Читать книгу Das Zeichen der Erzkönigin - Serena J. Harper - Страница 10

Varcas
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Als der ehemalige Großmeister der Seher an diesem Abend vor der mit Wasser gefüllten Silberschale in seinem Schlafzimmer Platz nahm, um seinen Geist auf die Nacht vorzubereiten, fühlte er zum ersten Mal das Gewicht der Jahre.

Schlimmer noch: Varcas Debray fühlte sich alt. Die Tatsache, dass er für einen Albenlord noch weit von dem Höchstmaß dessen, was er an Lebenszeit ausschöpfen konnte, entfernt war, machte das nicht besser. Er wusste nicht, was genau es war, das ihm dieses Gefühl vermittelte. Es war nicht die alte Narbe in seinem Schulterblatt, die bisweilen kurz vor einem Wetterumschwung zog, als sei sie noch eine frische Wunde wie vor eintausenddreihundert Jahren. Es war auch nicht die Lustlosigkeit, die ihn manchmal befiel, wenn er keine neuen Bücher hatte auftreiben können und sich mit Lektüre begnügen musste, die er schon ein Dutzend Mal gelesen hatte. Sein Gedächtnis war nach wie vor hervorragend, sodass er sich nicht einmal einreden konnte, sonderlich viel Neues bei wiederholten Lesedurchgängen zu finden.

Nein, an diesem Abend kurz vor Wintereinbruch war es etwas völlig anderes.

Varcas hatte immer geglaubt, sollte er sich jemals alt fühlen, käme dieser Eindruck zusammen mit einer weisen Gelassenheit, die ihm erlauben würde, die Fehler seiner Vergangenheit endlich hinter sich zu lassen. Er hatte sich darum bereits mehrfach bemüht. Niemand konnte behaupten, er hätte nicht alles getan, um zu signalisieren, dass die Streitigkeiten Norfaegas – besonders die Shaylas – nicht mehr die seinen waren. Aber während er das Wasser mit einem langen, dunklen Fingernagel in Schwingungen versetzte, war es das komplette Gegenteil von Ruhe, das ihn erreichte. Nein, es handelte sich viel eher um eine schwache Ahnung einer bevorstehenden Irritation. Eine Gefahr wollte er es nicht nennen. Ehemalig oder nicht: Einst war er der Großmeister gewesen, und die graue Rún, die Cathards Auge zeigte, leuchtete stark wie eh und je.

Es gab nicht viele, die ihm gefährlich werden konnten.

Varcas stoppte die Bewegung seines Fingers und öffnete die Augen, tief auf den Grund der Schale starrend.

Normalerweise war dies eine simple Übung, um das geistige Auge eines Sehers für die Nacht zu schließen. Während die jungen Seher noch jede Vision, jeden fieberhaften Traum, der ihnen bruchstückhafte Wahrheiten zeigte, herbeisehnten, war für Varcas die unkontrollierte Überflutung von prophetischen Bildern seit langer Zeit schon eine Lästigkeit, der er mit dieser Übung gut entgehen konnte.

Heute wollte die Übung aber nicht gelingen. Varcas’ Stirn kräuselte sich, es der Wasseroberfläche gleichtuend, die einfach nicht zum Stillstand kam. Etwas brachte das Wasser aus dem Gleichgewicht.

Mit einem Seufzen lehnte Varcas sich zurück. Er trug bereits seine Nachtkleidung und darüber seinen Morgenmantel. Sein Blick wanderte zu dem kleinen Fenster. Der erste Schnee stand unmittelbar bevor, aber diese Nacht war klar und kalt. Ein greller silberner Streif durchbrach das satte Schwarz. Die Tage waren momentan kurz, sodass die Sonne sich kaum einmal blicken ließ. Er fröstelte, obwohl das Feuer im Kamin noch immer leicht glomm.

Langsam lenkte er seine Aufmerksamkeit zurück auf die Wasserschale. Zähneknirschend stellte er fest, dass die Wasseroberfläche immer noch Wellen schlug. Er konnte es weggießen und einfach unter die Bettdecke kriechen. Varcas griff schon nach dem Behältnis, hielt aber doch inne. Als junger Seher hätte er um eine solch aufdringliche Vision gebettelt.

Ergeben beugte Varcas sich vor, legte die Handflächen neben die Schüssel auf den Tisch und tauchte mit seinem Geist tief in den glitzernden Nebel der Flüssigkeit hinab. Er öffnete sein inneres Auge. Sein geübter Sinn glitt langsam in das Bild hinein, bedächtig, damit ihm nichts entging. Doch als das erste Bild auftauchte, machte sich Enttäuschung in ihm breit. Eine Erinnerung, stellte er fest. Seine. Wohlbekannt, obwohl schon so lange verdrängt. Es war im Thronsaal des Kristallpalasts, vor vielen, vielen Jahren, als er noch ein junger Mann gewesen war. Er sah sich selbst die Stufen des Thronsaals hinaufschreiten. Der Umhang des Druiden aus samtgefütterter Seide wog schwer und behaglich auf seinen Schultern.

Im nächsten Augenblick wurde er gewahr, dass er eine lange, breite Spur von Blut hinter sich herzog. Das Bild veränderte sich und Varcas atmete auf. Es würde eine dreiteilige Vision werden, das stand hiermit fest – drei Bilder würde es geben, angefangen in der Vergangenheit. Nun würde sein Geist durch ein Fenster der Gegenwart blicken können, und das, was dahinter lag, hatte auf irgendeine Weise in der Regel eine Verbindung zu dem, was auf der Ebene des Vergangenen geschehen war. Zuerst fiel es Varcas schwer, sich zu orientieren. Die Sicht wurde ihm von einem dichten Nebel versperrt – nein, falsch, es war kein Nebel, es war Rauch. Seine anderen Sinne schlossen die Lücke und er konnte verbrennendes Holz riechen. Varcas zwang sein inneres Auge, sich weiter zu öffnen. Das Feuer verschlang die Grundfesten eines Anwesens, der Bauart nach stand es hier in Shayla. Schwarzer Rauch stieg in großen Säulen in den Himmel. Aus der Dunkelheit löste sich eine Männergestalt, die etwas auf den Armen trug.

Ein weiteres Mal zwang Varcas sich dazu, sich zu konzentrieren, doch wurde das Bild nicht klarer. Varcas musste ein leises Fluchen unterdrücken. Die Vision war schlüpfrig und schwer zu fassen. Oder vielleicht war er auch doch ein wenig aus der Übung gekommen.

Es fühlte sich an, als würde das klarere Bild am Rand seines Sichtfeldes entstehen, doch wenn er sich zur Seite wandte, entschwand es, als wäre es nie da gewesen. Weil die Sehkraft versagte, zapfte Varcas die anderen Kanäle seines Bewusstseins an. Hören. Donnernde Hufe. Leiser Wind. Riechen. Kiefernholz in der Nacht. Ein Wald. Und darunter eine deutliche Empfindung, deren Herkunft er nicht bestimmen konnte: Er musste finden, was der fremde Alb auf den Armen trug. Es war eine so deutlich ausgesprochene Aufgabe, dass allein der Gedanke, dem Ruf nicht zu folgen, Varcas für einen Moment schaudern ließ.

Die Vision entzog sich ihm, doch ein Bild stand ihm noch bevor. Varcas öffnete seinen Geist, so weit es nur ging, um in die Zukunft zu blicken. Es verschlug Varcas fast den Atem, als er ein weiteres Mal die Wärme und das tröstliche Gewicht des Druidenumhangs an seinem Rücken spürte. Weiße Hände schlossen die Metallschließe an seinem Hals. In der Höhe seines Herzens baumelte in Bronze gefasst das Zeichen seiner Zunft, seine Rún, Cathards Auge. In seiner Vision sank er auf die Knie. Er fühlte sich stark. Nicht jünger als heute, aber erfüllt von der Hoffnung auf die Zukunft – ein Gefühl, das er seit undenkbar langer Zeit nicht mehr empfunden hatte.

Die Vision ließ ihn los. Varcas glitt in seinem Stuhl nach hinten, den Kopf weit in den Nacken legend. Er brauchte mehrere Sekunden, bis er wieder zu Atem kam. Die letzte Emotion, die die Vision hinterlassen hatte, klang in ihm immer noch nach. Die Hoffnung war so deutlich spürbar gewesen. Und noch mehr: Ein Stolz, den er bis in die letzte Faser seines Körpers vordringen fühlen konnte. Und auf irgendeine Weise musste dieses Erlebnis – wieder den Umhang des Druiden zu tragen – mit dem Gegenstand zusammenhängen, den der Alb aus dem brennenden Haus gebracht hatte.

Es gab nur zwei Dinge, nach denen er seinen Geist vor vielen Jahren hatte suchen lassen. Nur zwei, nach denen sein Auge immer Ausschau gehalten hatte. Konnte diese Vision, so verspätet, so unerwartet, die Antwort auf seine lange, damals so vergebliche Suche sein?

Er konnte nicht mehr still sitzen. Varcas schob seinen Stuhl zurück, überfordert von dem Tatendrang in seinen Venen, der noch ohne Zielrichtung war. Er musste jetzt schnell und überlegt handeln, solange die Bilder noch frisch waren. Varcas strich sich über den mit Silber durchwirkten dunklen Bart. Es gab keinen Zweifel: Handeln musste er. Vielleicht war dies die eine Chance, für die zu beten er sich selbst schon lange nicht mehr zugestanden hatte. Nicht nachdem …

Entschieden öffnete Varcas die oberste Schublade seines Schreibtisches. Auf Samt gebettet befanden sich darin immer noch die Utensilien, die er früher regelmäßig gebraucht hatte. Das kleine Sehermesser mit hölzernem Griff war das erste gewesen, das er je erhalten hatte, und das letzte, das bis heute in seinem Besitz hatte verweilen dürfen. Varcas öffnete mit einem kurzen Schnitt seine linke Handfläche, bis ein feines Rinnsal von Blut den Weg über die Handkante hinein in die Schüssel fand. Es hätte andere Wege gegeben, aber keine schnelleren. Er ließ das Blut laufen, bis das Wasser erkennbar gefärbt war. Routinierter, als er es von sich selbst erwartet hatte, verband er den Schnitt und säuberte das Messer, bevor er seine Schreibfeder nahm. Er tauchte sie behutsam in das trübe Wasser und entrollte nebenbei die Karte von Norfaega. Sie war vermutlich nicht mehr aktuell, stammte sie doch aus einem anderen Jahrtausend. Aber die elf Höfe Shaylas würden sich noch immer an der gleichen Stelle befinden. Er fand den Ort, an dem er selbst seit geraumer Zeit lebte: ein kleines Haus am Rande einer Erdalbensiedlung im Norden Shaylas, die zu klein war, als dass sie auf der Karte verzeichnet wäre, also musste er ein wenig schätzen. Es war nicht sein Zuhause. Derer hatte er im Laufe seines Lebens mehrere besessen, aber keines war ihm geblieben. Varcas berührte mit dem Federkiel die Karte an der Stelle, an der er sich selbst vermutete, und ließ die Mahr auf den wässrigen Bluttropfen übergehen. Er rief sich das zweite Bild seiner Vision so intensiv vor Augen, dass seine Rún zu brennen begann. Gebannt verfolgte Varcas, wie der rötlich-braune Tropfen sich ausdehnte, und eine Spur auf dem Papier zu ziehen begann. Nach Süden, durch Shayla hindurch. Die Spur kreuzte den Kristallpalast. Varcas fühlte Dankbarkeit in sich aufwallen, als die Linie weiterwanderte und schließlich im Süden Shaylas endete. Der nächstgelegene Hof war Amber Hall. Mehr würde er so nicht herausbekommen. Varcas rollte die Karte zusammen und schob sie in ein Lederkuvert, bevor er sich seines Morgenmantels entledigte. Es galt, keine Zeit zu verlieren.

Wenn er den kurzen Blick auf den rauchverschleierten Himmel des zweiten Bildes richtig gedeutet hatte, dann zeigte der Mond ihm deutlich an, dass es bereits in der folgenden Nacht dazu kommen würde.

Er suchte sich eins seiner grauen Hemden heraus und zog darüber das dunkle Samtwams, dessen Pelz am Kragen schon viele Kleidungsstücke im Laufe der Jahre geziert hatte. Es dauerte kostbare Sekunden, bis er feste Beinkleider und gefütterte Stiefel fand.

Mit wenigen Schritten war er beim Bett. Er fühlte sich ein wenig wie ein kleiner Junge, als er sich auf die Knie begab und die große mit seiner grauen Mahr versiegelte Holzkiste darunter hervorzog. Er öffnete die Schlösser und fand darin in schlichtes dunkles Tuch eingeschlagen das Seherzepter. Varcas’ Hand schwebte einen Moment lang über dem Stab.

Hallo, mein alter Freund.

Er hörte, wie die Tür hinter ihm vorsichtig geöffnet wurde. Varcas zog das Zepter aus der Kiste.

»Mylord?«

Varcas kam wieder auf die Beine und konnte sich einen Moment des Schmunzelns nicht verkneifen: Er rüstete sich für eine Schlacht, vielleicht für die größte seines Lebens, und seine Haushälterin stand im Nachtkleid und mit Schlafhaube auf seiner Türschwelle.

»Wenn ich zurückkehre, werde ich etwas Warmes zu essen brauchen. Und vermutlich nicht wenig davon«, sagte Varcas. »Und ich werde möglicherweise nicht allein sein.« Die Erdalbin beäugte ihn skeptisch.

»Wo geht Ihr denn hin, Mylord?«, fragte sie. Varcas nahm seinen Reitmantel vom Bett und warf ihn über seinen Arm.

»Ich muss etwas … holen, Rholdys«, sagte er, sich völlig bewusst, dass diese Aussage seine Haushälterin nicht zufriedenstellen würde. Sie schnalzte mit der Zunge.

»Und wann kommt Ihr zurück?«

Varcas schob sich an ihr vorbei, hielt inne und blickte zurück. Zurück auf sein Schlafzimmer, die Bücher und die geordnete Beschaulichkeit, in die er sich zurückgezogen hatte.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte er fröhlich. »Ich weiß es wirklich nicht.«

Das Zeichen der Erzkönigin

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