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Kapitel 10 | Lymle | Neue Kristalle

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Er war der breiten Straße Richtung Westtor gefolgt, das aus der Stadt hinausführte, und hielt mich an der Hand eng bei sich. Sie war trotz ihrer Größe dicht bedrängt und man sah von Weitem, dass sie das Stadttor bereits hatten öffnen lassen. Ich wunderte mich, als wir das Tor passierten und außerhalb der Stadtmauern auf das Westviertel zuliefen. Es war genau die andere Richtung, die es nach Hause ging und trotzdem beharrte er darauf, eine Abkürzung zu kennen. Ich fragte mich, ob er eine Orientierung besaß oder mich einfach veräppeln wollte. Obgleich mir bewusst war, dass Miss Scarlett ihn geschickt hatte. Ich konnte sie an ihm riechen. Ich wusste nicht, woran das lag. Aber ich war mir zu hundert Prozent sicher. Es war ein merkwürdiges Gefühl.

Als wir der Straße bis in das erste Drittel des Westviertels gefolgt waren, blieb ich plötzlich stehen. Er sah mich irritiert an und versuchte, mich an der Hand weiterzuziehen, doch ich wollte nicht gehen. Etwas lag in der Luft, das mich fesselte. Ich sah um mich und erkannte zwei ältere Frauen mit geblümten Haushaltskitteln, die sich zuflüsterten. Ich konzentrierte mich auf ihre Lippen, um zu verstehen, was sie sagten.

»Hast du davon etwa noch nicht gehört?«, las ich ab und Jonathan hörte aufmerksam zu. Er dachte wohl, ich spräche mit ihm. »Die Blumen im Stadtwald haben geleuchtet. Wie vor ein paar Jahren schon einmal.« Jonathan sah mich irritiert an. Ich verstand es selbst nicht genau und hatte auch keine Zeit, darüber nachzudenken, weil die zweite Frau sofort einlenkte und ich weiterlesen musste: »Das bedeutet, die Prophezeiung …« Dann schien ihr die andere über den Mund gefahren zu sein, denn ihre Lippen schwiegen. Sie sahen sich um und wandten sich daraufhin in ein Haus ab.

»Was hast du gesagt?«, sah mich Jonathan mit einem äußerst verwirrten Gesichtsausdruck an. »Was meinst du mit Prophezeiung?«

Ich konnte diesen Blick nur erwidern. Ich wusste es selbst nicht. Was meinten die Frauen für eine Prophezeiung? Und es sollte Blumen im Stadtwald geben, die leuchteten? Gab es so etwas denn?

Ich überlegte für einen Augenblick, den Wald zu besuchen. Der war aber näher am Nord- als am Westviertel gelegen. Man musste eine Menge Felder durchqueren, ehe man dort war. Und würden wir nicht bald bei Miss Scarlett auftauchen, ehe es dunkel war, gab es Ärger.

»Wir sollten zurück zu Miss Scarlett. Wieso bist du hier ins Westviertel gegangen? Deine Abkürzung ist ein Umweg«, meinte ich jetzt fordernd.

»Ich wollte dir noch unbedingt was zeigen. Heute Abend ist das Wetter perfekt dafür, komm mit!«, strahlte er mich auf einmal unglaublich herzlich an und nahm mich bei der Hand. Er folgte weiter der breiten Straße und bog an der Pfeilkreuzung in Richtung Haupttor und der großen Mauer ab. Würde die Steinmauer denn nicht das Sonnenlicht verdecken? Ehe wir auf der anderen Seite des Flusses waren, der sich hinter dem Mauerwerk befand, war die Sonne sicher bereits untergegangen.

In ihrem Schatten blieben wir schließlich stehen, etwas abseits vom Haupttor gelegen. Ich hatte immer wieder darauf geachtet, dass uns keine Stadtwachen sahen. Aber auch Jonathan schien den Weg bedacht gewählt zu haben. Wollte er etwa Kontakt mit den Wachen vermeiden? Ich erinnerte mich kurz zurück an den Abend, als ihn die Wachmänner verfolgt hatten. Was da wohl vorgefallen war, dass er geflüchtet war, wo sie doch den Mörder der Stadtratsmitglieder suchten?

Er riss mich mit einem Ruck an meiner Hand aus meinen Gedanken und zog mich hinter sich her auf einen kleinen Pfad der Mauer entlang. Jonathan sah sich nach rechts und links um. Da sah ich die ersten Stadtwachen und zupfte leicht an seinem Ärmel, um ihn darauf aufmerksam zu machen. Doch er sah nicht einmal hin, sondern zog mich direkt in eine andere Richtung. Zwischen zwei Steinwänden gedrängt schob er mich eine Treppe hinauf. Wir waren scheinbar durch eine kleine Nische in die Mauer selbst eingedrungen. Woher kannte er solche Wege?

»Ich kenne so einige Pfade in dieser Stadt«, antwortete er, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Ich habe viel Zeit auf der Straße verbracht.«

Schließlich kletterten wir aus dem Gang hinauf auf die Brüstung. Die Sonne färbte den Himmel bereits rot und hin und wieder formten Schleierwolken rosa Gebilde am Horizont.

»Wie schön«, flüsterte ich sichtlich beeindruckt und ließ mich nieder, meine Beine über die Balustrade baumelnd.

»Ist es nicht wunderschön?«, sagte er bedacht leise, um den Moment nicht durch eine zu laute Stimme zu zerstören. Er trat hinter mich und legte seine Hände leicht auf meine Schultern. Seine Handflächen waren angenehm warm und verleiteten mich dazu, langsam die Augen zu schließen und die Sonnenstrahlen einfach nur zu genießen.

Ich spürte das Ziehen an meinem Handgelenk. Die Armreife sogen das Sonnenlicht schlichtweg in sich auf und ich wusste, dass sie auch ein wenig leuchteten. Ich legte meine Hand darüber, damit er es nicht sah. Ich wollte nicht, dass er sich vor mir ekelte.

»Sag mal … was meinst du, über was für eine Prophezeiung die beiden Frauen vorhin gesprochen haben?«, fragte ich ihn schließlich, obwohl mir eine ganz andere Frage im Kopf herumschwirrte. Wieso fühlte ich, dass er wie ich war und doch so unterschiedlich? Ich wusste, dass ich dieses Thema nicht einfach aussprechen konnte. Ich musste es selbst herausfinden, lernen, dieses Gefühl zu deuten, was seine Wärme mir gab, ähnlich wie das Sonnenlicht.

»Kann es sein, dass du die beiden belauscht hast?«, meinte er neckisch. Ich wollte eben darauf antworten, als er sein Kinn auf meine Schultern legte und mich beinahe umarmte. Mir wurde sofort ein wenig mulmig und ich hatte Schwierigkeiten, ihm weiter aufmerksam zuzuhören: »Aber irgendwie habe ich etwas gefühlt. Etwas, das mich kurz an meine Eltern denken ließ … Es war so eigenartig. Fast so, als hätte man mich mit dem Wort Prophezeiung angesprochen.«

Schlagartig war das schummerige Gefühl vorbei. Was bedeutete, dass er sich angesprochen fühlte?

Ich wollte ihn danach befragen, als das Rauschen meine Gedanken benebelte und ihre Stimme sich in meinen Kopf drängte. Lym! Hol mich hier raus!

Ich schob seine Arme beiseite und stand auf. Auf der Brüstung balancierend lief ich die Mauer entlang Richtung Norden, die Augen direkt auf den Stadtwald gerichtet. Ich war wie in Trance, ich konnte nichts anderes sehen, hören oder denken außer dem Gedanken, sie da rauszuholen.

Plötzlich fand ich mich am Ende der Steinmauer wieder. Nicht wissend, wie ich hierher kam, schaute ich in die Tiefe. Es war grün. Wenn ich in die Ferne sah, sah ich dunkles Grün. Es war der Wald. Kam ihr Ruf von da?

Ich entdeckte zwei Stadtwachen. Sie trugen ockerfarbene Wappenröcke über ihrer Plattenrüstung, die nur zu den Schultern ein Stück darunter hervorlugte. Helme setzten im Normalfall nur die Wachen an den Stadttoren auf. Sie durchsuchten in diesem Augenblick die Sträucher unter mir an der Mauer. Wie ein Blitz schoss mir nur ein Gedanke durch den Kopf: Ausschalten!

Ich schwang mich in die Tiefe, ließ das Licht aus meinen Reifen kreiseln und stieß mich kurz vor dem Boden an der Mauerwand ab. Ich rammte den Wachmann, der mir am Nächsten erschien, in den Erdboden. Der Aufprall schmerzte an meinen Schultern, wo ich doch im Gegensatz zu ihrer Plattenrüstung nur normale, ungepolsterte Kleidung trug. Dennoch stand ich sofort auf und fixierte die zweite Stadtwache, die vor Schreck ihre Waffe fallen ließ. Ich spürte, wie etwas von meiner Stirn hinab über mein Auge lief. Ein seltsames Gefühl befiel meinen Körper, aber nur für einen kurzen Moment. Ich riss den Arm in die Höhe, meine Hand leuchtete auf und mit einem Schlag gegen die Schläfe des Wachmanns war dieser außer Gefecht gesetzt.

Lym! Die Stimme schien schwächer zu werden. Meine Beine setzten sich wankend in Bewegung, weiter Richtung Stadtwald. Ich musste sie finden, um jeden Preis.

Urplötzlich flatterten meine Knie und ich sank auf den Boden. Ich zog mich mit den Händen vorwärts, aber meine Augen schlossen sich wie von selbst und eine ungeheure Müdigkeit überfiel mich, gegen die ich nicht ankämpfen konnte. Ich sah noch, wie Jonathan sich zu mir hinab beugte und etwas an seinem Gürtel verstaute. Danach wurde alles schwarz.

Ich hörte dumpf Miss Scarlett schimpfen. Jonathan musste mich zurückgebracht haben. Aber wieso schimpfte sie mit ihm? War es bereits dunkel? Oh ja, wir hatten den Sonnenuntergang auf der Mauer angesehen. Es konnte nur stockdunkel sein, sobald wir nach Hause kamen. Ich bekam immer Ärger, wenn ich nicht vorher Daheim war. Miss Scarlett machte sich Sorgen wegen meiner Krankheit, davon ging ich zumindest aus.

»… und deswegen ist es meine Schuld, dass es passiert ist«, hörte ich Jonathan und öffnete verwundert die Augen. Seine Schuld? Was denn?

Ich lag zugedeckt mit dem Vorhang, an dem Miss Scarlett arbeitete, in ihrem Lieblingssessel. Sie stand mit dem Rücken mir zugewandt und schimpfe weiter auf Jonathan, obwohl er sich für alles entschuldigt hatte. Das war nicht fair.

»Miss Scarlett«, flüsterte ich mit heiserer Stimme und sie wanden sich beide mir zu, verwundert, dass ich bereits wach war. Ich spürte einen Druckverband an meinem Kopf und tastete einen Moment danach, ehe ich weitersprach: »Es tut mir leid. Ich werde morgen pünktlich zuhause sein.«

»Das will ich auch schwer hoffen!«, meinte sie und stampfte, um ihrem Zorn mehr Bedeutung zu verleihen, im Zimmer herum, bis sie mit einer kleinen Schachtel zu mir zurückkam. »Lass die Finger von deinem Verband und streck die Hand aus«, befahl sie und ich tat, wie sie sagte. Natürlich wusste ich, was jetzt kam, deswegen beobachtete ich genau, wie Jonathan reagierte, sobald er es sah. Würde er sich vor mir ekeln?

Miss Scarlett öffnete die Schatulle und entnahm ihr zwei perlengroße Kristalle. Einer war hellblau, der andere orange. Sie berührte mit dem Blauen den entsprechenden Armreif. Er leuchtete auf und verschlang ihn. Dabei umschloss eine Art Wurzel oder Zunge aus dem Reif den Kristall und sog ihn in sein Inneres, wie durch Wasser. Sie machte dasselbe mit dem Orangefarbenen.

Ich beobachtete nur Jonathans Gesichtsausdruck. Er schien nicht im Geringsten aufgebracht. Er musste schon so einiges gesehen haben, wirkte daher nur leicht verwundert. Es beruhigte mich ungemein.

»Und nun«, sprach Miss Scarlett herrisch: »Geht ihr beide schlafen. Morgen ist ein anstrengender Tag in der Akademie. Oder habt ihr etwa das Testduell vergessen?«

Oh ja, das hatte ich. Ich sah Jonathan entsetzt an. Er schien ebenfalls nicht daran gedacht zu haben. Ich befürchtete schon das Schlimmste, wenn es am nächsten Tag zum Unterricht ging.

Die verbotene Prophezeiung

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