Читать книгу Das Zeichen der Erzkönigin - Serena J. Harper - Страница 19

Lyraine
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Gorwyns Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig. Das war ein gutes Zeichen. Um das zu wissen, brauchte man keine Heilerin zu sein.

Aber als der Seher – Varcas – und die Dorfbewohner den Truchsess hereingetragen hatten, wenige Stunden zuvor, als gerade die Sonne aufging, hatte der Atem des Erdalben noch ganz anders geklungen. Die Heilerin Lenka hatte ganze Arbeit geleistet.

Sie hatte genauso schnell gearbeitet wie die Heilerin in Amber Hall: mit flinken, geschickten Griffen. Erst hatte sie Lyraine hinausschicken wollen, doch als selbst der Truchsess sagte, sie dürfe bleiben, hatte sie nachgegeben. Und so hatte Lyraine sich neben Meister Gorwyn gesetzt, seine Hand gehalten und zugesehen, wie die Heilerin die Hose von unten und das Hemd von oben aufschnitt und die Wunden zu versorgen begann.

»Totes Gewebe«, hatte sie Lyraine erklärt und auf die Ränder der klaffenden Wunde gedeutet. Als Lyraine fragend auf etwas weiß Schimmerndes wies, zögerte sie erst noch, bevor sie ihr den Oberschenkelknochen zeigte.

Nachdem Gorwyn einen Trank eingeflößt bekommen hatte, war er flach atmend eingeschlafen. Genügend Zeit für die Heilerin, um das tote Gewebe mit einem seltsam gekrümmten Messer, das sie vorher mit einer Zunge mahrischem Feuers erhitzt hatte, wegzuschneiden.

Sie hatte die Wunde gesäubert und begonnen, sie zu nähen, den Singsang der Heilerinnen auf den Lippen, jedes Mal, wenn sie die Haut durchstochen hatte.

Nun schlief Gorwyn endlich ruhig, mit tiefen, gleichmäßigen Atemzügen. Aber Lyraine blieb sitzen, wo sie war. Sie wusste von der Heilerin in Amber Hall, dass es wichtig war, Kranke nicht allein zu lassen. Manchmal konnte man kleine Anzeichen der Verschlechterung übersehen, und dann starben sie, ohne dass man etwas dagegen hätte tun können.

Eine Bewegung im Türrahmen ließ Lyraine aufblicken.

»Meister Varcas«, sagte sie.

Er neigte den Kopf. Sie wusste nicht, ob es Zustimmung oder eine angedeutete Verneigung war. Verbeugen musste sich vor ihr niemand.

Nicht mehr.

»Darf ich mich zu euch beiden setzen?«, fragte der Seher und wies auf einen zweiten Stuhl.

Lyraine nickte.

Er war groß, selbst für einen Albenmann, und es fiel ihr ausgesprochen schwer, zuzuordnen, zu welchem der Albenvölker er gehörte. Er hatte schwarzes Haar wie die Nachtalben, das an den Schläfen und an vereinzelten Stellen bereits silbern wurde. In seinem Bart würde das Silber bald das Schwarz übertreffen.

Auch die Hörner auf seinem Haupt waren geformt wie bei Nachtalben üblich – wie es bei ihrem Vater der Fall gewesen war: in einer eleganten, runden Krümmung, die sich erst nach hinten und dann nach vorne neigte. Seine Haut hingegen war dunkler als die der meisten Nachtalben, die sie kannte – es war ein schöner, milder Bronzeton, der sie an die Erdalben des Dorfes erinnerte.

Als er Platz genommen hatte, holte sie Luft, bevor er etwas sagen konnte:

»Es ist gut, dass Ihr hier seid, Meister Varcas«, sagte Lyraine. »Ich wollte sowieso mit Euch sprechen. Ich wollte … ich wollte mich bedanken.« Lyraine suchte nach seinem Blick. Seine Augen hatten fast die gleiche tiefe, grau-blaue Färbung seiner Hörner. »Ihr habt mir gegen die … die Krieger beigestanden. Und Ihr habt Meister Gorwyn hierhergebracht. Die Lady Lenka hat gesagt, er wird es überleben.«

Varcas nickte.

»Das denke ich auch. Die Versorgung der Wunde war noch rechtzeitig.«

Er sah so aus, als würde er noch mehr sagen wollen, aber er tat es nicht. Als er weiterschwieg, ergriff Lyraine wieder das Wort: »Ich stehe in Eurer Schuld, Mylord.«

Zu ihrer Überraschung lachte er auf. Ein wenig gekränkt richtete Lyraine sich auf.

»Mylord, ich meine das mit allem Ernst, ich …«

Der Seher brachte sie mit einer knappen Geste zum Schweigen. Lächelnd beugte er sich vor, die Unterarme auf seine Knie legend. »Mylady, dann entbinde ich Euch mit allem Ernst von dieser Schuld. Ich habe getan, was jeder Alb tun sollte, der ein Kind in Gefahr sieht.«

Lyraine nickte, ein wenig verlegen.

Ein weiteres Mal atmete sie tief durch. Einen Gedanken konnte sie nicht von sich weisen – die Tatsache, wie mächtig er war. Sie hatte sie gesehen, die graue Rún. Es gab nur zwei Stufen, die mächtiger als grau waren, das Silber und das Schwarz. Alle drei Farben gehörten fast in das Reich der Legenden. Ihr war noch nie jemand begegnet, der eine solche Farbe als Rún trug.

Ihr Vater war der stärkste Mann in Amber Hall gewesen, und er hatte Kobaltblau getragen. Wenn man genau sein wollte: Kobaltblau, das an den Rändern die Tiefe von Rot annahm. Er hatte Lyraine erklärt, was das bedeutete: Wenn ein Mann in den Kreis der Herolde einer Königin aufgenommen wurde und sich mit ihr verband, dann konnte es vorkommen, dass seine Rún auf den Mythos der Himmelslichter reagierte. Wenn dieser Mann also mit einer kobaltblauen Rún geboren worden war, wie es bei ihrem Papa der Fall gewesen war, so bestand die Möglichkeit, dass in dem Moment seiner Bindung an seine Königin die Rún eine mächtigere Färbung annahm.

Es passierte nicht immer. Manchmal war es auch so unauffällig, dass es kaum einer Erwähnung bedurfte. Bei Gorwyn, das konnte sie erkennen, blieb die dominante Farbe auch das Flieder, aber der Rand von Goborns Flamme zeigte einen roséfarbenen Schimmer.

Sie hatte ihren Vater gefragt, warum die Herolde diese zusätzliche Macht erhielten. Genau bekannt war es nicht, aber ihr Vater hatte geglaubt, dass es dafür da sein musste, um die Königin besser beschützen zu können.

Ein starker, vereinigter Hof war das Fundament jeden Lebens in Norfaega.

»Ich habe … ein paar Fragen an Euch«, sagte Lyraine, die Hände im Schoß faltend.

Varcas legte den Kopf schräg.

»Was möchtest du wissen, kleine Lady?«

Lyraine konnte sich gerade noch so am Rand des Bettes festhalten. Die Wucht der Worte schnürte ihr schlagartig die Luft ab.

Kleine Lady.

Der Klang einer Stimme, einer ganz anderen, hallte in ihrem Innersten wider. Sie sprang vom Stuhl auf.

Kleine Lady.

Sie musste aus dem Raum verschwinden. Hinaus. Fort. Nur weg, weg von der Quelle dieser Worte. Weg! Sie kam keine zwei Schritte weit, blind vor Panik, als die Hände des Sehers sich um ihre Arme schlossen. Instinktiv wand sie sich, versuchte, sich loszureißen, aber selbst durch den Schleier der Angst hindurch fühlte sie die Bemühung des Alben, ihr keine Schmerzen zuzufügen.

»Ich werde dir nicht wehtun«, versprach er. »Ich wollte dich nicht erschrecken. Bitte.« Seine Stimme war warm und tief.

Lyraine sah zu ihm auf. Grau, nicht silbern.

Sie spürte, wie der Widerstand ihrer Muskeln sich erweichte, und sie fiel kraftloser, als sie es selbst für möglich gehalten hätte, wieder auf den Stuhl zurück.

»Was hat dich so erschreckt?«, fragte Varcas, der sie losließ und sich zurückzog.

Lyraines Augen wanderten über sein Gesicht. Wenn sie doch nur auch ein Seher wie er gewesen wäre! Dann hätte sie unter seine Barrieren blicken können, um seine Gedanken zu lesen. Das konnten Seher doch, oder nicht?

Mit zitternden Fingern glättete Lyraine den Stoff des Kleides, das man ihr gegeben hatte.

»Ihr könnt zu mir sagen, was Ihr mögt – aber nennt mich nicht so.«

Es überraschte sie, als der Seher sich wieder vorbeugte. Der Blick aus den graublauen Augen war ernsthaft und klar.

»Ich verspreche dir, ich werde dich nie wieder so nennen.«

Er fragte nicht, wieso. Aber sein Tonfall klang feierlich wie bei den großen Zeremonien in Amber Hall. Nicht geschwollen und albern, sondern so, als hätte er noch nie etwas so sehr gemeint wie diese Worte. Sie legte ihre Hand auf ihr Schlüsselbein und atmete tief durch. Das hatte Tovilda auch immer gemacht, wenn sie sich vorher schrecklich aufgeregt hatte.

Lyraine konnte fühlen, wie die Panik sich legte und der Erleichterung wich.

Der Seher lehnte sich zurück und schien zu warten.

»Ich wollte Euch … Fragen stellen«, griff Lyraine den Gesprächsfaden wieder auf.

Varcas lächelte erneut. »Nur zu.«

Lyraines Finger fanden einen losen Faden ihres Kleides und begannen ihn zu zwirbeln. Varcas strahlte eine Ruhe aus, von der sie sich am liebsten anstecken lassen wollte. Aber manchmal logen die Leute, das hatte ihre Mama ihr immer wieder gesagt. Manchmal durfte man nur sich selbst trauen.

Lyraine straffte ihre Schultern. Sie musste versuchen, Ordnung in das Chaos zu bringen, das seit … seit Amber Hall in ihrem Kopf herrschte.

»Wer seid Ihr?«, fragte sie und hätte sich sofort auf die Zunge beißen mögen. Die Frage war aus Ihr herausgeplatzt, ungeformt. Es klang nicht so wie etwas, das ihre Eltern gefragt hätten. Ihre Mutter sprach anders mit Gesandten, mit fremden Herolden. Sie wählte ihre Worte mit Bedacht, die meiste Zeit über.

»Meinen Namen kennst du bereits. Als ich geboren wurde, tat ich das unter dem Namen Debray, aber außer mir gibt es heute niemanden, der diesen Namen trägt. Auch dass ich ein Seher bin, hast du schon festgestellt«, antwortete er. Er sprach flüssig, fand Lyraine. Es klang ehrlich; nicht so, als müsste er es sich ausdenken.

»Ich lebe in einem kleinen Haus im Norden von Shayla«, fügte er hinzu, »nah an der Grenze zu Askyan.«

»Das Sturmalbenheim«, warf Lyraine ein.

»Genau«, bestätigte er mit einem Lächeln, das sie von Meister Lewyn kannte, wenn sie etwas Kluges im Unterricht gesagt hatte.

»Wieso seid Ihr hier?«, stellte sie die nächste Frage.

Dieses Mal ließ er sich mehr Zeit, bis er antwortete. Er blickte hinab auf seine Hände mit den sauberen, gefeilten Fingernägeln. Viele adlige Alben trugen die starken Nägel, die sie von Natur aus hatten, genau so. Ein kurzer Blick auf ihre eignen Hände reichte zum Vergleich. Ihre Fingernägel waren tief gesplittert, sodass unter einigen sich Flecken mit Blut zusammengezogen hatten.

»Ich habe vorausgesehen, dass hier der Ort ist, an dem ich sein sollte«, antwortete er langsam, Lyraine aus ihrem Gedanken reißend. »Und wenn ich darüber nachdenke, ist es auch so.«

Er war also einer Vision gefolgt. Meister Lewyn hatte fast nie Visionen gehabt. An besonderen Tagen wie dem Yulfest, Beltâne im Frühling oder den Rauhnächten sprach er manchmal eine Weissagung für den nächsten Jahresabschnitt aus. Aber Meister Lewyn hatte auch nur eine himmelblaue Rún getragen.

»Darf ich dir ebenfalls eine Frage stellen?«

Lyraine zögerte nur kurz. Es war nur fair, wenn er sie auch etwas fragen durfte. Sie nickte.

Zu ihrer Überraschung stellte Varcas ihr seine Frage nicht sofort. Wie sie schien auch er nach Worten zu suchen.

»Weißt du, was bei euch zu Hause in Amber Hall geschehen ist?«, fragte er schließlich.

Lyraine nickte ein weiteres Mal. Das, was Gorwyn ihr erklärt hatte, war genug gewesen, um die meisten Lücken zu schließen. Sie fühlte, dass sie noch nicht alles verstand. Dass es Dinge gab, die vor ihrer Geburt stattgefunden hatten, Jahrhunderte oder Jahrtausende vorher. Dinge, die immer noch wichtig waren.

»Wenn du das weißt, dann … dann ist dir sicher bewusst, dass du nicht dorthin zurückkehren kannst«, sagte Varcas. »Und wir müssen überlegen, wo es für dich am sichersten wäre.«

»Am sichersten?«, fragte Lyraine nach.

Dass sie kein Zuhause mehr hatte, war offensichtlich. Die Flammen, an die sie sich zu erinnern glaubte, waren echt gewesen, und würden Amber Hall ausgehöhlt haben wie die Schale einer Nuss. Aber sie war dem Feuer entkommen. Und allem anderen auch.

Varcas stützte sein Gesicht nachdenklich in seine Hand.

»Weißt du, Nachtalbenkind, die Königin Lamia hat deine Familie aus politischen Beweggründen angegriffen und euer Zuhause zerstört. Du weißt, dass es in Shayla früher elf große Höfe gab, ja?« Er wartete dieses Mal nicht auf ihre Bestätigung, um weiterzusprechen. »Natürlich existierten kleine Höfe – die von Königinnen mit schwächeren Farben, die sich nur um Dörfer und kleine Bezirke kümmerten. Oftmals war dies gar nicht notwendig, wenn eine starke Heilerin oder Hüterin vor Ort war, die als Elderfrau oder mit einem Eldermann zusammen die Angelegenheiten eines Dorfes regeln konnte. Aber die elf Höfe von Shayla sind … sie sind mehr als nur Regierungszentren.«

»Ich bin nicht sicher, ob ich verstehe, was Ihr mir sagen wollt«, erwiderte Lyraine ein wenig unbehaglich.

Varcas’ Blick ruhte weiterhin auf ihrem Gesicht.

»Lass es mich so erklären: Ein Hof kann überall entstehen und eine Königin braucht kein Schloss und kein Anwesen, um zu herrschen. Aber diese Provinz, in der wir leben, wurde seit sehr langer Zeit traditionell von einem der elf Höfe regiert und zwar mit dem Sitz im Amber Hall. Du hast aber einen Anspruch auf die Festung, die Königin Lamia für sich fordert.«

Ihr wurde schlagartig ganz kalt.

»Aber Königin Lamia lebt doch im Kristallpalast«, sagte sie. Ihre Schultern sanken herab. Nicht nur, dass Amber Hall zerstört worden war, jetzt wollte diese … diese Frau sich in IHREM Zuhause einnisten? »Wieso will sie in Amber Hall einziehen?«, fügte Lyraine hinzu. Konnte der mächtige Seher das nicht verhindern?

»Ich denke nicht, dass sie dort einziehen will, Königinnentochter«, antwortete Varcas. Er erhob sich von seinem Stuhl, mit einem Mal sichtbar unruhig. Er verschränkte die Arme vor seiner Brust und wanderte ein paar Schritte durch den Raum. Lyraine sah ihm zu, wie er bis zum Fenster ging und die Vorhänge aus grobem Leinen zur Seite zog, um hinauszuspähen. Bald würden die Himmelslichter aufsteigen – im sich verdunkelnden Osten zeigte sich schon der Hauch des aufsteigenden, tiefen Grüns.

»Königin Lamias Macht beruht darauf, dass es ihr gelungen ist, viele Personen für sich zu gewinnen – und jene zu beseitigen, die sie nicht für sich einnehmen konnte. Als die Anzahl ihrer Anhänger groß genug wurde, haben sogar viele von denen, die sie nicht unterstützen wollten, aus Furcht die Seiten gewechselt.« Der Seher drehte sich um. Langsam strich er sich über den Bart, während er sich an das Fensterbrett lehnte. »Sie wird eine ihr treu ergebene Königin in Amber Hall einsetzen und den Hof neu gründen lassen. Eine Überlebende aus der vorher herrschenden Familie kann sie sich nicht leisten.«

Seine Worte kamen auf sie zu wie ein kalter Luftzug. Die Erkenntnis, was das zu bedeuten hatte, verdichtete sich mehr und mehr.

»Meister Varcas«, Lyraine erhob sich ebenfalls, »was wird Königin Lamia mit mir machen, wenn sie mich findet?«

Das Schweigen, das sich in dem Raum ausbreitete, verwandelte Lyraines Magen zu Stein. Auf einmal fühlten sich ihre Arme und Beine schwer an, ihr Kopf ganz leicht.

Der Seher löste sich von seinem Platz am Fenster. Sie wich nicht vor ihm zurück, als er näher kam. Sehr vorsichtig und langsam legte er eine Hand auf ihre Schulter.

»Ich weiß es nicht«, antwortete er leise. »Aber wir müssen davon ausgehen, dass es nichts Gutes wäre.« Mitgefühl trat in seinen Blick. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie schwer es sein muss, nicht mehr nach Hause zurückkehren zu können.«

Wie bei ihrer Begegnung draußen im Dorf ging er wieder in die Hocke.

»Hast du noch Familienmitglieder? Jemand, der nicht in Amber Hall mit euch lebte, zu dem du gehen könntest?«, fragte er.

Lyraine schüttelte den Kopf. »Ich habe zwei Onkel. Sir Alaric und Sir Avallan. Sie sind die Brüder meiner Mutter. Onkel Alaric ist ihr Schild. Er war es, meine ich.«

»Und Sir Avallan?«, hakte der Seher nach.

»Er war einer der Herolde. Sie lebten beide auf Amber Hall.« Lyraine rieb ihre klammen Finger. »Sonst gibt es niemanden mehr.«

Niemanden. Jeder, der mit ihr das Blut geteilt hatte, war tot. Ihre Mutter, die Königin von Amber Hall, die es vermochte, bei jedem ehrfurchtsgebietend wie eine Löwin zu sein, aber im nächsten Moment die Maske der Politik vom Gesicht nahm, und einfach ihre Mama war. Ihr Vater, der nicht nur der Gefährte der Königin gewesen war, sondern auch ihr Ehemann, der mächtigste Mann der Provinz, der Alatans Schwert getragen hatte, der ihr nie wieder einen Kuss auf den Scheitel geben würde. Und mit ihnen der ganze Hof, Bron Nychester, Kay Hollow, Rogan und Brandon Dusk, ihr Onkel Avallan, Resemir Redwyne und Jonar Ironbrace. Selbst vom Königinnentrigon war nur der Truchsess geblieben, nur Meister Gorwyn.

Und obwohl sie verstand, dass es genau so sein musste – dass alle diese Männer tot waren, mitsamt der Köchin, den Burschen, die sich um die Pferde kümmerten, den Mädchen, die die Zimmer sauber hielten – obwohl sie die Leichen gesehen hatte, als Gorwyn sie hinausgetragen hatte, war sie sich für einen Moment völlig sicher, dass im nächsten Moment einer von ihnen in der Tür stehen und ihr sagen würde, dass alles eben doch nur ein schrecklicher Traum gewesen war.

Und als hätte sie selbst prophetische Fähigkeiten, lenkte eine Bewegung im Türrahmen ihre Aufmerksamkeit vom Seher weg, aber es war nur die Heilerin.

Nach einem kurzen Blick auf den Patienten wandte sie sich an Lyraine.

»Du solltest jetzt versuchen, dich ein wenig auszuruhen«, meinte Lenka.

Intuitiv wollte Lyraine protestieren, doch kein Laut kam ihr über die Lippen. Sie war müde, und sie wollte schlafen. Wenn sie schlief, dann musste sie nicht darüber nachdenken, dass die Wahrheit des Verlustes für den Rest ihres Lebens, wie kurz oder lang er auch sein möge, in ihr bestehen bleiben würde.

»Das ist eine gute Idee«, stimmte Varcas zu, doch er veränderte seine Position nicht. Lyraines Augen fanden die seinen. »Ich verspreche dir, ich werde mir etwas einfallen lassen.« Er sprach leise, vertraulich, obwohl die Albensinne der Heilerin sicher gut genug waren, um das Flüstern zu verstehen.

Varcas streckte die Hand aus, und ein weiteres Mal sah Lyraine sie an. Schneller, als sie darüber nachdenken konnte, legte sie ihre Hand in seine. Seine Haut war warm und angenehm, und ihre Hand verschwand fast völlig in seiner.

»Du hast mein Wort darauf«, fügte er hinzu, ihre Hand leicht drückend, bevor er sie entließ und sie sich der Heilerin näherte.

»Meister Gorwyn …« Sie hatte ihn beinahe vergessen, obwohl sie mit ihm in einem Raum war!

»Ich werde bei ihm bleiben«, versprach Varcas. »Und wenn du dich ausgeschlafen hast, ist er vielleicht auch wach.«

»Na komm«, sagte Lenka behutsam, doch die Hand, die sie auf Lyraines Rücken legte, ließ wenig Widerspruch zu. Aber etwas hielt sie zurück. Sie zögerte, obwohl sie ihre Entscheidung längst getroffen hatte.

»Meister Varcas.« Sie wandte sich noch einmal zu ihm um. »Mein Name ist Lyraine.«

Das Zeichen der Erzkönigin

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