Читать книгу Das Zeichen der Erzkönigin - Serena J. Harper - Страница 13
Varcas
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ОглавлениеEs kam Varcas wie eine Ironie des Schicksals vor, dass die große Offenbarung an Wissen, die die Vision ihm hatte zuteilwerden lassen, begleitet wurde von nicht enden wollendem Nebel, der sein Reisetempo verlangsamte. Er hätte die Mahr einsetzen können, um die Schwaden zu vertreiben, die so dicht waren, dass er vom Pferderücken aus kaum die Hufe erkennen konnte, wie sie nach sicherem Halt auf dem Boden suchten. Aber er wollte mit der grauen Rún keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Grau war keine einzigartige Farbe, aber eine sehr, sehr seltene. Er hatte zeit seines Lebens nur wenige Männer gekannt, die Grau trugen, und noch weniger Frauen. Heute gab es fast niemanden mehr, der mit einer mächtigeren Farbe als Rot geboren worden war.
Früher hatte ihn die Veränderung, die durch die Alben ging, noch beunruhigt – das Aussterben mächtiger Blutlinien bedeutete eine Erschütterung alter Grundsätze und Prinzipien, mit denen er aufgewachsen war. Aber heute glaubte er, dass die Himmelslichter vielleicht zu Recht immer weniger mächtige Königinnen, Krieger, Heilerinnen, Seher, Hüterinnen und Wächter, und ja, auch Hexen geboren werden ließen. Die Alben hatten einst eine Macht gehabt, die sich mit keiner anderen in Norfaega vergleichen ließ. Wohin hatte sie das geführt?
Auf Varcas’ Weg durch Shayla konnte er es genau erkennen. Er mied die Dörfer und Siedlungen, so gut es ging, doch die schnellsten Wege waren jene, die fest und breit genug waren, um darauf Wagen und Kutschen fahren zu lassen, und diese führten unweigerlich zu den Städten. Vermutlich war seine Vorsicht unbegründet, und dennoch benutzte Varcas die Mahr, um sein Bild zu verschleiern.
Kein Alb konnte unsichtbar werden, auch er nicht, aber eine leichte Illusion zu weben, die ihn vor neugierigen Blicken verbarg, war eine verhältnismäßig leichte Aufgabe, besonders weil sie keiner mächtigen Rúnir-Farbe standhalten musste. Menschen waren größtenteils blind wie Spitzmäuse, und selbst wenn ihre Augen sie nicht im Stich ließen, wagten sie es doch kaum, genauer hinzusehen. Die Alben, die ihm ansonsten begegneten, waren meistens nicht einmal in der Basismagie unterrichtet worden und beherrschten nur jene Ebenen der Mahr, die ihnen angeboren war. Auch die Furcht vor Fremden in Zeiten wie diesen war Varcas bei seiner Reise ein unabdingbarer Vorteil.
Als die erste Nacht und der erste Tag vergangen waren, rastete Varcas in einer kleinen Herberge. Er hatte nicht die Linie verfolgt, die sein Blutwasser ihm auf der Karte angezeigt hatte, und den Kristallpalast großzügig umritten. Wenn es jemanden gab, unter deren Blick seine Maskerade fallen würde, dann war es die Silberne Königin.
Er aß schweigend den Eintopf, den man ihm servierte, spülte mit reichlich Wasser nach. Varcas wusste, dass er einige Stunden Schlaf brauchen würde, bevor er seine Reise fortsetzen konnte, doch als er ungestört in dem kleinen Zimmer unter dem Dach war, öffnete er stattdessen die winzige Luke, die den Blick auf den Nachthimmel freigab. Im Osten brannten die Lichter feuerrot, der restliche Himmel blieb schwarz. Der Nebel lag glücklicherweise tief auf dem Boden und in den Tälern, sodass die Sicht auf die Sterne ihm nicht versperrt wurde.
Ich habe Euren Ruf angenommen. Nun führt mich dorthin, wo Ihr mich haben wollt. Als er sich schließlich doch einige Stunden Schlaf genehmigte, merkte er im Morgengrauen, wie wenig er noch daran gewöhnt war, im Sattel zu sitzen. Sein Kreuz war steif von der Nacht in dem schmalen Holzbett und die Muskeln seiner Beine machten Anstalten, ob der ungewohnten Belastung zu streiken. Er nahm die Empfindung mit gemischten Gefühlen auf. Er war ein Albenlord von beträchtlicher Stärke und hatte zugelassen, dass die Hoffnungslosigkeit ihn zu lange an einem Ort festgehalten hatte, sodass seine Fähigkeiten abgestumpft waren. Aber sie jetzt wieder zu spüren, erinnerte ihn daran, dass jeder Muskel, jeder Nerv, jeder Sinn im Körper und Geist mit Übung reifen und über sich hinauswachsen konnte, wenn man nur mit Disziplin vorging.
Das Morgengrauen brachte kühlen Regen mit sich, doch das konnte die neu gefundene Energie von Varcas nicht zum Erliegen bringen, als er sein Pferd sattelte und losband. Er zog sich in den Sattel und strich die Feuchtigkeit von dem Hengsthals. Grani war, ganz wie er, über die Jahrhunderte grauer geworden, aber das Kelpieblut in seinen Adern würde auch ihm noch einige weitere Jahre bescheren.
Von all den Reichtümern, all dem Besitz, den er einst angehäuft hatte, waren es nur Grani, sein Seherzepter und einige persönliche Kleinigkeiten gewesen, die er behalten hatte.
Jetzt, da es dem Pferd gelang, selbst über den rutschigen, aufgeweichten Boden einen sicheren Weg zu finden, war Varcas umso dankbarer für seinen alten Gefährten.
Er ritt den gesamten zweiten Tag hindurch. Mit jeder Stunde, die verging, wuchs das Gefühl, das seine Vision ihm beschert hatte, weiter an. Es war ein Ruf, der nur von einer mächtigen Reliquie stammen konnte, oder von dem Knotenpunkt einer schicksalhaften Verwicklung, auf den die Himmelslichter einen Seher aufmerksam machen wollten. Er war sich nicht sicher, warum gerade er diese Vision empfangen hatte, obwohl die Seher seit langer Zeit einen neuen Großmeister hatten.
Einst war der Turm von Eragant, wo die Besten aller Seher ausgebildet wurden, sein Zuhause gewesen, dachte Varcas mit Kummer. Das war gewesen, bevor er …
Nein. Varcas verscheuchte die Gedanken. Er wollte jetzt nicht an die Vergangenheit denken. Nicht, wenn ihm ein Mosaikstück gezeigt worden war, das ein völlig anderes Zukunftsbild bedeuten konnte.
Als der zweite Tag sich dem Ende zuneigte, war Varcas dem Quell des Rufes so nah, dass er der Versuchung, mit der Mahr die Gegend zu durchsuchen, widerstehen musste. Der Blutwassertropfen war nicht sehr präzise gewesen, sein Gefühl hingegen würde es auch so sein, ohne dass er die Bewohner der umliegenden Dörfer durch den Geruch von Magie alarmieren musste. Es waren hauptsächlich Erdalben und einige Menschen, die im Umkreis lebten. Er spürte keine herausragenden Rúnir, flieder, himmelblau, das mächtigste war eine violette Rún. Bei manchen Alben wurden, das wusste Varcas, sogar Kinder geboren, deren Rúnir nahezu farblos erschienen. Das war früher nie vorgekommen, aber vielleicht – vielleicht drehte sich die Welt auf ihren Abgrund zu, auf ein unausweichliches Ende.
Varcas stieg vom Pferd, noch bevor er die ersten Häuser des Dorfes erreicht hatte. Die Nacht würde kälter werden als die zuvor, und er musste eine Unterkunft finden, bevor die Dunkelheit Einzug hielt. Als Varcas in die misstrauischen Gesichter der Dorfbewohner blickte, war er von seiner Entscheidung, sich als ein wenig harmloser zu tarnen, als er wirklich war, umso überzeugter. Das Dorf selbst bestand eigentlich nur aus einem breitgetretenen Weg, an dessen Rändern sich die kleinen Häuser auffächerten. Die meisten waren komplett aus Holz gebaut, nur wenige hatten einen steinernen Rahmen. Ein wenig erhöht thronte über den restlichen Hütten ein Langhaus, das nicht nur ein stabiles Fundament besaß, sondern sogar eine kleine Mauer, die Varcas nicht ganz bis zum Oberschenkel reichte. Daran waren zwei gesattelte Pferde angebunden.
Varcas zögerte. Er hatte nicht erwartet, dass das Dorf, in dem er stranden würde, kein Haus für Gäste hatte. Einen Moment lang blieb er stehen, wo er war, und konnte dabei förmlich spüren, wie die nasse Kälte seine Stiefel heraufkroch. Schließlich trat ein Mann aus der Türnische seines Hauses. Anscheinend hatte er entschieden, dass Varcas als ungefährlich einzustufen war.
»Sucht Ihr nach etwas, M’lord?«
Varcas tastete seinen Geist unbemerkt mit dem seinen ab.
Er trug nur den Kreis, die einfachste, unbestimmte Erweiterung der Rún, noch dazu in Weiß. Varcas lächelte.
»Ich möchte mit Eurem Eldermann sprechen«, sagte Varcas und nickte in Richtung des Langhauses. Ein Schatten fiel auf das Gesicht des Erdalbs.
»Er ist nicht hier«, antwortete er. Keine Lüge, befand Varcas, und keine ganze Wahrheit. Er hätte für diese Erkenntnis kein Seher sein müssen. Der Mann fixierte mit seinem Blick einen Punkt zwischen Varcas’ Füßen.
»Ich habe einen langen Ritt hinter mir und brauche eine Unterkunft für die Nacht«, sagte Varcas, erkannte aber keine stärkere Veränderung auf den Zügen des Mannes, woraufhin er seine Hand auf seinen Gürtel legte, an dem sein Lederbeutel zu finden war. »Ich bezahle.«
Diese Aussicht löste bei dem Erdalb offensichtlich nicht den Wunsch aus, ihm eine Übernachtungsmöglichkeit anzubieten. Der Mann verharrte reglos. Nur seine Augen wanderten zu den Wäldern, die das Dorf umschlossen. Dies verriet Varcas mehr, als jedes Wort es gekonnt hätte.
Das Misstrauen galt nicht ihm.
Jedenfalls nicht nur.
»Wir haben keine … keine Betten für Reisende«, sagte der Mann und senkte nerneut den Blick. Scham, erkannte Varcas. Er ließ seine Hand über den Hals seines Pferdes gleiten.
Einen Moment lang erwog Varcas, seine Tarnung fallen zu lassen. Er konnte sich in diesem Dorf den Aufenthalt mit Leichtigkeit erzwingen. Aber bevor er dazu kam, erschien eine Frau mit einer tief ins Gesicht gezogenen Kapuze neben dem Mann im Türrahmen und fasste ihn am Arm. Er machte ihr Platz und sie näherte sich Varcas vorsichtig, aber mit dem Selbstbewusstsein einer Frau, die es gewöhnt war, sich Respekt zu verschaffen. Eine Heilerin, erkannte Varcas. Kein Wunder, dass man ihr Respekt zollte: Frauen, die Nyannas Träne als Rún trugen, wurden in den meisten Teilen Norfaegas sehr geschätzt. Als Seher hatte er nicht selten mit Heilerinnen eng zusammen gearbeitet. Nicht unbedingt mit Dorfheilerinnen, wie diese eine war, aber dennoch – ihre Zunft war ihm vertraut.
»Ihr dürft nicht falsch verstehen, Herr«, sagte sie, die Stimme senkend. »Aber hier ist kein Ort, an dem Ihr heute bleiben solltet.«
Varcas blickte in das Gesicht der Frau, das er durch die Kapuze kaum erkennen konnte. Für einen Moment vergaß er, wen er darzustellen versuchte, und hob die Hand. Mit der Selbstverständlichkeit des hochrangigen Albenlords, der er war, schob er die Kapuze zurück, und entblößte einen dunklen Bluterguss unter ihrem Auge.
»Mylord«, sagte sie, einen Schritt zurückmachend. Schlagartig war nicht mehr viel von ihrem Selbstbewusstsein übrig.
»Ihr und die Euren brauchen sich nicht zu fürchten. Ich bin lediglich ein Reisender.« Varcas sprach laut genug, damit auch die Bewohner des Dorfes, die in den Ecken und Winkeln geblieben waren, ihn verstehen konnten. »Wenn Ihr mich nicht beherbergen wollt, werde ich weiterziehen, jedoch komme ich mit guten Absichten. Und ich wäre Euch dankbar für Informationen darüber, was Euch Sorgen bereitet.«
Der Widerstand der Frau bröckelte. Schließlich nickte sie.
»Kommt herein, Mylord. Ihr könnt Euch … an unserem Feuer wärmen. Ich bin Lenka.« Sie rief nach zwei Frauen, die zu ihr traten. »Geht und bereitet ein Bett für – für unseren Gast.«
Varcas wusste, sich nicht vorzustellen, war nicht höflich und entsprach nicht dem Protokoll, dem der Albenadel meist folgte. Aber seinen echten Namen zu nennen kam für ihn nicht infrage – und anlügen wollte er die Heilerin nicht. Sie hatte ihn als Seher identifiziert, hatte auch gefühlt, dass seine Rún eine mächtigere Farbe aufweisen musste als die ihre – und sie hatte eindeutig Angst, trotz aller Stärke, die sie beweisen wollte. Der Mann, der zuerst mit ihm gesprochen hatte, kam näher, um Grani zu einem kleinen Unterstand zu führen.
Varcas konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, als der Erdalb das Pferd staunend musterte. Es sah nicht viel anders als ein gewöhnliches Pferd aus – aber es hatte etwas an sich, die Augen mit den geschlitzten Pupillen, die das Kelpieblut verrieten.
Varcas näherte sich dem Langhaus zusammen mit Lenka.
»Ihr seid die Dorfheilerin?«, versuchte er den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen. Er erkannte ein Schutzzeichen eines Wächters in das Holz der Langhaustür geritzt. Er selbst kannte das Aussehen einiger Schutzzeichen, obwohl er sie selbst als Seher nicht verwendete. Mit einem Stirnrunzeln registrierte er, dass dieses hier mit einer mahrischen Waffe verletzt worden war.
Sie nickte. »Und die Frau des Eldermanns.«
»Ich würde mich sehr gern mit ihm unterhalten. Wo ist er?«, fragte Varcas.
Lenka öffnete die Tür, und Varcas hielt inne, als seine Sinne von den Reizen des Inneren überflutet wurden.
Aus leeren Augenhöhlen starrte ihn ein Erdalb an, mit Seilen und Nägeln an das Holzgeländer der oberen Galerie des Langhauses geschlagen.
»Das dort«, flüsterte Lenka mit erstickter Stimme, »ist der Eldermann.«