Читать книгу Das Zeichen der Erzkönigin - Serena J. Harper - Страница 18

Varcas
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Varcas ging geschmeidiger, als er es selbst für möglich gehalten hatte, auf ein Knie herunter, um den Boden zu begutachten. Die Blicke der Männer, die ihn begleiteten, brannten in seinem Rücken. Er war sich ihrer Unsicherheit schmerzlich bewusst, während er versuchte, aus den zarten Spuren, die die Königinnentochter bei ihrem Weg durch die Wälder hinterlassen hatte, und ihrer Beschreibung schlau zu werden. Mit einem Seufzen gab er schließlich auf und erhob sich.

Das Ganze wäre um ein Vielfaches leichter gewesen, wenn sie einen Angehörigen der Kriegerkaste in dem Dorf gehabt hätten. Doch die Männer trugen alle nur den Kreis und konnten keine Fähigkeiten vorweisen, die nützlich hätten sein können.

»M’lord?«

Selbst diese einfache Anrede war reich des Wunsches der Männer, zurück in ihr Dorf zu gehen.

»Ich muss nachdenken«, sagte er mit einem Anflug von Gereiztheit.

Er wusste, Geduld stand einem Seher weitaus besser an als die unruhige Spannung, die ihn die Inkompetenz seiner Begleiter verfluchen ließ.

Sie konnten nichts dafür, mahnte er sich selbst. Es waren Bauern und kleine Händler. Niemand von ihnen war mit den Talenten eines Kriegers gesegnet.

Wie die weiblichen Kasten waren auch die männlichen mit außergewöhnlichen Eigenschaften ausgestattet. Dass ein Krieger ein Talent für Waffen besaß, war dabei nur die Krönung seiner Veranlagungen. Es war viel mehr. So besaßen sie üblicherweise unter allen Alben die feinsten Sinne und Instinkte, was sie auch zu exzellenten Spurenlesern machte.

Sein alter Freund Hjalvar Stormblood hatte dies in ihrer gemeinsamen Zeit in Stormwood Hold in Askyan beeindruckend und auf vielfältige Weise bewiesen. Varcas hatte sich als Seher noch nie so blind gefühlt wie auf den Streifzügen mit Hjalvar, der in jedem Grashalm auf den kargen Küstenzügen die Geschichte der vergangenen Tage abzulesen vermochte. Sie hatten ein gutes Gespann abgegeben, damals.

»Wir gehen weiter«, entschied Varcas. Niemand widersprach ihm. Zustimmung fand er dennoch keine in den Blicken, die die Dorfbewohner untereinander austauschten. Trotzdem folgten sie ihm, als er mit der Mahr eine Kugel Albenlicht neben sich erschienen ließ und sie mit einer Bewegung von Zeiger- und Mittelfinger an die Spitze seines Zepters hängte, wo sie verblieb.

Die Wälder im Süden Shaylas bestanden aus dichtem Unterholz und Laubbäumen mit schweren Kronen, anders als in den nördlicheren Regionen Norfaegas, in denen hauptsächlich Nadelhölzer zu finden waren. Das Dach, das die Ulmen und Gleditschien bildeten, versperrte beinahe vollständig die Sicht auf den farbdurchtanzten Himmel. Irgendwo tiefer in den Gedärmen des Waldes heulten Wölfe.

Als seine Albensinne die Spur einer Aura auffingen, hielt Varcas inne. Nein, korrigierte er sich selbst, es war nicht eine Aura, es waren mehrere. Viele. Varcas tastete sich geistig vorwärts und ließ seine Schritte nahezu ohne Verzögerung folgen.

Das Erste, das Varcas sah, als er den Rand der Bäume erreichte und auf eine Lichtung trat, war das sachte Schwingen verbrannter Füße im Wind.

Erst danach vervollständigte sich das Bild um die Stricke, die ein Dutzend Hälse mit dem starken Astwerk eines Erlenbaumes verbanden.

»Himmelslichter«, stieß einer seiner Begleiter atemlos hervor, bevor er sich abwandte.

Varcas hob sein Zepter ein wenig höher, um mehr erkennen zu können.

»Das sind Herolde. Von Amber Hall.« Der weiße Lichtschein ließ das Wappen des Hauses Moonfall an den von Ruß und Blut beschmutzten Schärpen glitzern. »Zumindest einige von ihnen«, fügte Varcas leiser hinzu. Nicht alle waren Männer. Es waren zwei Frauen dabei. Zwei Jungen, zu klein, als dass er sie zu den Männern hätte zählen können. Raben saßen auf ihren Schultern und pflückten das weiche Fleisch von den Wangenknochen.

»Wieso hat man sie hier gehängt?«, fragte der Mann, der sich Varcas als Joran vorgestellt hatte.

Varcas rieb sich über das Kinn.

»Nicht alle starben durch den Strick«, stellte er nüchtern fest. »Die anderen waren schon tot, als man sie mit den Seilen in den Baum hochgezogen hat.«

»Aber warum? Warum dieser … Aufwand?«

Unter all den schwindenden Signaturen der Getöteten und derjenigen, die der Zerstörung von Amber Hall hier im Wald ein grausiges Monument gesetzt hatten, war eine, deren Macht Varcas für einen Moment schaudern ließ.

Varcas’ drittes Auge erfasste den Baum und mit ihm den pulsierenden Glanz einer silbernen Rún.

»Es ist eine Botschaft«, antwortete Varcas schlicht. Eine Botschaft für jeden, der sich auf die Suche nach möglichen Überlebenden machen würde. Varcas sprach nicht weiter.

Er sagte den Männern nicht, dass es die Kinder waren, die erst an diesem Baum gestorben waren.

Er verschwieg, dass es geschehen sein musste, als alle anderen bereits aufgeknüpft gewesen waren. Es war kein Wissen, das irgendjemandem von ihnen etwas genützt hätte.

»M’lord, was sind das für Spuren unten am Baumstamm?« Joran wagte sich näher heran und berührte die Rinde des Baumes, die, wie Varcas nun auch sehen konnte, von tiefen Furchen durchzogen war.

Varcas stieß einen leisen Fluch aus.

»Das ist genau der Grund, wieso der Eldermann dringend bestattet werden muss«, knurrte er. »Das sind Kratzspuren von Nekrophagen. Grimwölfe, wenn ich das richtig sehe. Und davon nicht wenige.«

Bewegung kam in Varcas. Er hatte nicht unbedingt erwartet, im Süden Shaylas auf Grimwölfe zu treffen. Andererseits wagten sie sich, besonders wenn sie sich zu größeren Rudeln zusammenschlossen, häufig aus den höher gelegenen und gebirgigen Gegenden, ganz besonders, wenn die Nahrung knapper wurde.

Als er das erste Mal mit Hjalvar auf Grimwolfjagd gegangen war, hatte er noch geglaubt, dass sie als Aasfresser im Gefüge des Lebenskreislaufs eine gute und wichtige Aufgabe erfüllten. Das war gewesen, bevor Hjalvar ihm sehr eindrücklich gezeigt hatte, dass die Nahrung einzelner und kleinerer Grimwolfrudel zwar hauptsächlich aus toten Tieren bestand und sie meist nicht mehr Schaden anrichteten, als Wild aus von Askyanern aufgestellten Fallen zu stehlen – aber dass sie, sobald sich die Chance ergab und ihre Stärke groß genug war, auch lebende Beute rissen.

Und die bedeutend größer war als sie.

Hier hatten die Grimwölfe eindeutig versucht, an die hängenden Leichen heranzukommen. Ihre Krallen hatten den Baum bei den Bemühungen, ihn zu erklimmen, zerkratzt.

»Die Spuren führen vom Baum weg.« Varcas richtete seinen Blick auf die Stelle zwischen den Bäumen.

Die Grimwölfe mussten nach einer Weile aufgegeben und den Raben das Festmahl überlassen haben. Etwas anderes hatte ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen – oder jemand anderes.

Varcas stieß einen Fluch aus, der ihm einige entsetzte Blicke einbrachte, und setzte sich wieder in Bewegung. Wenn die Grimwölfe den Alb vor ihnen entdeckt hatten, war er so gut wie tot. Der Seher wartete nicht länger auf seine Begleiter, sondern setzte sich in Bewegung, um der Fährte zu folgen. Hjalvar hätte ihm sagen können, wie viele Tiere es gewesen waren. So blieb ihm nur übrig, es selbst herauszufinden.

Es dauerte nur wenige Minuten, in denen er versuchte, die Geräusche der anderen Alben auszublenden, bis seine spitzen Ohren endlich etwas anderes wahrnahmen – das heisere Grollen aus Grimwolfkehlen.

Es war eine Gruppe aus sieben oder acht Tieren, die sich bemühte, sich einem auf dem Boden liegenden Erdalb zu nähern. Dieser lebte noch – denn er hatte es geschafft, mit seiner Mahr einen Schutzschild heraufzubeschwören. Offensichtlich aber zu spät, denn er blutete erkennbar aus mehreren Wunden. Der ältere Alb presste sich eine Hand auf eine Verletzung im Bauchraum, die, wie Varcas erkannte, von einem der Nekrophagen stammen musste.

Aus der Ferne hätte man sie für gewöhnliche, wenn auch sehr, sehr große Wölfe halten können; besaßen sie doch den gleichen agilen Körperbau und langes graues Fell. Doch ihr Oberkiefer war anders geformt, die Eckzähne waren zu Säbelzähnen entwickelt, lang wie die Elle eines Kindes und so gebogen, dass sie damit den Körper ihrer Beute mit Leichtigkeit öffnen konnten. Ganz gleich, ob diese noch lebte oder nicht.

Einer von ihnen musste den Erdalb erwischt haben. Als er Varcas entdeckte, war es keine Erleichterung, die sich auf seinem faltigen Gesicht abzeichnete, sondern eine Steigerung der Furcht.

Varcas ignorierte das Zögern der Dorfbewohner, die sich keinen Schritt weiter wagten. Es war besser so. Er konnte spüren, dass die Kraft der fliederfarbenen Mahr des Erdalben sich bald erschöpfen würde – der Glanz auf seinem Unterarm wurde schwächer und matter mit jedem verzweifelten Atemzug, den er tat.

Zum zweiten Mal in dieser Nacht betätigte Varcas den kleinen Drehmechanismus seines Seherzepters, um es zu dem langen Stab auszuziehen. Die Tiere waren hungrig, aber nicht abgemagert, sondern so wohlgenährt, dass sie den Kampf riskieren würden. Zudem war ihr Rudelverhalten ausgesprochen schlau – würde er sich nach vorn bewegen, fänden sicher einige ihren Weg an ihm vorbei bis zu den Dorfbewohnern.

Varcas steckte das Schwert weg, um sich gänzlich auf seine Rún und die durch ihn hindurchfließende Mahr zu konzentrieren.

Die Grimwölfe hatten sich verteilt. Drei von ihnen behielten knurrend und mit hoch aufgestellten Augen ihre auserwählte Beute im Blick, die übrigen hatten sich ihm zugewandt, das Fell im Nacken gesträubt.

Varcas ließ seinen Geist über die Nekrophagen streichen. Es gab da etwas, das er in Askyan über sie gelernt hatte …

»Bleibt ganz ruhig, Meister Gorwyn«, sagte er. Eins nach dem anderen nun. Varcas war mächtig genug, um einen grauen Schutzschild um sich selbst zu errichten und auch den umzingelten Erdalben zu schützen – und noch genügend Tiefe der Macht ausschöpfen zu können für den nächsten Schritt.

Wie hatte Hjalvar die Grimwölfe immer genannt? Die Alben unter den Tieren? Sie waren ein Spiegel ihrer eigenen Gesellschaft, ihnen allen ähnlicher, als sich auf den ersten Blick vermuten ließe.

Varcas’ Blick fiel auf eins der Weibchen. Es war nicht sonderlich groß, wurde aber von den drei stärksten Männchen flankiert.

Er lächelte, als er kraft seiner Mahr unter die Barrikaden des Geistes des Grimwolfweibchens schlüpfte. Für unerfahrene Seher war es eine merkwürdige – ja, eine beunruhigende – Erfahrung, durch den Geist eines Tieres zu streifen und ihn zu manipulieren. Aber eigentlich, so hatte Varcas es stets empfunden, gab es gar keine so großen Unterschiede. Mehr Instinkt. Mehr Gefühl. Weniger Gedanken. Aber dafür keine Lügen, keine Täuschungen, die er als Seher hätte entlarven müssen.

Im nächsten Moment entspannte das Weibchen sich völlig. Es richtete sich aus der angriffslustigen Haltung auf und schlagartig reagierten auch die anderen Tiere, die sich zu ihr zurückzogen.

Varcas schritt unbehelligt an den Grimwölfen vorbei und ging neben dem Erdalben auf die Knie.

»Meister Gorwyn, ich wurde geschickt von … von …«

Erst jetzt erinnerte er sich, dass das Nachtalbenkind ihm keinen Namen genannt hatte.

Doch der Erdalb hörte ihm sowieso kaum zu. Seine Gesichtsfarbe war fahl geworden, die Mahr nahezu versiegt. Er sank kraftlos weiter in sich zusammen. Nur seine Augen suchten nach etwas an Varcas. Der Seher spürte, wie der Verwundete seinen Blick nicht von seinen Händen lösen konnte.

»Nein, Meister Gorwyn«, sagte er sanft, während er ihn einen Arm unter den Rücken schob, um ihn zu stützen, »ich trage keinen Hofring. Ich diene keiner Königin.«

»Die … die Grimwölfe …«, brachte der Erdalb keuchend hervor. Varcas nickte, wob aber einen grauen Wärmezauber. Er hatte zu wenig Heilerfahrung, um eine derartige Wunde zu schließen. Sie würden die Heilerin brauchen. »Wie habt Ihr das getan? Die Grimwölfe …«

»Sie dienen einer Königin«, sagte Varcas schlicht und wies auf das Wolfsweibchen, auf dessen Rücken einer ihrer Krieger seinen Kopf gelegt hatte.

Das Zeichen der Erzkönigin

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