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Kapitel 9 | Jonathan | Ziehmutter

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Es war längst tiefe Nacht, als wir an Miss Scarletts Haus ankamen. Ich hatte Lymle den Weg über getragen. Bereits nach den ersten Metern war sie auf meinem Rücken eingeschlafen. Sie war wundersam leicht und es belastete mich kaum, sie zu tragen. Ich begriff nicht, warum sie zusammengebrochen war oder was Miss Scarlett gemacht hatte, um sie zu wecken. Mehr als ihren Namen hatte sie mir auch nicht genannt und ich wusste, dass meine Fragen heute Abend unbeantwortet blieben.

Wir mussten die Stadt langsam durchqueren. Noch immer war alles voller Wachen und mir schien es so, als ahnte Miss Scarlett, wo ein Weg um sie herum führte.

Ich betrat hinter ihr gemächlich das Haus und Lymle erwachte, als wir in den Flur traten. Wir gingen weiter in das vermeintliche Wohnzimmer und ich setzte sie auf dem Hocker vor dem Klavier ab. Anschließend schaute ich mich um. Das Zimmer war voller Kuriositäten: Überall saßen spinnenartige Puppen wie die, die uns auf dem Weg hier her begleitet hatten. Ihr Oberkörper war der einer weißen Porzellanpuppe mit bemaltem Gesicht und roten Lippen, ab der Taille abwärts jedoch ging ihr Körper in den einer metallenen Schwarzspinne über. Unheimlich.

Auf einer Truhe war ein Gerät aufgestellt, das mich an ein Schneckenhaus erinnerte. Selbst ein kleiner Tisch war etwas ganz Besonderes in diesem Raum, denn er beherbergte einen Schwarm Fische, die friedlich in dem gläsernen Tischkörper schwammen, der in Holz eingefasst war. Das Klavier und tausend andere Kleinigkeiten wie Bilder von Erfindungen der Technomanten oder Zweige, die aus der Decke wuchsen, füllten den Rest des Zimmers aus.

Doch am meisten verblüffte mich eine leuchtende Pflanze, die hinter dem alten Schneckenhaus stand. Auch Lymle erblickte sie und zeigte flüchtig einen verwirrten Gesichtsausdruck, als wolle sie etwas dazu fragen, ließ jedoch davon ab.

»Jonathan«, sagte Miss Scarlett zu mir und ich hatte das Gefühl, dass sie meine Aufmerksamkeit von Lymle und dem Raum ablenken wollte. »Bitte folge mir.«

Wir gingen aus dem Zimmer, den Flur entlang und blieben vor einer Tür nahe dem Eingang stehen.

»Hier kannst du bleiben, für die eine oder andere Nacht«, sagte sie, drehte sich um und kehrte in das Wohnzimmer zurück. Ich konnte mich nicht einmal bedanken oder ihr eine meiner vielen Fragen stellen; morgen war ja auch noch ein Tag. Es war schon großzügig genug von ihr, mich bei sich wohnen zu lassen, da wollte ich sie nicht direkt belästigen.

Ich ging in das Zimmer und fand einen kleinen, aber sauberen Raum mit einem Federbett und einem Kleiderschrank vor. Ein schlichtes Gästezimmer, das so aussah, als würde es immer bereit sein, jemanden mit Freuden aufzunehmen.

Ich schmiss noch meine Kleidung über einen Stuhl und warf mich auf das Bett. Viel Schlaf bekam ich heute Nacht nicht mehr.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, fühlte ich mich herrlich ausgeruht. Ich schaute aus einem kleinen runden Fenster und sah, dass die Sonne bald aufging. Zeit, sich für die Akademie fertigzumachen. Ich zog meine Kleidung vom Vortag an; sie war wie neu. Wenn man in Betracht zog, was ich alles mit ihr durchgemacht hatte, war es mehr als erstaunlich, dass sie in so einem guten Zustand war.

Ich öffnete die Tür zum Flur und erschrak, als vor meinen Füßen zwei Spinnenmarionetten ein Tablett mit Kaffee und Frühstück darauf umkippen ließen. Sofort kamen zwei weitere angekrabbelt und versuchten eilig, die Flecken aus den Teppichen zu entfernen. Vorsichtig setzte ich meinen Weg Richtung Wohnzimmer fort und musste aufpassen, dass die kleinen Wesen mich nicht über den Haufen rannten.

Im Wohnraum saß Miss Scarlett in ihrem Ohrensessel. Mir fiel auf, dass die Pflanze vom Vortag nicht mehr leuchtete. Am Klavier saß die Puppe, welche gestern noch auf Lymles Schoß gesessen hatte. Sie spielte im Hintergrund eine leise Melodie auf dem Flügel.

»Guten Morgen. Ich mache mich jetzt auf den Weg. Ist Lymle wach?«

»Lym wird heute nicht zum Unterricht kommen. Richte das bitte euren Professoren aus«, sagte sie kühl und nähte weiter, ohne mich anzusehen.

»Ist gut«, antwortete ich nur knapp.

Ich ging wie jeden Morgen als einer der Ersten in die Akademie. Doch in dieser Morgenstunde betraten schon viele andere Adepten vor mir den Innenhof der Akademie. Zahlreiche Stadtwachen umstellten die Gebäude und alle Schüler wurden am Eingang kontrolliert. Vielleicht war es sogar besser, dass Lymle heute nicht hier herkam, aber fiel ihr Fehlen nicht auf? Ich würde den Professoren erklären, dass sie erkältet sei. Keiner glaubte, dass sie wegen der Wachen nicht zum Unterricht erschien. Es war ja auch die Wahrheit ... hoffte ich.

Ich fand Cloe und Richard auf dem Weg zum Klassenraum und erzählte ihnen vom Vortag. Beide waren erleichtert, dass ich eine Bleibe gefunden hatte, allerdings zeigte Cloe eine gewisse Skepsis, was Lymle betraf. Ich erwähnte ihren Schwächeanfall nicht, aber unsere Flucht und dass ich sie nicht für die gesuchte Mörderin hielt. Sie war einfach zu zart für so etwas. Trotzdem hatte sie irgendetwas mit der Stadtwache zu tun. Ich wollte darauf erst einmal nicht weiter eingehen. Ich musste mehr herausfinden.

Der Schultag war schnell vorbei. Ich hatte nur halbherzig mitgemacht, zu sehr war ich mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt. Auf dem Rückweg achtete ich kaum noch auf die vielen Wachen, die auf den Straßen patrouillierten. Wenn ich mich jetzt um sie herumschlich, wurde ich nur verdächtig. So verbarg ich mich zwischen den anderen Adepten, die ihren Weg nach Hause gingen. Versteckt durch ein normales, ganz offensichtliches Auftreten.

Zurück bei Miss Scarlett sah es aus wie am Morgen: Die Spinnen verrichteten noch immer die Hausarbeit und sie selbst saß in ihrem Sessel und nähte.

»Da bin ich wieder. Die Professoren haben mir für Lymle den Unterrichtsstoff mitgegeben. Ist sie oben?«

Sie sah mich einmal kurz musternd an, warf einen flüchtigen Blick auf die Schulunterlagen in meiner Hand und dann auf ihr Stück Stoff. »Die Treppe rechts vom Eingang hoch, die zweite Tür links. Leg es ihr auf den Schreibtisch und komm danach zu mir. Und fass nichts an«, sagte sie in ermahnendem Ton. Ich fühlte mich für einen Moment wie ein kleines Kind, das von seiner Mutter zurechtgewiesen wurde.

Ohne etwas zu erwidern, ging ich die Stufen hinauf in ihr Zimmer. Ich öffnete die Tür und wurde von einigen Dutzend Lampen empfangen, die alle leuchteten. Ihr Raum war in jeder Ecke und auf sämtlichen Oberflächen mit Leuchten unterschiedlichster Formen ausgestattet. Es schien beinahe so, als würde es bei so vielen Lichtquellen keinen Platz mehr für Schatten geben. Der Rest ihres Zimmers war neben den Öllampen wenig aussagekräftig. Es lag nichts Persönliches von ihr herum und es gab auch kaum Besonderheiten, die man in den Räumen anderer Menschen entdecken konnte. Es war fast so wie in einem Gästezimmer, wohnlich, doch nicht privat.

Ich legte die Unterlagen zwischen ein paar Lampen auf dem Tisch ab und ging raus. Zurück im Wohnzimmer sprach ich Miss Scarlett an: »Wo ist denn Lymle? Sollte sie nicht in ihrem Zimmer sein?«

»Sollte sie. Das stimmt. Aber sie ist keins der Mädchen, die sich lange einsperren lassen«, erwiderte sie und seufzte leicht. Daraufhin sah sie mich an und lächelte: »Dabei wollte ich nie Kinder.«

»Wer ist denn der Vater?«, fragte ich sie ungeniert.

»Oh«, bemerkte sie scheinbar erst jetzt, auf welche Idee sie mich gebracht hatte und wedelte abwehrend mit ihren Händen. »Lym ist nicht meine Tochter.«

»Wie kam Lymle zu Ihnen?«

Ich nahm wahr, wie sie sich an etwas zurückerinnerte. Ihr Blick wirkte weit weg und es dauerte einige Momente, bis sie sich fassen konnte.

»Das ist unwichtig«, sagt sie leise, immer noch in gewisse Gedanken versunken. »Sie ist hier. Das ist die Hauptsache.« In dem Augenblick sah sie mich an und schmunzelte: »Du bist doch auch an diesem Ort. Ich muss nicht wissen, was passiert ist, um zu sehen, dass du eine Bleibe brauchtest. Es ist nicht so, dass ich jedem eine Unterkunft anbiete. Schätze dies gut, Jonathan.«

»Danke … Ich weiß das sehr zu schätzen. Ich möchte mich bei Ihnen bedanken. Wie kann ich eine Hilfe sein? Ich bin niemand, der gerne auf Kosten anderer lebt.«

»Die Zeit wird kommen, da wirst du mir mehr helfen, als ich dir je zurückgeben könnte«, meinte sie geheimnisvoll. Ihr Blick ließ aber keine weiteren Fragen zu. Sie sah auf den runden Spiegel neben sich, der an der Wand hing. Er hatte einen Riss und war bereits leicht gesplittert. Nach einem Moment sagte sie: »Würdest du Lym für mich abholen? Sie ist bei einem Technomanten im Handwerkerviertel. Er besitzt dort eine Werkstatt in der dritten Straße.«

Ich nickte nur zustimmend und verließ das Haus. Im Handwerkerviertel war sie also. Was machte sie wohl bei einem Technomanten? Ich würde es schon noch herausfinden.

Die verbotene Prophezeiung

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