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Kapitel 17 | Jonathan | Die Suche

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Lymle konnte wahnsinnig schnell rennen. Im Sportunterricht hatte ich das schon oft beobachten können. Aber dass sie so blitzschnell war, dass sie selbst mich so weit abhing, dass ich sie nur noch um die nächste Ecke biegen sah, sobald ich um eine bog? Hatte sie sich bei unserem kleinen Wettrennen etwa zurückgehalten? Ihr Vorsprung wurde immer größer.

Professor Blue hatte uns nur verwundert hinterher geschaut. Er hatte kein Wort gesagt. Was sagten die Professoren wohl, wenn sie erfuhren, dass wir nicht auf unsere Eltern gewartet hatten? Ich hoffte, sie vergaßen das nach dem Wochenende.

Lymle war erneut eine Ecke weiter als ich, aber ich bemerkte, wo es sie hinzog: Sie wollte die Akademie verlassen!

Ich versuchte, meine Schritte zu beschleunigen, doch ich konnte nicht mehr schneller laufen. Ich wurde eher immer langsamer, mir ging die Luft aus. Lymle schien davon unbeeindruckt. Nach wie vor legte sie ein unglaubliches Tempo an den Tag.

Ich war in der großen Eingangshalle angekommen und sah sie grade noch hinter dem wuchtigen Tor verschwinden. Zumindest das hatte sie Zeit gekostet. Ich eilte hinterher, durch den offen gelassenen Schlitz und rannte ins Freie.

Vor mir lag ein kleiner Platz. Hier versammelten sich oft die Adepten, bevor es mit dem Unterricht losging. Die Akademie umsäumte diesen Platz wie ein Hufeisen. Doch zu dieser Stunde war auch er verlassen, wie die gesamte Akademie bis auf ein paar vereinzelte Professoren. Alle anderen waren gegangen. Wieso war Miss Scarlett nicht aufgetaucht, um Lymle abzuholen?

Ich sah Lymle in einer angrenzenden Straße verschwinden. Nach Luft ringend konnte ich nur noch in einem leichten Trab folgen, kaum mehr schneller als zügiges Gehen. So würde ich sie nie einholen.

An der Gasse angekommen warf ich einen Blick hinein. Nebel! Warum war hier mitten am Tag Nebel? Er sah dem vom Vormittag erschreckend ähnlich, so dunkel, wie er war. War sie etwa in die Nebelwolke gerannt? Sie hatte es schon am Morgen versucht, da hatte ich Lymle noch aufhalten können. Sie befand sich nicht mehr in Sichtweite …

Ich lief schwer atmend in die Gasse hinein und die ersten Nebelschwaden umspielten meine Beine. Nach ein paar Metern hatten mich die Nebelschleier komplett eingehüllt. Es war merkwürdig. Nie zuvor hatte ich eine so dichte Nebelwolke in der Natur beobachten können. Ich schnupperte und nahm überrascht eine Mischung aus Zimt und … einem leichten Blumenduft wahr.

Ungewöhnlich, doch ich hatte keine Zeit, mir deswegen Gedanken zu machen. Lymle war in diesen Nebel gerannt – derselbe, der bereits seine Klauen nach ihr ausgestreckt hatte. Warum tat sie so etwas? Was trieb sie dorthin?

Ich folgte ihr weiter in die Nebelwolke hinein. Meine Schritte klangen gedämpft, alles um mich herum bekam ein merkwürdiges Aussehen. Aus dem Dunst tauchten wiederholt Gegenstände vor mir auf, die sonst in der Gasse herumstanden. Mit so wenig Sicht schien es unausweichlich, sodass ich gegen Mülltonnen stieß oder über Abwasserrinnen und Bordsteine stolperte. Ich konnte meine Füße kaum sehen, wie sollte ich so Lymle finden?

Ich lief nur einige Minuten durch den Nebel, der die Welt um mich herum verschluckte, doch es kam mir selbst wie eine Ewigkeit vor. Die Geräusche der Stadt erreichten mich hier nicht und eine gespenstische Stimmung verbreitete sich. Ein paar Mal hatte ich das Gefühl, dass jemand direkt hinter mir ging oder dass andere Menschen dicht an mir vorbeizogen. Aber ich bekam keinen Kontakt zu ihnen.

Auf einmal war der Spuk vorbei. Die Nebelwolke brach schlagartig ab. Es war so unvorhersehbar, dass mich das Licht blendete, welches mich außerhalb des Nebels empfing. Ich schaute zurück. In der Gasse hinter mir sah ich die letzten Nebelschwaden, die sich in sich selbst zurückzogen. Er verschwand erneut!

Hektisch blickte ich die Straße hoch und runter, um Lymle zu suchen, aber ich entdeckte sie nicht. War sie mit ihm verschwunden?

Ich drehte um und stürzte mich auf die Nebelreste, doch es war zu spät. Der Nebel löste sich vor mir im Nichts auf und ließ mich in der Gasse stehen.

Wo war Lymle?

Und wo war ich?

Ich musste mich erst einmal orientieren. Zu meiner Linken konnte ich den großen Platz vor der Akademie sehen. Ich war halb um ihn herum gerannt und befand mich jetzt auf der anderen Seite an der Grenze zum Regierungsviertel. In welche Richtung mochte sie gelaufen sein? War sie überhaupt gelaufen? Oder war sie vom Nebel erfasst worden? Wo hatte er Lymle hingebracht?

Ich lief geradeaus über die Straße und guckte immer wieder rechts und links in jede Seitengasse hinein, in der Hoffnung, sie noch irgendwo zu entdecken. Der Geruch der Nebelschwade war komplett verflogen. Ich fing an, sie zu rufen. Ich schrie, so laut ich nur konnte. Ihr Name hallte durch die Gassen von Maalan. Die Bürger drehten sich verwundert nach mir um, aber es war mir egal. Ich musste sie finden. Ihr durfte nichts passieren. Ich spürte eine Verbindung zwischen uns. Ich konnte sie doch nicht einfach aufgeben!

Wie kam das zustande? Ich mochte sie … wie eine Freundin ... oder eine Schwester. Glaubte ich jedenfalls. Ich hatte immer das Gefühl, dass wir zusammengehörten. Und jetzt war sie weg. Das zuzulassen ... Etwas in mir regte sich und ich wusste, dass ich niemals aufhören würde, sie zu suchen, bis ich sie fand ... Es war, als wäre mit ihr ein wichtiger Teil meiner Selbst verschwunden.

Ich suchte weiter. Eine Straße nach der anderen, von einer Seitengasse zur nächsten. Wiederholt rief ich ihren Namen. Doch ohne Erfolg. Ich befand mich mittlerweile am Übungspark der Akademie. Dieser Übungspark … Er hatte etwas Magisches an sich. Durch jahrzehntelange Magieanwendungen musste sich der Park aufgeladen und ein seltsames Eigenleben entwickelt haben. Deswegen die dicken Mauern und Wachtürme.

War sie vielleicht in seinem Innern? Ich hatte bereits in so viele Gassen geschaut, aber sie nirgends entdeckt. Sie musste sich ja irgendwo versteckt haben. Oder hin verschleppt worden sein. Der Übungspark war groß und durch seinen Wall von außen nicht einsehbar; das ideale Versteck für Mutige und Dumme. Ich beschloss, zumindest einen Blick hineinzuwerfen.

Ich lief ein paar Meter an dem Mauerwerk vorwärts, bis ich eine wenig passable Stelle gefunden hatte. Ich sah mich noch einmal zur Kontrolle um und konnte keine anderen Menschen erblicken. Wie bereits vor einigen Tagen löste ich einen Schwebezauber aus. Ich segelte hinauf in die Luft und hangelte mich an der Mauer entlang über die Mauerkrone.

Jetzt sah ich den Park zum ersten Mal. Es war ein weitläufiges Gelände, überwuchert von der Natur. Häuserruinen bildeten mit ihren Grundmauern noch hier und da Muster im Grün. Einige Stellen schienen großflächig verbrannt und die Bäume waren nach außen hin umgestürzt. Es gab ein paar Schneisen im Gras und verschiedene merkwürdige Felsformationen. Alles roch nach Zimt und Öl. An diesem Ort trafen sich nicht nur Magier zu ihren Prüfungen, sondern auch die Technomanten. Es machte den Eindruck eines Schlachtfeldes, das die Natur zurückeroberte.

Ich ließ mich langsam auf der Innenseite der Mauer nach unten gleiten. Am Boden angelangt löste ich den Zauber und suchte erst einmal Deckung. Ich hatte aus der Höhe zwar keinerlei Bewegungen ausmachen können, aber es lag Gefahr in der Luft, das konnte ich deutlich spüren.

Die Ruhe des Übungsparks war beunruhigend. Man hörte nur leise die gedämpften Geräusche der Stadt. Doch der Park schien keine zu erzeugen. Ich richtete mich auf und folgte einem kleinen Trampelpfad. War er von Menschen oder Maschinen angelegt worden? Oder sogar von wilden Tieren? Ich hatte selbst schon gehört, wie nachts unheimliche Laute aus diesem Gelände über die Nachbarschaft heulten. Ich wusste, dass ich trotz der Stille in diesem Augenblick nicht alleine war.

Ein Schrei zerriss die Luft. Ich schreckte so sehr zusammen, dass ich für einen Moment strauchelte. Was war das eben? Der Aufschrei schien nicht menschlicher Natur gewesen zu sein. Daraufhin tönte aus einer anderen Richtung ein metallisches Stöhnen durch den Park. Es kam Leben in die Umgebung. Kleine Tiere, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, flüchteten über den Pfad. Fort von dem Lärm.

Was machte ihnen so viel Angst? Ich wollte es nicht herausfinden. Lymle war sicherlich nicht hier. Es war eine dumme Idee gewesen, ins Innere hineinzuklettern.

Ich lief los. Die Geräusche waren verschwunden und ich hoffte, nicht auf die Wesen zu treffen, die den Tieren solche Furcht einflößten. Ich wusste nicht mehr, aus welcher Richtung ich gekommen war und folgte in der Eile dem nächstbesten Pfad. Dieser führte mich in geschlängelten Bahnen durch den Wald und die Ruinen. Ich konnte die verbrannten Stellen aus nächster Nähe sehen. Winzige Metallsplitter waren überall in der Umgebung in Bäume und Mauerreste gebohrt. Was für Kräfte mochten hier gewirkt haben?

Ich kam nach ein paar Minuten auf eine kleine Anhöhe, die abrupt abbrach und eine Steilwand nach unten bildete. Dort sah ich auch den Grund für die Geräusche. Die Wand schwächte den Lärm ab, weswegen ich genau in ihre Richtung gelaufen war, ohne es zu merken. Direkt am Kliffrand konnte ich sie hören.

Eine große, verrostete Maschine der Technomanten fuhr im Kreis. Ihr fehlten einige Teile, die verstreut auf dem Boden lagen. Jetzt sah ich auch die Quelle des Geheuls: Ein seltsam deformiertes Tier, welches in einem Eisenpanzer steckte, warf sich wiederholt auf die Apparatur. Sie kämpften.

Das Biest war bereits verletzt und verteilte blaues Blut auf dem Gras. Was waren das für Wesen? Ich wollte es nicht näher herausfinden. Ich sah von meiner Anhöhe das Mauerwerk. Weit musste ich nicht mehr. Ich rannte los. Solange die beiden Ungetüme miteinander rangen, war ich sicher.

Die Mauer war in den unteren Teilen tief zerfurcht, ganz so, als hätte eines der Wesen versucht, auszubrechen. Damit hielt ich mich aber nicht länger auf. Schnell zog ich meine letzte Schwebezauberkarte hervor und flog über den Wall in Sicherheit.

Mein Herz schlug noch wie verrückt, als ich schon durch die relativ sicheren Gassen lief. Das Wachpersonal hatte in den vergangenen Tagen abgenommen. Man wusste, dass es keinen Sinn machte, einen Mörder so lange zu suchen. Er war längst über alle Berge.

Meine Beine trugen mich langsam zurück in das Magierviertel. Ich war mehr als niedergeschlagen, dass ich Lymle bisher nicht gefunden hatte. Doch ich konnte nicht aufgeben. Noch immer sah ich in die Gassen und jede Querstraße hinein und rief wieder ihren Namen.

»Wo ist Lym!?«, heischte eine strenge Stimme hinter mir. Miss Scarlett war aufgetaucht. Ich drehte mich langsam um und sah sie an. Sie stand direkt vor mir, die Arme in die Seiten gestemmt.

»Wo ist Lym!?«, wiederholte sie ihre Frage.

»Sie ist weg … Sie ist in den Nebel gelaufen und dann habe ich sie verloren«, gab ich ehrlich zu.

»Nebel? Ist das der Grund, wieso ich euch beide von der Akademie abholen sollte?«, fragte sie nach.

»Ich weiß es nicht. Ja. Nein. Vielleicht. Ich habe keine Ahnung, aber er sah fast genauso aus wie der beim Testduell.«

Miss Scarlett nahm ohne zu antworten meinen Arm und zog mich durch das Magierviertel zu ihrem Haus. Ich versuchte nicht, sie anzusprechen, sie schien zu aufgebracht zu sein. Drinnen ging sie direkt mit mir in das Wohnzimmer und stellte sich vor den runden Wandspiegel. Mit einer Hand berührte sie ihn und flüsterte konzentriert ein paar Worte, die ich nicht verstand.

Unser Spiegelbild verschwamm langsam in einem Strudel in der Mitte und zeigte ein neues Bild. Es war Nacht. Eine einzelne Laterne wurde angeleuchtet und man konnte kaum Einzelheiten erkennen. Doch Miss Scarlett deutet, ohne etwas zu sagen, auf einige Stellen und nickte zufrieden.

»Wir haben wenig Zeit. Wir müssen uns beeilen, wenn wir sie rechtzeitig finden wollen«, sprach sie.

Wir liefen den gesamten Weg zurück durch das Magierviertel bis hinein in das Regierungsviertel. Die Sonne ging in der Zwischenzeit hinter dem Horizont unter und der Himmel leuchtete nur noch in einem schwachen Blaurot. Die Nacht brach an.

Wir hielten uns Richtung Handwerkerviertel, das direkt an das Viertel angrenzte. Miss Scarlett schien genau zu wissen, wo wir Lymle fanden. Wir brauchten eine Stunde bis hierher, jetzt wurde sie langsamer. Sie schaute sich einzelne Laternen an und betastete eine Mauer.

»Wir sind fast da.« Sie fasste mich erneut am Arm und zog mich um eine Häuserecke.

Plötzlich sahen wir sie. Lymle lag mit ihrem Kopf bei einem weißhaarigen Jungen auf dem Schoß. Beide saßen in einem leuchtenden Feld aus kleinen Blumen, das sich ein paar Meter um sie herum erstreckte. Waren das nicht die gleichen Pflanzen, wie ich sie bei Miss Scarlett gesehen hatte? Ich blickte sie an und wollte sie genau das fragen, doch ich sah, wie sich ihr Gesicht schmerzhaft verzog. Sie starrte krampfhaft auf Lymle. Was war passiert? War nicht alles gut, jetzt, wo wir sie gefunden hatten? Wieso machte sie den Eindruck, als habe etwas Furchtbares gerade erst begonnen?

Bei dem Gedanken ließ sie meine Hand fallen und ging auf die beiden zu. Sie kniete sich zu Lymle nieder und schloss sie in ihre Arme. Es war herzerweichend. Ich konnte hören, wie Miss Scarlett zu schluchzen begann. Ich stand nur untätig daneben und wusste nicht, was geschehen war. Warum war sie mit einem Mal so aufgelöst? Wer war der Junge? Und wo war Lymle gewesen?

Ich ging nach einer Weile zu den beiden hin. »Kommt mit, ich führe euch nach Hause. Dort wird es euch besser gehen«, sagte ich mit beruhigender Stimme.

Ich nahm Lymle auf den Rücken und sie legte mir einen Arm um den Hals. Sie war zu schwach, den Weg selbstständig zu laufen. Mit der anderen Hand griff sie nach Miss Scarlett. Es dauerte so zwar länger, aber ich konnte und wollte die beiden nicht trennen.

Als wir den Weg nach Hause einschlugen, umgab uns eine Stille, die ich nicht wagte, mit meinen Fragen zu durchbrechen, die mir bohrend auf der Zunge lagen. Ich drehte meinen Kopf ein paar Mal um und sah, wie uns der Junge folgte. Er starrte die ganze Zeit über auf Lymle. Ich ließ ihn gewähren, immerhin hatte er sie beschützt ... zumindest hoffte ich das.

Noch immer sprach keiner ein Wort. Ich spürte, dass alle Fragen auch morgen in Ruhe gestellt werden konnten. Als wir an ihrem Haus ankamen, gingen wir direkt zu Bett. Lymle wurde von mir in ihr von Lichtern erhelltes Zimmer gebracht. Der Junge wurde in einem weiteren Gästezimmer untergebracht und ich bezog mein eigenes. Es kam mir fast so vor, als wäre Miss Scarlett perfekt auf uns vorbereitet. So endete ein anstrengender Tag und ich war gespannt, was ich am nächsten Tag alles erfahren würde.

Die verbotene Prophezeiung

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