Читать книгу Das Zeichen der Erzkönigin - Serena J. Harper - Страница 20

Rodric
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Der Thronsaal.

Die warme Hand an seiner Wange.

Der Schmerz.

Die Scherbe.

Es war ein stolzer Tag.

Vielleicht der glücklichste in seinem ganzen bisherigen Leben. Er und die anderen gleichaltrigen Jungen hatten die Initiation an Beltâne hinter sich gebracht, das Blut war geflossen, und seine Rún hatte sich vervollständigt. Alatans Schwert, das Zeichen der Krieger, glänzte schwarz auf seinem Unterarm.

Es war der erste warme Tag nach einem langen Winter, aber im Kristallpalast war es dennoch kühl. Er trat mit vor Stolz geschwellter Brust ein und staunte über die Pracht des Thronsaals. Über die Schönheit der Königin, ihr helles, langes Haar, das so weich aussah, dass er die Hand ausstrecken und es berühren mochte. Sie lächelte ihm zu, ihr Haupt geneigt, sie bewegte ihre Lippen, aber es ging zu schnell, er konnte ihre Worte nicht hören.

Als man ihn an den Armen packte, war sein Gedanke nicht, sich zu wehren. Was, fragte er, was habe ich getan?

Er hatte nichts verbrochen. Sie hatten nicht versucht, wegzulaufen. Wohin hätte er auch laufen sollen? Thornehold, das früher sein Zuhause gewesen war, war kein besserer Ort.

Ihre Stimme war sanft und zärtlich, als sie sich ihm näherte. Noch war sie eine Handbreit größer als er, aber er wusste, das würde sich in den nächsten Wintern ändern.

Ihr Tonfall klang wie das Frühlingsgurren der Vögel, die auf den noch kahlen Ästen saßen und die zu schnell selbst für Tyrans Flügel waren.

Er fand sich auf den Knien wieder, und einer der Männer fasste in sein Haar. Sein Haar, hatte sie es bemerkt? Tyran hatte ihm gezeigt, wie die Askyaner einen Zopf banden, damit es beim Fliegen nicht ins Gesicht geriet. Hatte sie es bemerkt?

Mit einem Ruck zog einer der Männer seinen Kopf nach hinten. Dann war sie über ihm. Ihre Fingerspitzen streichelten seine Wange, die warme Hand, und dann sah er etwas glitzern. Zwischen ihrem Daumen und ihrem Zeigefinger, gehalten durch ein paar Tropfen der Mahr, drehte sich ein Splitter aus Kristall, weiß, glänzend, ein Briolette-Schliff, ein spitzer, schmaler Tropfen wie die Opalohrringe seiner Stiefmutter. Sie kehrte die Spitze des Kristalls nach unten.

Die Hand an seiner Wange fand seinen Kiefer, ihr Griff wurde fester, die Stimme blieb sanft; er protestierte, als ihre Fingernägel sich in seine Haut gruben.

Der Kristall schwebte über dem Glaskörper seines Auges. Ein schreckliches Grauen erfasste ihn. Er war unfähig, sich zu rühren, obwohl er zappeln wollte.

Sie spannte ihre Hand weit auf und senkte sie herab, der Kristall wanderte ihrer Bewegung voraus, und dann war er da, an seinem Auge.

Er hörte jemanden schreien, als der Splitter sich an seinem Augapfel vorbei ins Innere seines Schädels bohrte. Die Wärme auf seiner Wange kehrte zurück, der Augenwinkel blutete, doch es war nicht vorbei. Tiefer und tiefer stieß sich der Splitter hinab, dort, wo der Sehnerv verlief.

Der Schmerz war so riesig, so gewaltig, dass er glaubte, sein Kopf müsste bersten.

»Du bist jetzt ein Mann«, sagte sie.

Er war zwölf.

Es war der Aufprall auf dem Fußboden, der Rodric aus seiner Bewusstlosigkeit riss – zu spät, um sich abzufangen. Nichts hatte ihn je weniger gekümmert als die Kratzer, die er sich an Knien, Armen und im Gesicht an dem Steinboden einfing.

Obwohl die Schmerzen in seinem Kopf, hinabwandernd durch sein Rückenmark in die Extremitäten, ihm immer noch die Sinne vernebelten und er nur Schwärze sah, reichte das Gefühl des Steins aus, um ihm untrüglich zu vermitteln, wo er war. Es war nicht der Kerker geworden, sondern sein eigenes Zimmer.

Rodric wusste nicht, ob er darüber dankbar sein sollte. Sein Körper war so randvoll mit Schmerzen, dass er in sich nichts entdecken konnte, was zu Erleichterung fähig war.

Schwer atmend blieb er liegen. Lange durfte er auf dem kalten Boden nicht verweilen, das wusste er, sonst würde jede Verkrampfung der Muskulatur sich nur noch mehr verschlimmern. Rodric zwang sich, seine Augen geöffnet zu halten, obwohl die Dunkelheit seines Sichtfeldes sich nur langsam lichtete.

Der Schmerz in seinem Kopf war wie eine heiße Klinge, die durch zähen Honig geschoben wurde – sinnvernebelnd und doch scharf, mit einem Brennen, das es ihm schwer machte, sich zu konzentrieren. Er wählte von all den Dingen, zu denen er gerade noch imstande war, das Einfachste und Notwendigste: Einatmen, ausatmen. Zwanzig lange, tiefe Atemzüge gestattete er sich, bevor seine Hand nach Halt zu tasten begann.

Er fand ihn in Form seines Bettes. Einatmen, ausatmen. Zehn Züge, in denen er genügend Kraft sammelte, und sich dann schließlich nach oben zog. Er kam nicht auf dem Bett zum Liegen, sondern fand direkt in den Stand. Wenn er sich jetzt hinlegte, würde sein Körper nach Schlaf verlangen, und die Gefahr, dass Königin Lamia noch nicht fertig mit ihm war, war bei Weitem zu groß, als dass er sich jetzt die Ruhe hätte nehmen können.

Auf seinen Bettpfosten gestützt beruhigte er seine Atmung, bis das Dröhnen in seinen Ohren leiser wurde. Dann erst wagte er die wenigen Schritte hin zu der Kommode, auf der seine Wasserschüssel stand. Ein Blick in den kleinen Spiegel zeigte ihm die Auswirkungen der Scherbe mit aller Deutlichkeit – und gleichzeitig waren sie so harmlos, dass jemand, der nie davon gehört haben mochte, sie hätte übersehen können. Die Scherbe hatte die feinen Äderchen im Glaskörper seiner Augen zum Reißen gebracht, und diese zogen sich nun tiefrot bis hin zu seiner verdunkelten, violetten Iris. Tatsächlich hatte es dieses Mal auch ein paar Adern unter den Augen erwischt.

Es war nichts. Es würde heilen. Er war ein Nachtalb, und Lamia kannte die Dosis an Schmerz, die sie ihm verabreichen konnte, sehr genau. Sie wusste, wie viel sie tun musste, um ihn zur Ordnung zu rufen oder um ihn in die Bewusstlosigkeit zu treiben, nach ein, zwei, drei Stunden, in denen er sich auf dem spiegelglatten Boden des Thronsaals gewunden hatte.

Rodric füllte die Schale mit etwas frischem Wasser, fand mit noch unsicheren Fingern einen Lappen, den er ins Wasser tauchte, und begann, mit der anderen Hand noch auf die Kommode gestützt, sich den Schweiß aus dem Gesicht und dem Nacken zu wischen.

Ein Geräusch vor seiner Tür ließ ihn innehalten. Schwankend richtete er sich auf, als der äußere Riegel weggeschoben wurde, und eine der Wachen die Tür öffnete, um einen anderen Mann hereinzulassen.

»Mach schnell«, knurrte die Wache und gab den Weg für Rodrics unangekündigten Besucher frei. Der Blick des diensthabenden Alben streifte Rodric nur kurz, als er die Tür wieder zuzog, doch der Moment genügte, um Rodric die Verachtung für beide nun Anwesenden darin erkennen zu lassen.

Mit einem Seufzen lehnte Rodric sich an die Kommode.

»Hallo, Elmas«, sagte Rodric, wie immer, wenn er mit Elmas sprach, darauf achtend, dass kein Funke Mitleid in seiner Stimme mitschwang.

Der geduckte Alb richtete sich ein Stückchen auf. Mit Verspätung trat ein Licht in seine braunen Augen. Rodric atmete auf. Elmas erkannte ihn noch immer.

Der Erdalb kam ein wenig näher, das linke Bein hinter sich herziehend, und deutete ungeschickt eine Verneigung an, die Rodric erwiderte.

»Was bringst du mir denn da mit, Elmas?«, fragte Rodric und deutete mit dem Kinn in Richtung des Tabletts, das der Mann trug. Es kostete ihn sichtlich Kraft, es zu halten – die brandnarbenübersäte Haut spannte an den Knöcheln.

Elmas blickte auf die Schüssel und den Krug, angestrengt. Sein schlohweißes Haar fiel ihm in die Stirn. Langsam stellte er das Tablett ab, bevor er es sorgsam zurückstrich.

Weiß. Einst war es hellbraun gewesen, erinnerte Rodric sich. Damals, als auch Elmas’ Bein noch intakt gewesen war. Als er noch … normal gewesen war.

»Essen«, brachte Elmas hervor, Hilfe suchend wieder zu Rodric aufsehend.

Rodric nickte. »Danke.«

Es fiel ihm schwer, die Beklommenheit abzuschütteln, die er noch greifbarer spürte als den pochenden, langsam abklingenden Schmerz in seinem Kopf. Der Alb, der vor ihm stand, offensichtlich unschlüssig, ob er wieder gehen sollte, war nur wenig älter als er selbst, doch lag in seinem Ausdruck eine Müdigkeit, die Rodric selten bei einem der langlebigen Alben gesehen hatte. Er kannte ihn schon genauso lange wie Tyran, als er als Knabe von Thornehold in den Kristallpalast gekommen war. Damals hatte Elmas ein paar Jahre schon in Königin Lamias Diensten gestanden, ein schneidiger, nicht unattraktiver Alb, der nur den Kreis als Rún trug, dafür aber einen grünen. Keine besondere Begabung, weder geringe noch übermäßig große Macht, aber ein wacher Verstand und ein Geschick für den Umgang mit Waffen, obwohl er nicht unter dem Zeichen des Kriegers geboren worden war.

Rodric näherte sich langsam dem Tablett, um das Essen zu begutachten, das ihm die Königin nach ihrer … Auseinandersetzung gewährte.

»Noch … etwas anderes«, murmelte Elmas, in den Falten seines Gewandes suchend. Rodric wartete geduldig ab. Die Hände des Alben hatten seit dem einschneidenden Erlebnis, das ihn so verändert hatte, praktisch nie mehr aufgehört zu zittern. Sobald er morgens die Augen aufschlug, sagten die anderen Sklaven, bebten seine Muskeln.

»Hier.« Elmas streckte seine Hand aus. Die rechte hatte deutlich schwerere Verbrennungsnarben als die linke. Rodric tat es ihm gleich, und der Sklave ließ etwas in seine geöffnete Handfläche fallen. Rodric konnte sich nicht dagegen wehren, dass ein Lächeln über seine Züge wanderte.

»Die brauchst du mir nicht schenken«, sagte er, die kandierten Früchte betrachtend. »Die hast du doch sicher von deiner Tante aus der Küche?«

Die Küche des Kristallpalastes war einer der wenigen Orte, an denen Elmas, soweit Rodric wusste, vor dem Hohn, dem Spott, und der merkwürdigen Mischung von Angst und Verachtung sicher war, die ihm selbst die anderen Männer entgegenbrachten, die Königin Lamia dienten.

Pergament, dachte Rodric, als Elmas’ Hand sich um seine schloss, als wolle er ihm nachdrücklich befehlen, die kandierten Früchte gut festzuhalten, seine Haut ist wie Pergament.

Rodric selbst hatte eine Vielzahl von Narben, mehr, als er je hätte zählen können. Da war die markanteste eine tiefe Wunde, die jetzt als Narbe seine rechte Augenbraue teilte. Sein Rücken war in den ersten dreihundert Jahren seines Lebens so häufig von der Peitsche aufgerissen worden, dass die Struktur der Haut unwiderruflich zerstört worden war. Als Lamia gemerkt hatte, dass die Schäden zu groß wurden, hatte das für eine Zeit eine gewisse Mäßigung in den Maßnahmen bewirkt. Sie hatte auch ihre Heilerinnen beauftragt, sich seiner anzunehmen.

Elmas hatte ein derartiges Glück nicht gehabt.

Rodric bemerkte, dass Elmas ihn immer noch erwartungsvoll ansah. Elmas wies auf die Früchte.

»Also gut, mein Freund. Ich danke dir«, sagte Rodric. Vermutlich würde er nicht darum herumkommen, vor den Augen des Alben eine zu probieren. Rodric wählte ein kleines Stück und kostete es.

»Gegen … Kummer«, erklärte Elmas ernsthaft. Die Worte sorgten dafür, dass sich in Rodric für einen Moment alles zusammenzog. Welchen Kummer, den jemand wie er oder Elmas hatte, hätte schon ein Stück gezuckerte Süßigkeit heilen können? Und dennoch – Elmas lächeln zu sehen, als bereite es ihm wirklich Freude, Rodric diese Art von Medizin vorbeigebracht zu haben, löste in Rodric beinahe den Wunsch aus, sich vorzustellen, die Sorgen könnten durch eine solche kleine Geste vergehen.

Aber nichts konnte in Ordnung bringen, was in Norfaega geschah. Nichts konnte rückgängig machen, was Königin Lamia ihnen allen angetan hatte.

Es war beinahe vierhundert Jahre her. Rodric selbst war auch in Val Thalas gewesen, aber nicht im Palast – es war ein Sommertag, erinnerte er sich, und er und Tyran hatten es irgendwie vollbracht, einige Wochen lang nicht in Ungnade zu fallen. Sie waren trinken gewesen, irgendwo in den Kaschemmen am Weißen Fluss, wo sie sich vor niemandem verneigen oder rechtfertigen mussten, und wo die Wahrscheinlichkeit gering war, auf jemanden zu treffen, den sie kannten.

Als sie zurückgekommen waren, hatten sie beide mit den Sinnen des Kriegers gewittert, dass etwas nicht stimmte. Wut, lodernde, brennende Wut erfüllte die Korridore. Angezogen von den Emotionen rannten sie beide in den Thronsaal, nur um mitten in eine Bestrafung zu stolpern.

Rodric erinnerte sich, wie er seine schwarze Rún hatte einsetzen müssen, um Tyran, impulsiv wie immer, davon abzuhalten, nach vorn zu stürzen, als Vetis siedendes Öl auf Elmas’ Unterarme und Hände goss.

Manchmal glaubte Rodric, noch nie jemanden so laut schreien gehört zu haben. Doch es war nicht nur der Schrei gewesen, der in seinen Ohren widerhallte – sondern auch das Summen der Scherbe, die spürte, dass eine andere ihrer Art ganz in der Nähe aktiviert worden war und benutzt wurde.

Lamia hörte nicht auf. Nicht, als das Blut aus Elmas’ Nase schoss. Nicht, als er bewusstlos wurde. Und als ein Rinnsal dunkler Flüssigkeit aus seinen Ohren tropfte, spürte Rodric das Bersten des Verstandes seines Kameraden.

Die Schmerzen durch das Öl waren eine Tortur gewesen, die er niemandem wünschte – aber die Folter durch die Scherbe hatte irgendetwas … mit Elmas gemacht. Rodric hatte zuvor schon Hinrichtungen mithilfe der Scherbe erlebt – schreckliche Momente, in denen er die Adern der Augen reißen sah, bevor die Iris sich in die Innenseite des Kopfes drehte, und der Delinquent zu Boden fiel – aber Elmas war nicht gestorben. Sie hatte nur irgendetwas in ihm … zerbrochen.

Jetzt taugte er nicht einmal mehr für die Blutgärten, in denen sich im Sommer die Gesellschaft Shaylas versammelte, um den Kämpfen zuzusehen.

Die Süße des Zuckers in seinem Mund erinnerte ihn schlagartig an das verbrühte Fleisch. Rodric schloss die Hände zu Fäusten.

»Nicht gut?«, fragte Elmas besorgt.

»Doch«, erwiderte Rodric. »Mir ist nur gerade etwas klar geworden.«

Ein Lächeln legte sich auf Elmas’ Züge.

Rodric erwiderte es.

Nämlich, dass ich alle Königinnen eines Tages töten werde.

Das Zeichen der Erzkönigin

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