich so mancher noch aus der eigenen Jugend erinnern wird: Schlägereien unter Jugendlichen (§§ 223 ff. StGB), Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung, Fahren ohne Führerschein oder unter Alkoholeinfluss, Diebstahl aus Selbstbedienungsläden oder Automaten, Erschleichung freien Eintritts in Verkehrsmittel oder Veranstaltungen (§§ 265a, 263 StGB) und dergleichen. Insoweit erweist sich Jugendkriminalität als jene oben geschilderte normale und meist auch episodenhafte Erscheinung in der Entwicklungsphase aller jungen Menschen, die zwanglos aus den geschilderten Schwierigkeiten der Reifungs- und Sozialisationsvorgänge zu erklären ist.

34Aus allen Untersuchungen geht hervor, dass die von den verschiedenen Organen der Sozialkontrolle, insbesondere der Strafjustiz, getroffene Auslese doch nicht so zufällig oder gar willkürlich ist, wie es angesichts jener „Normalität“ und „Ubiquität der Jugenddelinquenz zunächst erscheinen möchte. Oft wird jene kleine und harmlose Kriminalität schon mangels Anzeige durch das Opfer gar nicht zur Kenntnis der Strafverfolgungsorgane gelangen. Soweit dies aber dennoch geschieht, ergibt sich daraus für die jugendstrafrechtliche Gesetzgebung die Aufgabe, für solche kleinen Fälle hinreichende Möglichkeiten vorzusehen, entweder von einer Strafverfolgung ganz abzusehen oder doch, falls aus general- oder spezialpräventiven Gründen immerhin eine die Sozialisation fördernde Warnung zweckmäßig erscheint, sich mit ganz leichten Sanktionen ohne eine schädliche Stigmatisierungswirkung zu begnügen. Das geltende JGG versucht das erstere auf prozessualem Wege durch eine Einschränkung des Anklagezwangs in Form der Diversion nach § 45 I u. II JGG (dazu unter Rn. 723, 731 ff.) sowie durch das Absehen von schwereren Rechtsfolgen zu Gunsten von Ermahnung, Verwarnung oder erzieherischen Weisungen und Auflagen zu erreichen.

35Aus der „Normalität“ der Jugendkriminalität und der weiteren Tatsache, dass unter den verurteilten Jugendlichen nach den meisten Untersuchungen die aus der Unterschicht stammenden relativ stärker repräsentiert sind als die aus Mittel- und Oberschicht, ist seitens einiger amerikanischer und deutscher Kriminalsoziologen (Sack; H. Peters; Feest)49 allzu schnell und ohne überzeugende empirische Absicherung gefolgert worden, dass Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte „bevorzugt die Angehörigen bestimmter sozialer Schichten als kriminell definieren“ und die Strafjustiz insofern eine gegen die Unterschicht gerichtete Klassenjustiz sei. Diesen Befunden wird entgegengehalten, dass sich jene Überrepräsentierung der Unterschicht keineswegs nur durch eine einseitige Auslese, sondern auch durch eine stärkere Belastung mit kriminogenen Merkmalen und deliktsspezifischen Zugangschancen erklären lässt. Auch wird auf die Bedeutung des heute veränderten, nämlich partiell exzessiveren Anzeigeverhaltens hingewiesen, das sich besonders bei der Zunahme der registrierten Gewaltkriminalität auswirkt. Aber die kriminologische Forschung der letzten Jahrzehnte hat immer noch keine Bestätigung oder klare Gegenthese zum Vorwurf einer gezielten schichtspezifischen Selektion durch die offiziellen Strafverfolgungsorgane erbracht. Dazu bräuchte man umfangreiche Fallstudien, die ethnografisch und fallrekonstruktiv angelegt sind.50

36Der „Labeling-approach“ ist als Kriminalitätstheorie51 viel zu einseitig und enthält als solche, wie alle monokausalen Theorien, allenfalls eine Teilwahrheit; andererseits ist ihm eine begründete Warnung für alle mit der Verfolgung von Jugendstraftaten befassten Stellen zu entnehmen: Diese sollten stets darauf bedacht sein, dass jene mannigfachen vom JGG vorgesehenen Möglichkeiten, bei leichter und insoweit „normaler“ Jugenddelinquenz stigmatisierende Sanktionen zu vermeiden (Einzelheiten zur sog. „Diversion“ s. unter Rn. 731 ff.), auf Jugendliche aller sozialen Schichten gleichmäßig im Sinne der Chancengleichheit angewendet werden. Auch lässt sich nicht leugnen, dass gerade im Jugendstrafrecht eine gewisse Benachteiligung der Delinquenten aus wirtschaftlich und sozial schwachen Schichten insofern stattfinden kann, als wohlhabende Eltern eher die Möglichkeit haben, ihre Kinder durch Wiedergutmachung des Schadens vor Anzeige zu schützen oder auf andere Weise (z. B. privates Internat) vor stigmatisierenden Deliktsfolgen zu bewahren.

Jugendstrafrecht

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