Читать книгу Das Zeichen der Erzkönigin - Serena J. Harper - Страница 12

Rodric
3

Оглавление

Erleichterung überkam Rodric, als er endlich durch die geschlossene Tür hörte, wie Tyrans Schritte sich entfernten. Es lag nicht daran, dass er ihn nicht gern sehen wollte – er wollte den Mann, der ihm so nah wie ein Bruder war, immer sehen –, sondern daran, dass er nicht jetzt das sorgenvolle Glitzern in der blauen Iris des Sturmalben ertragen konnte.

Aushalten konnte er vieles – aber dass der Schalk aus diesem Blick wich, das wollte er nicht erleben. Nicht seinetwegen. Nicht wegen dem, was er tat.

Er kannte den Sturmalben nun fast schon sein ganzes Leben lang. Sie waren beide auffällig gewesen, zwei sonderbare Bengel, der eine ein Askyaner mit Haar wie entzündetes Herbstlaub und einer erstaunlich passenden roten Rún, der andere der Bastard des mächtigen Lord Vaharél von Thornehold und als solcher von vornherein rechtlos. Rodric erinnerte sich nicht mehr daran, wann er Tyran zum ersten Mal bewusst wahrgenommen hatte. Aber es hatte höchstens wenige Tage des Kennenlernens gedauert, bis sie sich Rücken an Rücken umringt von rauflustigen Albenjungen wiedergefunden hatten.

Der Gedanke ließ Rodric unfreiwillig lächeln. Sie hatten damals Prügel bezogen, aber nur wenig später waren sie diejenigen gewesen, die austeilten, was sie hatten einstecken müssen. Sich mit Tyran anzufreunden hatte die Ausbildung, die ihm Königin Lamia hatte zukommen lassen, erträglicher gemacht. Aber sie beide hatten für diese Freundschaft schon oft einen hohen Preis gezahlt – vielleicht würde er eines Tages zu hoch werden. Dann, wenn einer von ihnen einen Fehler beging, für den der andere bestraft werden würde, und diese Strafe mehr war, als einer von ihnen bereit wäre, im Namen ihrer Freundschaft zu ertragen. Wenn die Himmelslichter ihnen auch nur ein wenig gewogen waren, würde dieser Tag noch in weiter Ferne liegen.

Rodric legte sich den Gürtel aus schwarzem Leder an, auch wenn er in der Gegenwart der Königin keine Waffen tragen würde. Keine außer seinen Händen. Seinen Zähnen.

Er warf keinen Blick mehr in den ovalen kleinen Spiegel an seiner Wand, sondern öffnete ein weiteres Mal die Tür.

Der Weg, der ihn durch die Sklavenquartiere bis ins obere Geschoss des Kristallpalastes führte, war lang, und obwohl er es besser wusste, als Lamias Geduld überzustrapazieren, beeilte er sich nicht. Sein Zimmer lag am Ende des Ganges, von dem mehrere Abzweigungen in andere Bereiche des Kellers führten – hin zu den Lagerräumen, in denen die Unmengen der wöchentlich benötigten Speisen aufbewahrt wurden, um den Kristallpalast zu versorgen, aber auch zu den Kerkerzellen, die möglicherweise der einzige Ort hier waren, der noch mehr gefürchtet wurde als die Sklavenquartiere. Um diese Uhrzeit waren die Gemeinschaftsräumlichkeiten hier unten fast verwaist, wenn man von ein paar vereinzelten jungen Kriegern absah, die sich mit geducktem Kopf abwandten, als der Blutritter an ihnen vorüberging.

Er passierte die Schleuse aus zwei vergitterten Toren, die die Treppe nach oben freigaben. Die Tür, die er am Fuß der Treppe erreichte, hatte in Rodrics Augen immer schon die zwei Seiten des Kristallpalastes sinnbildlich widergespiegelt – die Seite, auf der er sich gerade noch befand, zeigte das massive, mahrisch behandelte Erlenholz, an dem sicher nicht wenige Ausbruchsversuche schon gescheitert waren. Die andere Seite hingegen war mit einem fluoreszierenden Silberlack behandelt worden, um den Schimmer der mit Spiegeln und Kristallen ausgestatteten Flure aufzufangen. Die Tür sah auf jener Seite aus wie jede andere im Schloss, mit einem eleganten, geschwungenen Griff und verschnörkelten weißen Verzierungen.

Es hatte keine Spezifizierung gegeben, wo Lamia ihn zu empfangen gedachte. Doch nachdem, was in Amber Hall geschehen war, konnte Rodric sich denken, dass es der Thronsaal sein würde und nicht eines der Privatgemächer. Noch nicht.

Der Korridor führte ihn zu dem säulengesäumten Gang. Zwischen jeder Säule stand einer der Wächter der Königin, genauso regungslos wie der helle Stein selbst. Rodric konnte eine leichte, kontinuierliche Erschütterung spüren, an die er so gewöhnt war, dass er sie sich nur selten bewusst machte – es war der Fluss Fion, der weiße Strom, dessen Verlauf durch das Schloss führte. Der Thronsaal befand sich auf der westlichen Seite der riesigen Palastanlage, aber hier waren sie dem Wasser so nahe, dass Rodric manchmal glaubte, die Kristalle an den Wänden zittern zu sehen.

Vor dem Thronsaal hielt er inne. Obwohl er schon Hunderte – Tausende Male über diese Schwelle getreten war, würde ihm der Anblick auch dieses Mal wieder die schreckliche Mischung von überwältigender Bewunderung und wildester Verachtung abnötigen. Für den Bruchteil einer Sekunde war er wieder der zwölfjährige Junge, der er gewesen war, als er zum ersten Mal die Wucht gespürt hatte, mit der sich die Flügeltüren hinter ihm schlossen.

Er erinnerte sich, wie ihm angesichts der Königin auf ihrem Thron der Atem gestockt hatte. Er erinnerte sich an ihr Kleid aus Seide von den Frühlingsinseln. Er erinnerte sich daran, dass ihre Hand warm gewesen war, die sie an seine Wange gelegt hatte, obwohl alles hier funkelte wie Eis. Er erinnerte sich an Schmerz.

Der Moment kam und verflog wie jedes Mal. Einer der Wächter öffnete ihm die Tür, und noch vor dem gleißenden Licht strömte als Wahrnehmung der Geruch auf ihn ein, den er noch vor wenigen Minuten mit Wasser und Seife von sich hatte abwaschen wollen. Rodric gestattete sich keinen Moment des Zögerns. Er trat ein, sich ganz auf Lamia konzentrierend.

Auch an diesem Abend trug die Königin Seide. Er kannte das Kleid und wusste, dass man es mit einer einzelnen Bewegung lösen konnte, wenn man die Elfenbeinspange herauszog, die den Stoff im Nacken schloss.

Mit einer geschmeidigen Bewegung verneigte Rodric sich.

Erst jetzt erlaubte er sich, den Blick für einen kurzen Moment auf den aus einer Vielzahl von Wunden blutenden Alb zu richten, der mit auf dem Rücken gefesselten Armen auf dem Boden vor den Stufen zum Thron kniete.

Auch ansonsten waren sie nicht allein – wie immer beobachtete der Jäger aus dem Schatten der Säulen heraus alles mit seinen kalten Augen, und ein paar vereinzelte Mitglieder des Hofes hatten sich Plätze in gebührendem Abstand gesichert.

»Rodric«, sagte Lamia mit weicher Stimme. Er richtete sich wieder auf.

»Euer Majestät«, antwortete er, die Füße schulterbreit auseinanderstellend und die Hände hinter dem Rücken verschränkend. Sie lächelte, aber er konnte ihre kalte Wut fast genauso stark riechen wie das Blut.

Lamia faltete die Hände in ihrem Schoß und legte ihren Kopf schräg. Rodric fühlte den Blick aus ihren hellen, eisblauen Augen auf sich lasten.

»Ich dachte mir, du wünschst dir sicher die Gelegenheit, mir zu erklären, was in Amber Hall geschehen ist«, sagte die Königin und wies auf den Alb, der unter seinen Schmerzen zitterte. »Du brauchst keine Sorge haben, dich zu wiederholen. Ich habe bisher nichts gehört, was mir wirklich … weiterhelfen würde, zu verstehen.«

Rodrics Augen folgten intuitiv ihrer Geste und er stellte fest, dass es sich bei dem nackten, verletzten Mann nicht um irgendeinen von Lamias Sklaven handelte. Es war Nephas, der ihr schon gedient hatte, bevor Rodric zum Kristallpalast gebracht worden war. Er war nicht ihr Schild, hatte aber seit einem knappen Jahr die Position des Marschalls inne.

Rodric ließ seinen Geist tastend über die Aura des Erdalben streichen. Die Wunden, die ihm äußerlich zugefügt worden waren, verursachten mit Sicherheit Schmerzen – Schnitte, willkürlich gesetzt, und Peitschenstriemen, die wiederum auf eine hohe Präzision hinwiesen. Rodric sah den Jäger freudlos lächeln.

Doch was den Alb tatsächlich zum Zittern brachte, war ein Schmerz, für den es keine äußerliche Heilung gab, keine Linderung. Es gab keinen Trank, den man ihm hätte geben können, keinen Zauber, den zu sprechen etwas genützt hätte. Es war die Scherbe.

Rodric streifte das Unbehagen ab, das ihn erfasst hatte, löste seine Armhaltung und trat näher auf die Königin zu.

»Der Angriff auf Amber Hall erfolgte, wie von Eurer Majestät gewünscht, vor zwei Tagen, unter der Leitung von Sir Nephas. Das Ziel war die Liquidierung der abtrünnigen Königin Marielle und die Befriedung des umliegenden Gebietes. Zu diesem Zweck hattet Ihr die Exekution von Königin Marielles Ehemann, Lord Moonfall, und die Ergreifung ihrer Tochter und des Trigons befohlen.« Rodric versuchte, in dem Gesicht der Königin zu lesen, doch Lamias Ausdruck blieb bei dem sanften Lächeln, dem nicht zu trauen er schon vor langer Zeit gelernt hatte.

»Die Hinrichtung der Verräterin wurde gemäß Eurer Wünsche durchgeführt.« Rodric fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Und Lord Moonfall fiel in einem Duell gegen Sir Malagad.«

»So hörte ich, ja«, antwortete die Königin, sich leicht vorbeugend. »Und als ich genau den gleichen Bericht von Nephas hörte, wurde mir mein Herz sehr warm, bei dem Gedanken, wie treu die Männer meines Hofes sich darum bemüht haben, die Gefahr im Süden niederzuschlagen, um Shayla Frieden zu bringen.« Sie begutachtete ihre schimmernden Fingernägel. »Als ich jedoch befahl, mir die Tochter der Verräterin bringen zu lassen, wurde ich darüber informiert, dass nicht nur sie, sondern auch der Truchsess von Amber Hall verschwunden sind.«

Ihre Stimme wurde schneidend. Rodric spürte die Wut aufflackern. Der Marschall stieß einen gequälten Laut aus. Ein dumpfes Pochen hinter Rodrics linkem Auge ließ seinen Magen sich für einen Moment zusammenziehen, bevor er die Empfindung tief in seinem Inneren versiegelte. Er trat an dem bebenden Mann vorbei, erklomm die Stufen, die zu dem Thron der Königin führten, legte eine Hand auf die steinerne Armlehne und beugte sich zu ihr herab.

»Ein kleines Mädchen und ein alter Mann«, sagte er, »… verschollen in den Wäldern von Shayla. Meine Königin … Liebste … Ich habe keine einzige mächtige Rún in Amber Hall gespürt, nachdem Lord Moonfall getötet wurde. Ihr wisst selbst, dass Königin Marielles Rún violett war. Welche Kraft mag das Kind schon haben? Und der Truchsess …« Rodric hob die Augenbrauen. »Er ist fast ein Greis, und er trägt eine fliederfarbene Flamme.« Rodric lächelte, als sein Zeige- und sein Mittelfinger den Bogen des Kiefers der Königin nachzeichneten. »Man wird sie finden. Und wenn man sie nicht findet, dann nur, weil sie längst tot sind.«

Obwohl ihre Augen ihn so sehr an Eis erinnerten, erkannte Rodric mit Genugtuung, dass sich in den Tiefen ihrer Iris etwas regte. Da war sie, die eine Schwäche, die sie nie vor ihm hatte verbergen können: Die Tatsache, dass sie sich nach der Echtheit der Begierde sehnte, die sie gerade in seinen Augen zu erkennen glaubte. Natürlich war es noch mehr als das – denn attraktive Männer gab es viele. Es mangelte ihr nicht an Auswahl, wenn sie sich einen Sklaven oder einen Gespielen aussuchen wollte.

Aber niemand außer ihm trug eine schwarze Rún, noch dazu das Schwert, das ihn als Mitglied der mächtigen Kriegerkaste auszeichnete. Das Schwarz, die stärkste Farbe, die die größte Magietiefe anzeigte – die Möglichkeit, auf einen Schlag am meisten von der Mahr zu schöpfen oder auch am längsten einen Zauber aufrechtzuerhalten, war eine seltsame Fügung des Schicksals. Es war Zehntausende von Jahren her, das zuletzt ein Alb mit einer schwarzen Rún geboren war, und in der Kriegerkaste gab es nur einen Einzigen, von dem man noch den Namen kannte: Auberon, der der Gefährte der letzten Erzkönigin gewesen war. Auch sie hatte Schwarz getragen und damit die Macht gehabt, ganz Norfaega zu regieren.

Das war heute so lange her, dass die Geschichte für die meisten zu einem Märchen verkommen war. Aber Rodric wusste wie alle, denen eine intensive Ausbildung an einem Königinnenhof zuteil geworden war, dass es sich keineswegs um ein Märchen handelte. Die Erzkönigin war real gewesen, genauso wie ihr legendärer Hof, der an eben diesem Ort, dem Kristallpalast, vor vielen Albenaltern geherrscht hatte.

Nach ihrem Tod und dem Zerbrechen des Erzhofes war Norfaega erst in drei Reiche zerfallen – in Askyan, das Sturmalbenheim im Norden, aus dem sein Freund Tyran stammte. In Shayla im Zentrum des Kontinents, das damals vor allem von Erd- und Nachtalben bevölkert worden war, bevor die Lichtalben von den Inseln kamen. Und zuletzt das südlichste Königreich Glynvail. Lange hatten sich die drei Königinnen, die damals über die drei Reiche herrschten, nicht halten können. Die Länder waren weiter zersplittert, das uralte Blut der Alben war dünner geworden, und Kriege um längst vergangene Ansprüche hatten Norfaega in viele einzelne Höfe zerfetzt.

Königin Lamia war die erste Herrscherin nach beinahe fünfzigtausend Jahren, die es geschafft hatte, so gut wie alle der elf Höfe in Shayla unter ihre Kontrolle zu bringen. Lamias Rún, der Stern, der sie als Königin auszeichnete, war silbern und hatte damit die zweitmächtigste existierende Farbe. Doch das allein war es nicht, was ihr die Fähigkeit gegeben hatte, in weniger als zweitausend Jahren zehn der Albenhöfe zu unterwerfen.

Rodric spürte, wie Lamia ihre Hand auf seine Brust legte.

»Wie gern würde ich auf diese Worte vertrauen«, schnurrte sie. »Aber du weißt genauso gut wie ich, dass ich nicht zulassen kann, dass die Bevölkerung der umliegenden Dörfer sich … Geschichten von einer überlebenden Königinnentochter erzählt. Oder riskieren, einen erfahrenen Truchsess Unruhe stiften zu lassen. Sir Malagad hat mir berichtet, große Teile des Anwesens seien zerstört worden – aber wenn ich entschieden habe, welche meiner … Freundinnen dort einziehen wird, muss es restauriert werden. Bis dahin würde sich jedes Gerede, selbst kleinstes Geflüster, von einer Erbin des Anwesens verbreiten wie … wie eine Krankheit.« Ihre Hand streichelte die Haut unter seinem Hemd.

Rodric wandte den Blick nicht von ihr ab. Sie hatte längst einen Gedanken gefasst, ein Ziel, das sie verfolgte. Ekel stieg in ihm auf, als sie die Lippen kokettierend zu einem breiteren Lächeln verzog. »Wenn es doch nur eine Möglichkeit gäbe, solche Bestrebungen im Keim zu ersticken …«, sie tippte sich mit dem langen Fingernagel an die Unterlippe.

»Eure Herolde werden mit gewohnter Härte durchgreifen und …«, setzte Rodric zum Sprechen an, gab seiner Stimme einen schmeichelnden Tonfall, doch sie brachte ihn mit einer knappen Geste zum Schweigen.

»Ich habe mir etwas Besseres einfallen lassen. Das Volk ist … schrecklich leicht durch solche falschen Hoffnungen irritierbar. Es ist meine – unsere – Pflicht, es vor den rebellischen Einflüssen so gut wie möglich zu schützen.« Rodric richtete sich langsam wieder auf. Er spürte, wie ihre Gedanken das Netz woben, welches der Grund gewesen war, warum er hier war. Warum sie Tyran, den einzigen Freund, den er je gehabt hatte, fortschicken würde. Er stieg die Stufen vom Thron herab, sich wegdrehend. Er würde ihr bei diesem Spiel nicht zusehen.

»Was meinst du, Vetis?«, fragte sie und der Jäger löste sich von seinem Platz im Schatten. Er war der einzige Lichtalb, den Rodric kannte, der sich das Haupthaar rasierte. Die helle Haut glänzte unter dem Licht des Thronsaals, bis hin zu den weißen, gedrehten Hörnern.

»Mylady?« Er verneigte sich tief vor ihr.

»Ich möchte deine Meinung hören, Vetis. Denkst du, das Volk ließe sich … beruhigen, wenn wir ihm die Leichen der letzten Mitglieder des rebellischen Hofes präsentieren?«

»Mit Sicherheit, Herrin«, erwiderte Vetis. »Das Kind ist zu jung, um eine vollständige Rún zu tragen. Welches Zeichen sie einmal erhalten wird, ist noch nicht bestimmbar. Aber eine Erbin des Anwesens lebendig herumlaufen zu lassen wäre für den nächsten Regenten von Amber Hall nicht vorteilhaft, Mylady.«

Rodric drehte sich herum, das Kinn leicht anhebend. »Ich bin sicher, Eure Männer betreiben bereits jeden erdenklichen Aufwand, um das Kind und den Truchsess zu finden.«

Lamia nickte. »Das tun sie, ganz bestimmt. Aber ich denke, ich möchte dennoch den sichersten Weg wählen. Wenn wir nur – eine Kinderleiche hätten.« Ihr Lächeln vertiefte sich. Rodric spürte, wie selbst die tuschelnden Höflinge stiller wurden.

Eine Kinderleiche zu beschaffen stellte sich nicht als schwierig dar – viele Kinder hatten den Herbst in Val Thalas, der Kristallstadt, über die der Palast herausragte, nicht überlebt, zu knapp waren die Nahrungsmittel für den Pöbel auch in diesem Jahr geworden. War es das? War das die schmutzige Aufgabe, die sie dieses Mal für ihn bestimmt hatte? Hinabzusteigen in die Straßen, die nichts mehr von dem silbernen Glanz trugen, weil jener längst weggewaschen worden war von Regen, Blut und Tod? Und dort einer der Hüterinnen für zwei Münzen die Leiche eines verhungerten Mädchens abzukaufen, den Lamia zur Unkenntlichkeit verbrennen und als die verschollene Königinnentochter ausgeben konnte?

Lamia blickte Rodric an, prüfend, als suche sie etwas in seinem Ausdruck. Sie löste ihre Augen nicht von ihm, als sie weitersprach.

»Nephas«, ihre Stimme war ein sinnliches Schmeicheln, »wie alt ist eigentlich deine Tochter?«

Das Geräusch, das sich der Kehle des knienden Alben entrang, jagte einen Schauer über Rodrics Rücken. Rodric spürte, wie Kälte sich um sein Herz schloss.

»Meine Königin, Euer Majestät, Königin Lamia …« Nephas schaffte es, seine Stimme weit genug zu festigen, um zu sprechen, und er rutschte auf den Knien näher an die Stufen des Thrones heran. »Ich flehe Euch an … Bitte …«

»Sie hat das richtige Alter, nicht wahr, Vetis?«

Der Jäger nickte.

Der Marschall, der keiner mehr war, heulte in wildem Protest auf.

Sinnlos. Rodric hätte es ihm sagen können, dass kein Wort, keine Bitte, kein Flehen die Königin jetzt noch würde umstimmen können. Aber Nephas wusste dies selbst, er hatte ihr länger gedient als Rodric, wenn auch auf andere Weise. Dennoch verklang sein Betteln nicht. Rodric nahm die Hände wieder hinter den Rücken, umschloss fest sein eigenes Handgelenk, an dessen Unterarm er die schwarze Rún glimmen fühlen konnte.

Die Königin überschlug die Beine. Die Wut war verflogen. Rodrics Raubtiersinne witterten Zufriedenheit.

»Du wirst Nephas’ Tochter herholen, Rodric«, sagte sie so sanft, als hätte sie ihn gebeten, ihr ein Glas Wein einzuschenken. »Und dann wirst du sie verbrennen. So eine Aufgabe kann ich keinem anderem als meinem Blutritter anvertrauen.« Sie verzog die Lippen zu einem spöttischen Lächeln. Rodric glaubte, seinen eigenen Arm so fest zu drücken, dass der Knochen zerbrechen müsste.

»Und du, Nephas, du solltest dir überlegen, wie du dich bei mir dafür bedanken möchtest, dass ich dir die Gelegenheit gebe, dass jemand dein Versagen korrigiert«, fügte sie hinzu. Rodric hatte genug gehört. Er würde nicht bleiben wie die anderen Höflinge, die danach gierten, zu erleben, wie mit einem der ihren verfahren wurde, der in Ungnade gefallen war.

Rodric verneigte sich knapp und drehte sich um. Flucht, bevor er das Schwarz entfesselte. Flucht, bevor sie die Scherbe einsetzte.

Er vernahm raschelnde Seide, als sie sich erhob.

»Rodric!« Ihre Stimme fuhr wie ein Peitschenschlag auf ihn nieder. Er hielt inne, ohne sich zu ihr umzudrehen. »Wenn du darüber nachdenken solltest, mit welcher Hingabe du meine Befehle in Zukunft ausführen möchtest, dann vergiss nicht, dass ich aus reiner Güte für die Leiche des Truchsess nicht den askyanischen Rotschopf gewählt habe.« Ihre Worte drangen bedrohlich tief in seinen Verstand ein. Rodric schwieg und stieß die Flügeltüren auf, bevor sie ihm geöffnet werden konnten.

Das Zeichen der Erzkönigin

Подняться наверх