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Kapitel 6 | Lymle | Die unbekannte Stimme

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Lym! Ich schreckte hoch. Als ich mich umsah, blickte ich in zahlreiche fragende Gesichter meiner Mitschüler und ein Paar erwartungsvolle Augen meines Professors, dass ich etwas zum Thema beitrüge.

»Entschuldigung«, sagte ich hastig und setzte mich. Ich sah gebannt auf die Zeichnung im Buch, über die wir derzeit sprachen, bis die anderen sich wieder dem Unterricht zuwandten. Danach sah ich erst auf.

Wer rief mich da eben? Das war doch keine Einbildung gewesen?

Ich blickte durch die Klasse. Niemand von ihnen schien mich gerufen zu haben, niemand sah mich an oder benahm sich anders als sonst. Seltsam. Ich schaute aus dem Fenster. Nichts wirkte verändert – auch da.

Also war es nur eine Sinnestäuschung gewesen? Nein, es konnte keine Einbildung sein. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass ich sie in meinem Kopf hörte. Und das Merkwürdige daran: Mein Geist schien sich nicht an diese Stimme zu erinnern, aber mein Herz schlug schneller, wenn ich sie hören konnte.

Als ich den Kursraum wechselte, vernahm ich auf dem Flur zur Sporthalle seltsame Gerüchte über den Mord an drei Stadtratsmitgliedern. Ich wunderte mich, dass diese Nachricht so rasch in Umlauf gekommen war. Wenn es hier jeder wusste und herumerzählte, so mussten auch die restlichen Bürger von Maalan bereits davon erfahren haben.

»Ja, der Mörder soll ins Handwerkerviertel geflohen sein. Die Stadtwachen hat er da angegriffen, angeblich war es ein magischer Angriff!«, hörte ich ein Mädchen erzählen.

»Ein magischer Angriff? Woher weißt du das so genau?«

»Mein Vater arbeitet bei der Wache«, bestätigte sie meine Vermutung. »Aber dieser Zauber … Er soll so gewaltig gewesen sein. Die Stadtwache fürchtet sich richtig. Es gibt kaum mächtige Magier in der Stadt. Niemand weiß, wer das vollbringen könnte. Er muss erst seit Kurzem in Maalan sein. Deswegen wurde alles abgeriegelt, um ihn nicht entkommen zu lassen.«

»Du meinst, der Mörder ist noch HIER!?«, kreischte ihre Freundin entsetzt.

»Doch nicht so laut!«

Ich ging weiter, damit sie nicht erfuhren, dass ich mitgehört hatte. Der Täter war also innerhalb der Stadtmauern eingeschlossen, um ihn systematisch aus seinem Versteck zu locken. Ich biss mir nachdenklich auf die Lippen. Es erschwerte einiges für mich, wenn sie eine Ein- und Ausgangssperre verhängten.

Ich betrat die Umkleide und zog meine engen Schuhe langsam aus. Ich ließ sie mir speziell anfertigen. Ich hatte das starke Bedürfnis, den Boden unter mir zu spüren, sonst fühlte ich mich nicht frei genug. Ich wollte ebenso wenig Schuhe mit dicker Sohle, noch welche, die nicht eng am Fuß saßen, tragen. Es musste alles passen, damit ich mich so bewegen konnte, wie ich es wollte.

Die anderen Mädchen dieses Kurses betraten die Umkleide und redeten wie die Marktfrauen über den Vorfall mit den Stadtratsmitgliedern. Sie verdrehten schon teils Tatsachen mit Spekulationen. Aber eins war sicher: Sie schienen große Angst vor dem Mörder zu haben – und es lag nicht allein an seinen magischen Fähigkeiten.

Moment! Ich war doch dabei gewesen, als die Stadtwachen mit diesem gewaltigen Zauber weggefegt worden waren. Und ich hatte den Täter gesehen. Aber … er sah aus wie der Junge aus einem meiner Kurse. Ich war mir sicher, dass er es gewesen war, den ich gestern Abend beobachtet hatte. Sollte er etwa der Mörder dieser Stadtratsmitglieder sein?

Unerwartet stürmte das Mädchen, das im Klassenraum neben ihm saß, in die Umkleide. Sie war scheinbar spät dran. Ich sah noch, bevor die Tür hinter ihr zufiel, dass er und der Junge mit dem braunen Haarschopf in der Herrenumkleide verschwanden.

Ich stand auf, um ihr Platz zu machen, als sie sich umsah. Sie lächelte erleichtert und ein wenig außer Atem. Anschließend platzierte sie ihre Tasche neben meiner und kramte nach ihren Turnschuhen. Ihre schwarzen Haare hatte sie zu zwei dünnen Zöpfen geflochten und ihren überdimensional großen Hexenhut, den sie scheinbar als einzige Schülerin nicht nur an Festtagen trug, hängte sie an die Garderobe.

»Los, los, los!«, sprang die Tür zur Halle auf und unser Professor kam herein. Einige Mädchen kreischten. Unverständlich für mich, wo wir doch nur unsere Schuhe tauschten. Ich dagegen lief barfuß in die Sporthalle.

Ich konnte das blank geputzte Parkett genau spüren. Jeden kleinen Riss, jeden einzelnen Kratzer. Ich spürte sie und nahm durch die Berührung mit dem Boden die Umrisse der Halle wahr. Ich schloss langsam meine Augen und streckte meine Sinne aus, stellte mir in meinem Kopf die Turnhalle vor. Ich sah die Ringe an Seilen von der Decke hängen, die aufgestellten Barren und ausgebreiteten Matten. Ein Hindernisparcours?

Ich öffnete die Augen, als ich die Jungs bemerkte, die albern wie kleine Hunde in die Halle rannten. Ich wandte mich ihnen herausfordernd zu. Die Mädchen hatten keine Chance in Sachen Schnelligkeit und Wendigkeit, aber bei den Männern war das eine echte Herausforderung – hoffte ich zumindest.

»Lymle!«, hörte ich plötzlich meinen Professor rufen und ging zu ihm. Er griff nach meiner Hand und wies auf die beiden Armreife, die ich um das rechte Handgelenk trug – der eine orange, der andere hellblau. »Die musst du beim Sport ausziehen.«

»Das geht nicht«, erwiderte ich nur und wollte gehen, doch so einfach machte er es mir nicht.

»Es ist Vorschrift: kein Schmuck im Sportunterricht. Leg bitte die Armreife ab!« Seine Stimme wurde bereits deutlich wütender. Ich sah ihn nur offen an und reichte ihm mein Handgelenk.

»Wenn Sie die abbekommen, können Sie es gern versuchen. Aber bitte ... tun Sie mir nicht weh«, sagte ich überzogen mädchenhaft. Der Professor sah mich mit seinen kleinen Maulwurfsaugen nur verwundert an, anschließend auf die Armreife und wollte sie von meinem Arm abziehen. Erschrocken bemerkte er jedoch, dass sie keinesfalls locker um mein Handgelenk fielen. Aus den Armreifen liefen dünne Streben aus Metall, die mit meinem Arm verwachsen waren. Sie ließen sich nicht bewegen. Nicht ohne Gewalt.

»Was … ist das?«, hörte ich ihn leise seine Gedanken formulieren. An seinem Gesichtsausdruck erkannte ich, dass er nicht wusste, was er tun solle. Seine Augen verkleinerten sich noch mehr und sein rundliches Gesicht legte sich in Falten, als er mit der Hand nachdenklich den Schweiß von der Stirn wischte.

»Ich kann sehr gut mit ihnen trainieren. Bitte lassen Sie mich am Unterricht teilnehmen«, bat ich erneut mit einem äußerst mädchenhaften Blick. Manchmal musste man seine Weiblichkeit einfach ausnutzen. Er nickte hastig und wandte sich von mir ab. Ekelte er sich vor mir?

Ich sah mich um. Sie schienen zu beschäftigt mit ihren Spekulationen über den möglichen Mörder, als dass sie davon etwas mitbekommen hätten. Mir war es nur recht.

Ich legte kurz meine Hand auf die Armreifen und streichelte sie. Ich meinte, ein flüchtiges Aufleuchten zu erkennen, doch es verschwand zu schnell, als dass man es von weiter weg hätte sehen können.

Ich fühlte mich plötzlich bedrückt und eingeengt. Die Sonne war heute nicht oft sichtbar. Ihre Strahlen kamen kaum durch die Wolkendecke. An solchen Tagen schwächelte ich allgemein.

Nach vier anstrengenden Sportstunden mit Hindernisparcours, Aerobic und Langstreckenläufen war die zweite Pause. Viele Schüler holten sich in dieser Zeit etwas zu essen in der Kantine der Akademie. Ich dagegen wollte einfach nur in den Park. Es schien zwar keine Sonne, aber die Blumen blühten und ein leichter Duft lag hier in der Luft. Er wirkte beruhigend und angenehm gegen die drohenden Kopfschmerzen, die sich in mir ausbreiteten.

Lym! Ich schreckte hoch. An einen Baum gelehnt sah ich in die Baumkrone hinauf. Der Wind wehte durch die Blätter und ein leises Rascheln war zu hören. Ich musste eingenickt sein.

»Jetzt erzähl schon. Warum bist du heute zu spät gekommen?«, vernahm ich eine Stimme hinter mir am Baumstamm. Ich wagte nicht, mich zu bewegen, sonst würden sie mich bemerken. Ich erkannte die Sprechweise als die von Cloe. Ich hatte ihren Namen im letzten Unterricht aufgeschnappt.

»Ihr wisst doch«, hörte ich ein Flüstern, das ich nicht zuordnen konnte, »… in die Häuser der Reichen einsteige …« Es war einfach so leise, dass ich nur Bruchstücke verstand.

»… jedenfalls«, vernahm ich Cloe, die was lauter sprach als die übrigen beiden Stimmen, »war gestern wegen dir … die gesamte Wache in Aufruhr.«

Wegen ihm? Saß sie etwa mit dem seltsamen Jungen und noch jemandem zusammen an der anderen Seite des Baumes und unterhielten sich über den Vorfall? Den Mord? Wie konnte es sein, dass sie nicht gesehen hatten, dass ich hier war? So unvorsichtig hatte ich sie gar nicht eingeschätzt.

»… Heute Morgen waren die Tore zu … jetzt komme ich nur nicht mehr hinaus …«, hörte ich seine Stimme. Ich war mir nicht sicher, ob es der seltsame Junge war, dessen Namen ich immer noch nicht erfahren hatte. »Ich mach euch ja keine Vorwürfe. Irgendwie werde ich das schon schaffen, wäre doch gelacht.«

Die Glocke läutete zur nächsten Unterrichtseinheit und die Drei verließen den Platz. Ich wusste nicht, was ich da mit angehört hatte, aber es wirkte fast so, als hätte der seltsame Junge etwas mit dem Mord an den Stadtratsmitgliedern zu tun.

Ein leichtes Schwindelgefühl befiel mich, als ich aufstand. Ich hielt mich eine Weile an der Rinde des kräftigen Baumes fest, ehe ich den Gebäudeeingang anpeilte.

»Seid ihr denn … schon wieder leer?«, keuchte ich und sah auf die Armreifen. Sie leuchteten nicht. Ich spürte, wie mein Körper nach Energie zehrte, die ich ihm nicht liefern konnte. Meine Beine schlackerten und ich sank zu Boden. Das eine nach links und das andere rechts abgewinkelt saß ich da und war kaum in der Lage, mich zu bewegen. Warum passierte mir das immer?

Lym! Ich sah auf. Niemand war in meiner Nähe. Aber ich hatte ihre Stimme doch wahrlich gehört. Lym! Bitte hol mich hier raus. Hol mich hier raus!

Ich stand wackelig auf und sah mich um. Ich wusste nicht, wo oder wer sie war. Jedenfalls brauchte sie meine Hilfe. Ich musste sie finden.

In dem Moment hörte ich ein knatterndes Geräusch. Als ich mich umwand, sah ich eine von Miss Scarletts Spinnenmarionetten vor mir. Das weiße Puppengesicht öffnete langsam den roten Mund und eine metallene Stimme sagte: »Du sollst nach Hause kommen. Miss Scarlett will nicht, dass du rumläufst, wenn du so kraftlos bist.«

»Jaja«, meinte ich nur, damit sie verschwand, und ging danach zurück in den Unterricht. Ich kam zu spät, entschuldigte mich und lief unter Beobachtung des gesamten Kurses auf meinen Sitzplatz – bemüht, nicht aufzufallen. An meinem Platz angekommen sah ich hinaus. Etwas schmerzte in meiner Brust. Heute würde die Sonne wohl nicht mehr scheinen. Miss Scarlett hatte Recht. Ich durfte keine Umwege machen, sonst schaffte ich es nicht bis zu ihr. Der Sportunterricht hatte sehr an meinen Kräften gezehrt. Ich musste mich ausruhen.

Der Unterricht war fast beendet und ich hatte bereits meine Sachen gepackt, um schleunigst nach Hause zu gehen, als ich erschrocken Stadtwachen an den Fenstern des gegenüberliegenden Gebäudes entlang schreiten sah. Ich schaute in die anderen Klassenräume daneben. Sie durchsuchten die Akademie! Mein Blick wanderte panisch durch den Kurs. Niemand schien es bisher bemerkt zu haben. Ich musste hier raus!

Plötzlich klopfte es energisch an der Tür zum Kursraum. Ich sah an dem Schatten, den man hinter der gewellten Glastür erkannte, dass es nur eine Stadtwache sein konnte – keiner trug eine Rüstung außer ihnen. Unser Kursprofessor wandte sich der Tür zu und machte Anstalten, sie zu öffnen.

Ich riss augenblicklich das Glasfenster los und schwang mich auf die Fensterbank. Runter war eine ganz schlechte Idee, schließlich befand sich der Kursraum im fünften Stock der Akademie. Blieb nur noch rauf. Mit einem Satz sprang ich hoch und krallte mich an etwas, das aus der Bedachung ragte. Ich hangelte mich mit letzter Kraft daran empor und stolperte unbeholfen auf das Dach.

Ich hörte die verwunderten Stimmen, wo ich plötzlich hin sei und das Poltern der Rüstungen. Die Stadtwache schien zum Fenster zu rennen.

Ich lief das Gebäudedach entlang und suchte von oben eine Möglichkeit, zu entkommen. Aber es wirkte aussichtslos. Sie durften mich nicht finden. Hätte ich doch nur auf Miss Scarlett gehört und wäre nach der Pause Heim gegangen.

Es polterte an der Tür zum Dachgeschoss. Sie war verschlossen, da es die Regeln untersagten, das Dach zu betreten und trotzdem hatte ich das bedrückende Gefühl, dass das Schloss dem nicht lange standhielt.

Die Gebäude waren allesamt zu weit entfernt oder deren Dächer so tief gelegen, dass ich mir bei einem Sprung trotz Abrollen alle Knochen brechen würde. Fliegen konnte ich nicht.

Ich sah gefasst zur Tür. Ich musste mich dem Kampf offenbar stellen.

Die verbotene Prophezeiung

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