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Prolog | Scarlett | Die Prophezeiung des Weisen

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Einmal im Jahr, wenn der Mond und die Venus in einer Linie zur Erde stehen und der Himmel frei von Wolken das Antlitz der beiden Liebenden zeigt, findet das Fest unseres Volkes statt. Wir versammeln uns auf dem Platz des Mondlichts, dem einzigen Punkt in der Stadt, auf den das Mondlicht unverändert und ohne Schatten strahlen kann.

»Scarlett! Wir kommen noch zu spät.« Mutter stand in ihrer dunklen Festrobe in der Tür und reichte mir die Hand. In ihrem schwarzen Haar, das sie zu einem Bauernzopf geflochten hatte, funkelten kleine Perlen. »Du siehst hübsch aus. Lass uns gehen.«

Vater war wie jedes Jahr mit den Ältesten einer der Ersten auf dem Platz des Mondlichts und bereitete das Fest vor. Die Spiele und Prüfungen, die Musik und den Tanz, all das, was uns Freude machte an einem Tag wie diesem hier.

Doch heute spürte ich etwas Ungewöhnliches in der Luft. Ich konnte es nicht genauer beschreiben. Es war ein flaues Gefühl, dass irgendetwas in den Schatten vor sich ging. Und so verließ ich nicht einen Moment den Rockzipfel von Mutter, ehe wir nicht den Platz des Mondlichts erreichten.

Sie begrüßte freudig die anderen Hexen, umarmte und küsste Vater und schickte mich zu den Junghexen zum Tanz. Es war der Tanz, der das Fest einläutete.

Inmitten des Festplatzes stand der Altar des Lichts - ein antiker Opfertisch aus Kalkstein mit verschnörkelten Symbolen darauf. Einst wurde dort der mächtigste Weise unseres Volkes aus der Stadt verbannt. Die Gründe wurden nicht an uns Junghexen weitergetragen. Es war nur ein Gerücht, aber er soll von einer bösen Prophezeiung gesprochen haben. Ich fragte mich jedes Jahr aufs Neue, wenn ich hierher kam, was aus ihm und der Prophezeiung geworden war. Ob sie bereits in Erfüllung gegangen war? Und wie lautete sie?

»Scarlett!«, riefen sie mich schon und ich reihte mich in die Tanzreihe rund um den Altar des Lichts ein. Wir umtanzten die im Kreis aufgestellten Säulen, ließen Feuerzauber den Nachthimmel erhellen und besangen in unseren Liedern die Ahnen. Ich konnte nicht gut mit dem Element Feuer zaubern, diese Gebilde und Figuren, lebendige Tiere und Zeichen. Meine Gabe war eine andere als die Elementarzauberei. Ich widmete mich also völlig dem Gesang, in Gedanken an den armen Weisen, der vertrieben worden war.

Als die Glocken der Rosalie erklangen, sollte der Paartanz vorgeführt werden. Es war ein Tanz, bei dem die Junghexen und Jungmagier gemeinsam tanzten. Man kannte sich leider nicht gut, weil sie die Klassen getrennt führten.

»Sei meine Tanzpartnerin!«, rief ein Junge von der anderen Seite des Platzes zu mir herüber. Ich hatte ihn ein paar Mal in der Akademie beobachtet. Er konnte sämtliche Elemente nach Belieben beherrschen. Sein Name war Samuel Blue und ich bewunderte ihn. Seine blauen Augen wirkten äußerst anziehend unter seinem dunklen Haarschopf und er zeigte stets ein nettes Lächeln. Wieso wollte er ausgerechnet mit mir tanzen?

Ich nickte und wir nahmen die Haltung zum Paartanz an. Alle Junghexen trugen die dunkelblau schimmernde, mit schwarzen Rüschen besetzte Festrobe der Akademie. Die der Jungmagier dagegen schimmerte silbern im Mondlicht. Eine weiße Rose zierte ihr Revers.

Es musste schön anzusehen sein, wie wir dort gemeinsam tanzten. Mir war eher schwindelig von den Drehungen. Samuel war so in den Tanz vertieft, dass er das gar nicht mitbekam und schneller und schneller wurde, völlig aus dem Takt geriet. Plötzlich brach das flaue Gefühl von eben wieder aus. Mir wurde für einen kurzen Moment schwarz vor Augen und ich stolperte über etwas, sodass ich hinfiel.

»Scarlett!? Alles in … Aaaahhh!« Ich hörte nicht nur seinen Schrei. Viele fingen an zu schreien, und als ich aufsah, hockte ich am Boden, Samuel lief davon und überall zog Nebel auf, der immer dichter wurde. Wolken drängten sich vor das Mondlicht und ein silbernes Leuchten erhellte den Platz. Währenddessen erhoben sich dunkle Gestalten aus den Nebelschwaden und gaben so helle Schreie von sich, dass man fast innerlich zersprang vor Schmerz. Was war hier los?

»Scarlett!«, hörte ich Mutter schreien. Sie suchte bereits nach mir, doch ich wollte nicht wieder gut behütet weggeschlossen werden und nichts von all dem mitbekommen, was hier vor sich ging. Ich spürte genau, dass etwas in der Luft lag. Also bemerkten sie es erst recht. Bestimmt wollten sie irgendetwas vor uns Junghexen und Jungmagiern geheim halten. Ich dachte gar nicht daran, länger im Dunkeln zu tappen. Ich musste wissen, was dort passierte.

Ich rannte zum Altar, unbemerkt von den dunklen Kreaturen, die bereits Magier und Hexen bekämpften, und erblickte zu spät den in Bandagen gewickelten, alten Mann mit langem silbernem Haar. Da befand ich mich auch schon direkt vor ihm und sah zu ihm hinauf. Er stand gekrümmt auf dem Altar des Lichts und hob seine Hände und einen Stab gen Himmel. Bisher schien ihn in der allgemeinen Panik niemand zu bemerken. Hatte er etwa diesen Nebel und die dunklen Kreaturen gerufen? Die Schreie wurden immer lauter und ich hörte, ohne hinzusehen, dass es bereits Verletzte geben musste. Dennoch schaffte ich es nicht, meine Augen von ihm zu lösen. Er war einfach anziehend, wie er da stand und leuchtete. Wie die Lichtblume selbst. Auf einmal fiel sein Blick auf mich und ich stellte entsetzt fest, dass man ihm die Augenhöhlen ausgebrannt hatte. Wer war nur fähig, so etwas Schreckliches zu tun!? Und das einem alten Mann!? Er konnte mich nicht sehen und doch sah er irgendwie durch mich hindurch!

Ich war wie gebannt vor Angst, als er seine Hand nach mir ausstreckte und leicht meine Stirn mit seinen beiden Fingern berührte. Sie zitterten kraftlos und ich bemerkte, wie ein Symbol in seinen Augen zu leuchten begann. Sofort wurden meine Ohren taub und ich nahm meine Umgebung und die Schreie nur noch dumpf wahr, als wären sie in weite Ferne gerückt.

Ich konnte seine Worte genau hören, in meinem Kopf, ohne dass er etwas sagte.

Wenn der Mond die Sonne verdrängt

und der Nebel Gestalt annimmt

wenn die Kraft der Erde bricht

und der Himmel aus den Wolken fällt

verschlingt die Dunkelheit das Licht,

auf das sich Zauberkarte und Lichtblume finden.

Verwundert sah ich ihn an. Was bedeuteten diese Worte, die er nicht sprach, sondern direkt in meinen Kopf pflanzte? Wer war dieser alte Mann und wieso war er hier wie aus dem Nichts aufgetaucht?

»Scarlett!« Mutter riss mich von ihm weg, ehe ich ihm all meine Fragen stellen konnte. Ich sah entsetzt, dass ihn die Ältesten umzingelten – die dunklen Kreaturen mussten alle ausgelöscht worden sein – und ihm drohend ihre bloße Hand entgegenstreckten. Sie formten Zeichen in der Luft. Ich schrie, sie sollen ihn nicht bestrafen, er habe doch niemandem etwas getan, aber sie hörten mich nicht einmal an. Lichtblitze schossen aus ihren Fingerspitzen in seinen Körper. Der alte Mann streckte noch ein letztes Mal vergeblich seinen Arm nach mir aus. Seine Worte wanderten unhörbar in meinen Kopf, ehe er vor meinen Augen verschwand.

Ich zitterte am ganzen Leib. Sie hatten ihn getötet. Warum!? Dabei hatte er mir doch nur etwas gesagt, oder nicht? Ich begriff seine Worte nicht einmal. Sie hallten zwar in meinem Kopf wider und festigten sich mehr und mehr, aber ich konnte sie nicht verstehen. Der Mond und die Sonne, Nebel in Gestalt, die Erde und der Himmel, die Dunkelheit und das Licht, ich verstand nichts von diesen Dingen, von deren Zusammenhang. Was hatte es mit seinen Worten auf sich? Eine Zauberkarte und eine Lichtblume? Zauberkarten waren eine alte Macht, Magie zu benutzen. Sie kam kaum noch vor, aber ich hatte davon gehört. Und die Lichtblumen blühten in der Nacht außerhalb der Stadt auf den Feldern, oder etwa nicht? Sie waren gleichermaßen selten, allerdings sah man sie hin und wieder. Was sollte daran so besonders sein? Wieso töteten sie einen alten Mann, der Dinge sagte, in unsere Köpfe pflanzte, die man nicht verstehen konnte? Moment … Hatten die anderen seine Worte auch gehört?

»Scarlett!«, rüttelte Mutter erschrocken an mir, bis ich sie ansah und erkannte. »Was hat er zu dir gesagt!?«

»Nichts.« Ich log nicht, schließlich hatte er wirklich nichts gesagt. Ich verstand ihn auch ohne hörbare Worte. Wie das allerdings möglich war, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

»Bist du dir ganz sicher, dass sie nichts weiß?«, fragte ein Ältester Mutter streng. Er sah aus wie ein Geist mit seinen langen weißen Haaren, die er offen über die Schultern fallen ließ. Sie nickte nur, nachdem sie mich erneut gefragt und ich wiederholt hatte, dass er mir nichts gesagt habe. Ich bemerkte den ernsten Blick des Ältesten, den er mir zuwarf, ehe er sich den anderen zuwandte: »Befragt alle Kinder, Junghexen und Jungmagier. Wenn einer von ihnen die Prophezeiung vernommen hat, so löscht sein Gedächtnis.«

Ich erschrak. Die Prophezeiung? Sollten diese Worte etwa die von allen gefürchtete Prophezeiung sein? Das hieße ja, dass dieser alte Mann der verbannte Weise gewesen sein musste! Aber wie war er zurück in die Stadt gekommen? Und wieso verboten sie, dass wir die Prophezeiung erfuhren? War eine Prophezeiung nicht etwas, das wahr wurde? Auch wenn sie schlecht oder böse sein sollte, so musste man sie doch kennen, um etwas gegen sie unternehmen zu können, oder nicht? Warum löschten sie unsere Gedächtnisse, dass wir es einfach vergaßen?

»Scarlett, und du weißt wirklich nichts?«

»Er hat mir nichts gesagt, Mutter.«

»Da bin ich aber beruhigt. Lass uns gehen. Dein Vater wird heute spät nach Hause kommen«, sagte sie und nahm mich bei der Hand. Ein Blick zurück zeigte angsterfüllte Gesichter, einen Rest Nebel und weinende Kinder, die von den Ältesten befragt wurden. Hatte wirklich niemand außer mir den Worten des Weisen gelauscht?

Ich musste mich unwissend stellen. Es war meine einzige Chance, mein Wissen zu behalten. Ich wusste zwar noch nicht, was ich damit anfing, aber ich würde es schon verstehen, sobald ich alt und frei genug dafür war. Ich fände heraus, was es mit dieser Prophezeiung auf sich hatte. Und vielleicht konnte ich sie sogar miterleben.

Die verbotene Prophezeiung

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