Читать книгу Das Zeichen der Erzkönigin - Serena J. Harper - Страница 25
Rodric
16
ОглавлениеRodric warf nur einen kurzen Blick auf die kleine Notiz, die ihm einer der Diener gebracht hatte, bevor er sie zerknüllte und in seiner Handfläche in Flammen aufgehen ließ.
Eure Anwesenheit wird erbeten.
Es war keine Bitte. Er war sich nicht einmal sicher, wieso Lamia überhaupt eine schriftliche Botschaft geschickt hatte, anstatt ihn einfach holen zu lassen. Möglicherweise war ihr Zorn so weit abgeklungen, dass sie für den Rest des Hofes wieder ein wenig den Schein aufrecht erhalten wollte, er diene ihr zumindest teilweise aus freien Stücken. Die Wahrheit kannte jeder. Er war keiner ihrer Herolde und auch ansonsten kein Mitglied ihres Hofes – ihre Befehlsgewalt generierte sich nur über das unangenehme Ziehen hinter dem Glaskörper seines linken Auges.
Es war noch recht früh am Morgen, aber Rodric war schon seit mehreren Stunden wach. Er hatte bislang nichts Neues von Tyran gehört. Das allein war kein Grund zur Sorge – Tyran nahm nur selten die Feder in die Hand, um Briefe zu schreiben, und selbst wenn er es tat, war nie sicher, ob sie zugestellt oder doch konfisziert wurden; entweder an dem Hof, an dem er diente, oder von Lamia selbst. Als Rodric einen Blick durch die Fensterscheiben nach draußen warf, an deren Rändern der Frost begann, Blumen zu malen, wünschte er sich dennoch, er wüsste, ob die Königin Elnesta tatsächlich ihren Ruf verdiente.
Vor Lamias Gemächern stand – wie konnte es auch anders sein? – der Jäger, die Arme vor dem Körper verschränkt. Er hielt einen konstanten Schild vor dem Eingang zu ihrem Schlafzimmer aufrecht. Natürlich konnte sein Kobaltblau Rodric nicht aufhalten, doch für die niedrigeren Farben stellte es eine gewisse Herausforderung dar.
Doch noch bevor er die Tür öffnen konnte, legte Vetis ihm eine Hand auf die Brust, um ihn zu stoppen.
»Lass mich deine Augen sehen, Junge«, sagte er.
Selbst nach all den Jahrhunderten hatte Rodric sich nicht an die Stimme, Eisen und Sandpapier, gewöhnt. Er hatte einmal gehört, der Jäger habe einen Dolch auf sehr unglückliche Weise mit seiner Kehle abgefangen, der eigentlich für Lamia bestimmt gewesen war. Er hatte überlebt, doch das Kratzen seiner Stimmbänder war geblieben.
Vetis griff unwirsch nach Rodrics Kiefer, um sein Gesicht in das silbrige Licht zu drehen.
»Ich kann immer noch das Blut sehen. Du wirst dich noch eines Tages umbringen mit deiner … Arroganz.«
»Vorsicht, Vetis«, antwortete Rodric spöttisch, wobei er sich aus seinem Griff wand. »Sonst glaubt noch jemand, du machst dir Sorgen um mich.«
»Ich mache mir Sorgen, es nicht selbst sein zu können, der dir eines Tages das Fleisch von den Knochen schält.«
Rodric verneigte sich mit übertriebener Höflichkeit und drückte dann die Türen auf. Anders als er erwartet hatte, war Königin Lamia nicht allein.
Sie hatte sich auf ihrer Chaiselongue ausgestreckt, und auf der Höhe ihrer Füße lümmelte der Lichtalbenjüngling, der sie bereits zur Hinrichtung begleitet hatte. Der junge Aristokrat ließ seine Hand auf ihrem Fußknöchel ruhen. Seine Selbstsicherheit war noch da, stellte Rodric fest, doch hatte er dieses Spiel zu häufig gesehen, um nicht die kleinen Erschütterungen im Geist des jungen Mannes erfühlen zu können. Er hatte bisher nur leicht von dem Gift genippt, das jede Beziehung zu Lamia bedeutete, aber über kurz oder lang würde es ihn genauso zerstören wie jeden anderen.
»Ah, Rodric«, sagte Lamia mit gespielter Überraschung und streckte sich.
Rodric klinkte die Daumen in seine Gürtellaschen.
»Euer Majestät.«
Das Schlafzimmer stank nach Wein, Sex und Blut, gerade genug, um wahrnehmbar zu sein. Die Königin trug nicht viel mehr am Leib als ihren seidenen Morgenmantel.
Lamia betrachtete ihn, als wartete sie auf eine Reaktion. Als jene ausfiel und Rodric schweigend stehen blieb, richtete sie sich mit einem gereizten Seufzen auf.
»Du kannst uns allein lassen, Liebling«, sagte sie zu dem Lichtalben. »Ich muss mit meinem Blutritter einige unangenehme Dinge besprechen. Wieso gehst du nicht etwas … frühstücken, und ich lasse nach dir später rufen?« Ganz gleich, welche Antwort der Mann hätte geben wollen, sie versiegelte seine Lippen mit einem Kuss und einem Blick, der keinen Zweifel daran ließ, dass dies ebenso wenig ein Vorschlag gewesen war wie ihre Notiz zuvor eine Bitte.
Er erhob sich und richtete sich umständlich die Kleidung, bevor er an Rodric vorbeistolzierte und die Tür geräuschvoll schloss. Rodric sah ihm nicht hinterher.
»Es steht nicht zum Besten um deinen Geschmack, Liebste.«
Lamias Augen glitzerten. Sie beugte sich vor, griff nach ihrem Weinpokal und schwenkte ihn.
»Eifersüchtig?«, fragte sie.
Rodric lachte auf. Selbst in seinen eigenen Ohren klang das Lachen kalt. Er näherte sich der Königin des Kristallhofes.
»Weil du dich von einem dummen Jungen besteigen lässt und hier eine kleine Scharade aufführst?«, höhnte er. »Ja, natürlich, Liebste. Ich bin furchtbar eifersüchtig.«
Beinahe glaubte er, sie würde den Kelch nach ihm werfen wollen. Stattdessen sah er nur, wie ihre Finger sich fester darum schlossen.
»Wein für Sir Blackthorne«, befahl sie und ein Sklavenmädchen mit weißer Rún, das sich im Nebenzimmer aufgehalten haben musste, huschte herbei, um auf das kleine Tischchen vor der Chaiselongue einen weiteren Becher zu stellen und ihn zu füllen. Rodric nahm in einem der Sessel Platz, sank tiefer in die Polster und stellte einen Fuß an die Kante des Tisches.
»Deine Manieren lassen heute zu wünschen übrig«, bemerkte Lamia spitz. »Ich hoffe doch, du bist nicht schlecht gelaunt wegen der kleinen … Lektion, die ich dir neulich erteilen musste.«
Seine Scherbe vibrierte.
Rodric nahm sich den Wein und trank, zwei, drei tiefe Schlucke.
»Gibt es einen Grund, wieso du nach mir hast schicken lassen? Denn wenn nicht, würde ich es vorziehen, dich wieder deinem Gespielen zu überlassen. Er ist sicher eifrig bei der Sache, nicht wahr? Eine Königin ist mal eine Abwechslung für den Aristokratenbengel, anstatt wie üblich verängstigte Sklavinnen über einen Tisch zu beugen.«
Das Geräusch, das Lamias Kehle verließ, war so voller Wut, dass in Rodric süße Befriedigung aufstieg. Sie war schön, wenn sie wütend war. Sie würde noch schöner sein, wenn er ihr eines Tages das Genick brach.
Doch als sich zu der kobaltblauen Aura vor der Tür eine weitere der gleichen Stärke gesellte – Rodric hätte diese unter tausenden erkannt – gefror das Lächeln auf seinen Lippen.
Schlampe. Miststück.
Das Gesicht der Königin hellte sich auf. Sie wickelte ihren Morgenmantel fester um ihre hübschen Rundungen, obwohl Rodric bezweifelte, dass es daran etwas gab, was der Mann, der nun von dem Jäger hineingelassen wurde, noch nicht gesehen hatte. Rodrics Kehle fühlte sich trocken an, als hätte er eben nichts getrunken.
»Lord Vaharél!«, begrüßte Lamia seinen Vater, der mit schnellen, zielstrebigen Schritten ihre Chaiselongue erreichte und sich zum Handkuss beugte. Hinter ihm kam mit gesenktem Kopf ein Sklave herein. Rodric warf einen gelangweilten Blick über seine Schulter. Der Sklave trug Mahrilliumschellen an Füßen und Händen, und an seinem vorsichtigen Gang war für Rodric leicht abzulesen, dass man ihn ausgepeitscht hatte – vermutlich seine untere Körperhälfte. Zwischen seinen Händen hielt er eine Truhe, was ihn offensichtlich einige Anstrengung kostete, denn die Muskeln seiner nackten Arme zitterten.
»Willst du deinen Vater nicht begrüßen, Rodric, Liebster?«, fragte die Kristallkönigin.
»Lord Vater.« Rodric hob den Pokal und neigte den Kopf. Er wusste, sein Tonfall war bar jeden Gefühls. Beinahe hätte er geschmunzelt. Eigentlich hätte dies doch ganz nach dem Geschmack von Lord Raldevas Vaharél sein müssen.
Der Herr von Thornehold sah ihn an, als erwöge er, ob Rodric den Atem, den er für einen Gruß brauchen würde, tatsächlich wert sei. In seiner Gegenwart zu sein – dem Mächtigsten unter Königin Lamias Herolden, der nicht zu ihrem Trigon gehörte – war über die Jahrhunderte nicht einfacher geworden.
Rodric waren die Geschichten über die Gefühlskälte seines Vaters bekannt; die Furcht der Alben und Menschen, die ihm dienten, vor seiner stoischen Art, vor dem Gleichmut, der jedoch nie vor drakonischen Strafen schützte. Lange Zeit hatte er von sich selbst geglaubt, dass es auch bei ihm diese Erzählungen waren, die ihm solches Unbehagen in der Gegenwart des Lords bereiteten.
Mittlerweile wusste er es besser.
Es waren die Augen, seine Augen, das tiefe, außergewöhnliche Violett, das ihn aus einem anderen Gesicht anblickte. Lord Vaharél war noch immer ein attraktiver Mann mit dem Körper eines Kriegsherrn, obwohl er Goborns Flamme als Rún trug. Im Gegensatz zu Rodric, dessen schwarzer Bart mehr als nur ein Schatten war, war Lord Vaharél glatt rasiert und trug nach lichtalbischer Mode sein weißblondes Haar lang und akkurat geschnitten.
Mehr als ein knappes Nicken erhielt er von dem Mann nicht, aus dessen Samen er einst entsprungen war. Stattdessen wandte jener sich wieder der Königin zu.
»Ich komme mit Neuigkeiten und mit den Gegenständen, nach denen Ihr verlangt habt, Eure Majestät«, begann er, wobei er auf die Truhe in den Armen des Sklaven wies. »Darf ich …?«
Er wartete einen bestätigenden Blick von Lamia ab, bevor er dem Gefangenen die Truhe abnahm und sie auf den Tisch vor der Chaiselongue stellte. Er ließ das Schloss aufschnappen und hob den Deckel.
»Mhm«, machte die Königin, die Hand um die Öffnung ihres Morgenmantels geschlossen, und richtete sich auf, um den Inhalt der Truhe begutachten zu können.
Sie griff hinein und hob mit beiden Händen ein Diadem heraus. Rodric erkannte helles Silber, aus dem ein Reif aus Sternen und Monden geformt worden war. In die Öffnungen der stilisierten Himmelskörper waren Bernsteine eingesetzt. Einen Moment spürte Rodric den Pulsschlag seines Herzens unangenehm hart bis hinauf zu seiner Kehle, als er die feine Blutspur auf den Steinen erkannte.
Lamia legte das Diadem beiseite und griff ein weiteres Mal in die hölzerne Kiste, um ein Zepter zutage zu fördern, um dessen Spitze sich die gleichen Bernsteingestirne wanden. Damit war offensichtlich, dass es sich nicht um normale geraubte Schätze handelte – sondern um die einzigen, die für eine Königin, die den Hof einer anderen zerschlagen hatte, von echter Bedeutung waren.
»Wenn Ihr erlaubt«, sagte Lord Vaharél und schlug den Samt der Truhe beiseite, um von weiter unten den letzten Gegenstand herauszuholen; ein Schwert von sicherlich beachtlichem Gewicht, obwohl es dazu gemacht worden war, nur mit einer Hand geführt zu werden. Wie das Diadem und das Zepter zuvor war auch die Waffe mit Bernsteinen besetzt. Raldevas Vaharél drehte das Schwert so, dass er der Königin den aufwendig verzierten Griff präsentieren konnte.
Und da waren sie, die Insignien der Königin von Amber Hall. Diadem, Zepter und Schwert. Rodric wusste, dass diese drei Gegenstände bei jeder Hofgründung eine essentielle Rolle spielten. Dabei war es gleichgültig, ob die Königin später ein Dutzend andere Kronen tragen würde oder ein anderes Zepter schwang – ohne diese drei Insignien konnte eine Hofgründung nicht vonstattengehen. Der Mythos der Himmelslichter sah vor, dass, wenn mindestens elf Männer sich versammelt hatten, die bereit waren, einer Königin zu dienen, drei von ihnen als die wichtigsten Grundpfeiler des Hofes bestimmt wurden. Ein Krieger, ein Seher, ein Wächter. Der Krieger, der daraufhin den Titel des Schildes erhielt, und mit seinem Leben das der Königin schützte, überreichte ihr mit dem Schwert, in das bei dem Schmiedeprozess üblicherweise seine Mahr geflossen war, die Befehlsgewalt über sich und jeden anderen Mann, der ihr den Heroldsschwur leistete. Die Königin, die selbst nie in einen Krieg ziehen würde, bekam so die Macht, die territoriale Aggressivität, die jeder Albenmann spürte, auf den Hof zu konzentrieren und jeden Herold zu Verteidigung – und Angriff – einzusetzen, wie es ihr beliebte.
Der Seher, der den Titel Druide führte, wob seine Mahr in ein Zepter. Seherzepter und Königinnenzepter unterschieden sich, so viel wusste Rodric – allein deswegen schon, weil Seher Fähigkeiten besaßen, die keine Königin haben konnte. Doch ein Zepter diente vor allem dazu, die Macht der Rún zu bündeln. Ganz gleich, wie mächtig eine Königin war: Mit einem Zepter, das von einem mächtigen Seher geschaffen worden war, wurde ihre Macht fokussierter. Deutlicher. Stärker. In Friedenszeiten war dies nicht unbedingt von Belang. In Phasen von Konflikt hingegen schon.
Zuletzt blieb das Diadem, das der Königin von dem Wächter, den sie zu ihrem Truchsess bestimmt hatte, verliehen wurde. Offenkundig das deutlichste Zeichen der Herrschaft einer Königin, besaß es für gewöhnlich keine besondere Macht außer Schutzzaubern, die vom Wächter hineingesponnen wurden.
»Wo waren sie?«, erkundigte Lamia sich.
»Im Schlafgemach des Gefährten.«
Rodric streckte die Hand mit dem Kelch aus und das Sklavenmädchen huschte näher, ohne dass es einer größeren Aufforderung bedurft hatte, und schenkte ihm nach.
Der Gefährte. Es war eine merkwürdige Position – kein Teil des Trigons, doch gebunden durch den Heroldsschwur. Früher, so hatte Rodric es von anderen gehört, war der Gefährte zumeist der mächtigste Mann eines Hofes geworden, eng verbunden mit dem Trigon. Sein Wort war in Abwesenheit der Königin bindend. Er war ihre vollstreckende Gewalt; mehr als ein Marschall, mehr als ein Truchsess.
Er ist die Klinge vor dem Schild. Der Richter vor dem Druiden. Der hohe Lord vor dem Truchsess.
Doch das waren alte Verse aus dem Mythos der Himmelslichter. Es gab nicht mehr viele, die sich daran überhaupt erinnerten. Und noch weniger, die sich daran hielten. Heute war der Gefährte ein austauschbarer Bettgenosse, mit dem man Allianzen schmieden konnte, wenn man sich geschickt anstellte.
Oder im umgekehrten Fall: Der Gefährte war so mächtig, dass die Königin nur dem Namen nach regierte. Rodric wusste von mindestens drei Höfen in Shayla, die nach außen hin zwar eine Königin hatten. Diese trugen aber keine starken Farben – und es waren ihre Gefährten und Ehemänner, die in ständiger Verbindung zu Königin Lamia standen.
Rodric musterte seinen Vater.
Lord Raldevas Vaharél war eine besondere Ausnahme, denn er hatte von Königin Lamia die Erlaubnis bekommen, den Sitz seiner Familie, Thornehold, ohne eine Königin als Marionette zu halten. Er herrschte dort uneingeschränkt als Lord Protektor des Nordens, wenn man von den regelmäßigen, aber seltenen Berichten an die Herrin von Shayla absah. Seine Frau, die Lady von Thornehold, trug nur den Kreis und gehörte somit keiner außergewöhnlichen weiblichen Kaste an. Dafür war ihre Blutlinie alt wie die der Vaharéls und fast noch wohlhabender gewesen. Rodric verzog das Gesicht. Die arrangierte Ehe seines Vaters und seiner Stiefmutter war wohl weitgehend zu ihrer beider Wohl gewesen und hatte zu zwei Kindern geführt.
Und, auf Umwegen zumindest, auch zu Rodric selbst.
Selbst die Frühlingsinseln wurden mittlerweile von Marionettenköniginnen und männlich besetzten Räten regiert. Das einzige Territorium, in dem die Zustände noch fast genauso waren wie zur Zeit des Alten Rechts, war Glynvail im Süden. Zumindest erzählte man das. Die Spione, die Königin Lamia entsandte, kamen selten mit Neuigkeiten zurück. Die meisten schafften es kaum über die Grenze. Rodric wusste nicht einmal mit Sicherheit, wie viele Königinnen in Glynvail herrschten.
»Ist es zu großem Widerstand in der Bevölkerung gekommen?«, wollte die Königin wissen. Noch bevor sie ihren Satz vollendet hatte, schüttelte ihr Herold den Kopf.
»Nicht mehr, als wir erwartet hätten, Euer Majestät. Mein Sohn hat in den vergangenen Tagen für Ordnung gesorgt. Sein Bericht ist bislang zufriedenstellend. Es bleibt nur die Frage …«
»Ja?«
»Die Frage, wer Amber Hall nun erhalten soll. Durch das Feuer sind größere Renovierungsarbeiten notwendig, doch würde das Haus Vaharél …«
»Nein.« Die Stimme der Königin brachte Rodric zum Lächeln. Ihr Nein beendete jede Diskussion, bevor Lord Vaharél ihr seinen sicher wohldurchdachten Plan, ein Mitglied seiner Familie in Amber Hall einzusetzen, näher bringen konnte. Der Herold schwieg. Ein harter Zug bildete sich um seine Lippen, doch Rodric wusste, dass dieser Unmut leicht durch eine angemessene Entlohnung besänftigt werden würde.
Die Königin erhob sich und der Herold machte respektvoll einen Schritt zurück. Rodric folgte ihr mit seinem Blick, als sie dem Sklavenmädchen die Karaffe aus der Hand nahm und einen sauberen Pokal mit Wein füllte.
»Ihr kennt mich, Raldevas«, sagte sie sanft. »Treue bleibt nie unbelohnt. Und Ihr und Euer Haus seid ein Beispiel der Loyalität, das seinesgleichen sucht. Auch ist mir bewusst, dass besonders Sir Malagad sich hervorgetan hat. Er muss Euch sehr stolz machen.«
Lord Vaharél verneigte sich leicht, gab aber keine Antwort. Die Kristallkönigin reichte ihm den Kelch.
»Ich werde diese Taten nicht vergessen, Lord Vaharél. Eure nicht und auch die Eures Sohnes nicht. Aber Amber Hall ist, wenngleich einer der traditionellen elf Höfe, nicht der Ort, an dem ich Sir Malagad sehe. Er ist jung, Mylord.« Ihr Blick fand Rodric. »Es liegen wenige Jahre zwischen dem Geburtstag Eures Erben und dem Eures Bastards, nicht wahr, Raldevas?«
»Kaum drei«, gab Lord Vaharél zur Antwort.
»Zwei«, korrigierte Rodric ihn. »Mein legitimer Halbbruder ist zwei Jahre älter als ich.«
Nicht einmal für die kurzlebigen Menschen spielten zwei Jahre eine Rolle – wie sollten sie dann für Alben relevant sein, die fünftausend Jahre alt werden konnten? Es gab nur eine Zeit, in der zwei Jahre ausschlaggebend waren – bis zu dem Zeitpunkt, wenn die Initiation stattfand und die Rún sich vervollständigte. Da es bei männlichen Alben immer mit zwölf geschah, hatte Malagad zwei Jahre vor ihm an Beltâne das Zeichen des Kriegers erhalten. Es war eine der letzten Erinnerungen von Rodric, die noch in Thornehold stattgefunden hatten. Nur wenige Wochen später war er zur Ausbildung in den Kristallpalast gebracht worden.
Bis zu dem Erreichen des Erwachsenenalters floss für Alben und Menschen die Zeit beinahe gleich schnell. Was darauf für die Menschen folgte, war ein Wimpernschlag auf dem Angesicht Norfaegas im Vergleich zu den Jahren, die ein Alb leben konnte. Sofern ihn nicht vorher die Kriege, die den Kontinent erschütterten, dahinrafften. Mit seinen über siebenhundert Jahren befand sich Rodric in der Phase, in der Menschen, die rechnen konnten, ihn zu den jungen Alben zählten – doch waren dies Maßstäbe, die für keinen Alb je eine Rolle gespielt hätten. Er hatte sieben Jahrhunderte gedient. Sieben Jahrhunderte Kriege geführt, Blut vergossen. Er hatte jeden einzelnen Tag davon erlebt.
Er war nicht jung, nicht in dem Sinne, wie es ein Mensch meinen würde, der seine gelebte Lebenszeit ins Verhältnis zu der erreichbaren setzte. Er hatte aufgehört, jung zu sein, als die Scherbe sich in seinen Sehnerv gebohrt hatte.
»Es wird für Sir Malagad andere Gelegenheiten geben. Bessere«, versprach die Königin. Obwohl Rodric nicht durch die Augen seines Vaters blicken konnte, ahnte er doch, was dieser sah, als er sich verneigte – eine Königin, der zu glauben ihm nicht schwerfiel. Der Bund, den er und Vetis und Männer wie Lord Penrose und Lord Cranner zu Lamia eingegangen waren, zeigte sich beinahe sichtbar zwischen ihnen. Es war eine außergewöhnliche Spannung zwischen einem Alb, der seine Königin gefunden hatte, und der Frau, der er dementsprechend die Treue geschworen hatte.
Rodric hatte es noch nie gefühlt. Oberflächlich, natürlich, das schon. Er nahm den Zug wahr, der von fast jeder Königin ausging, aber keine hatte ihn je gerufen.
Und bei den Himmelslichtern, er war dankbar darüber. Er brauchte nicht zusätzlich zu der Scherbe in seinem Kopf noch eine in seinem Herzen, die ihn einer dieser verdorbenen Miststücke untertan machen würde.
»Wie steht es um Thorneholds nordwestliche Grenzen?« Die Königin ließ sich zurück auf den Diwan fallen.
Verdammt. Sie trug tatsächlich nichts unter ihrem Morgenmantel.
Rodric tastete nach dem Etui, das er bei sich trug. Es war ein schlichtes silbernes Schächtelchen, in dem er die feinen Papierecken und die Neumondblätter aufbewahrte.
»Wir haben sehr große Erfolge erzielen können, Eure Majestät. Bei einem der Angriffe der Rebellen konnten wir einen von ihnen gefangen nehmen und verhören, sodass wir über weitere Überfallspläne informiert waren. Mein Marschall, Sir Morholt, führt ein kleines Kommando von zwanzig guten Männern an und konnte eines der Verstecke der Aufständischen aufspüren«, antwortete Lord Vaharél, während Rodric die Zigarette drehte.
Sir Morholt. Dieser Drecksack war nicht viel mehr als ein Schlächter.
Er befeuchtete das Papier, indem er mit der Zunge entlangfuhr, und entzündete die Zigarette im gleichen Moment mit dem feinen Funken Albenfeuer, den er an seiner Zungenspitze aufflackern ließ. Die Königin warf ihm einen kurzen Blick zu.
Sie erinnerte sich vermutlich an das alberne kleine Kunststückchen, das er sich beigebracht hatte, aus … anderen Situationen.
»Vor etwa einem Monat konnten wir die Männer, die unter ihren Gefolgsleuten als das Zwillingsblau von Askyan bekannt sind, gefangen nehmen. Wie schon in der Vergangenheit hat Königin Elnesta Interesse bekundet, sich Oakwrath dauerhaft behalten zu können.«
»Spricht von Eurer Seite etwas dagegen? Braucht Ihr sie für Thornehold?«
Lord Vaharél verzog das Gesicht, als wäre die Frage eine grauenhafte Unterstellung.
»Mir fallen wenige Situationen ein, in denen ich Bedarf für zwei ungehobelte Askyaner haben könnte.«
»Dann soll es so sein.« Die Königin hob ihre Augenbrauen. »Ich bin froh, wenn ich möglichst wenig von den Beschwerden dieser … unfähigen Frau höre. Aber mit drei neuen Askyanern wird sie zu viel zu tun haben, um mich zu belästigen.« Als sie den fragenden Blick ihres Herolds sah, fügte Lamia erklärend hinzu: »Ich habe Tyran Stormblood an sie verliehen. Ich war der Meinung, es wäre förderlich für den … Frieden hier in Val Thalas, dass meine zwei größten Unruhestifter nicht permanent zusammen sind.«
Rodric sog den Rauch tief in seine Lungen und ließ ihn dann langsam entweichen. Wenn das stimmte, was sie sagte, dann war Tyran in Oakwrath nicht allein, sondern würde auf Sturmalben seines Clans treffen.
Die Aussicht darauf, was das bedeutete, versetzte ihn schlagartig in bessere Stimmung. Die Königin schmeckte die Veränderung seiner Signatur aus der Luft heraus und schien darüber keineswegs erfreut. Sie schloss die Truhe und legte die Hände aneinander.
»Ihr könnt nun gehen.«
Rodric beobachtete, wie sein Vater sich verneigte, war selbst aber nicht sicher, ob auch er gemeint gewesen war.
»Rodric«, sagte Lamia, »du wirst heute Abend an der Bestrafung der gefassten Rebellen teilnehmen. Ich möchte meine Warnung in aller Deutlichkeit wiederholen. Wenn ich heute Nacht auch nur den geringsten Hauch von Widerstand spüre, wird dein Sturmalb die Konsequenzen tragen.«
Erst als sie ihm mit einem Wink zu verstehen gab, dass er sich erheben durfte, kam er auf die Beine und schob die freie Hand in seine Hosentasche, um aus dem Raum zu schlendern. Er verneigte sich nicht. Er sah sie nicht mehr an. Es kostete ihn jede Unze Selbstbeherrschung, die er hatte, um sich nicht auf sie zu stürzen.
Vor der Tür wartete sein Vater auf ihn, ins Gespräch mit dem Jäger vertieft, dem er den Sklaven aushändigte, der die Truhe für ihn hereingetragen hatte.
Lord Vaharél winkte ihn zu sich heran, ohne seinen Satz zu unterbrechen oder den Blick von seinem Gesprächspartner zu lösen.
»Unsere Befragungen waren nicht so aufschlussreich, wie wir es uns gewünscht hätten«, sagte er gerade zu dem Jäger.
»Ich werde Lord Penrose bitten, sich darum zu kümmern«, antwortete dieser und lächelte schmallippig.
Erst jetzt nahm Rodric sich die Zeit, den Sklaven eingehender zu mustern. Er kam ihm bekannt vor, doch woher? Der Jäger beantwortete seine unausgesprochene Frage:
»Vor dir steht der Schild der Königin von Amber Hall. Viel mehr hat er allerdings nicht preisgegeben.«
Der Schild der Königin – ja, Rodric erinnerte sich. Der Mann vor ihm hatte jedoch kaum Ähnlichkeit mit den stolzen Kriegern, die versucht hatten, den Hof der Bernsteinkönigin zu verteidigen. Sie waren ihnen gnadenlos unterlegen gewesen, doch das hatte sie nicht daran gehindert, alles in ihrer Macht Stehende zu tun. Der ehemalige Schild der Königin, der an seiner wichtigsten – seiner einzigen – Aufgabe so offensichtlich gescheitert war, sah Rodric nicht an. Er sah niemanden an. Seine Augen waren zu braun, als dass seine Linie aus reinen Nachtalben bestehen konnte; irgendwo hatten sie sich mit Erdalben gemischt. Dementsprechend war es kein Wunder, dass Lamia die Familie, die in Amber Hall residierte, für weniger wert hielt als die noblen Licht- und Nachtalben, die sie bevorzugte.
Den Mann Lord Penrose zu überlassen würde bedeuten, dass von seinem Geist nicht mehr viel übrig blieb, sobald jener darin gewildert hatte. Als Seher und Königin Lamias Druide war er imstande, in den Erinnerungen und Gedanken eines anderen zu lesen, doch war der Prozess für das Opfer unangenehm bis schmerzhaft, und nach Grad der Gegenwehr höchst riskant.
Nicht immer kamen dementsprechend tatsächlich sinnvolle Informationen heraus.
Vetis rief zwei Krieger herbei, die den Sklaven zusammen mit ihm zurück in die Kerker eskortierten. Lord Vaharél sah ihm hinterher, bevor er sich Rodric zuwandte.
»Das Ganze ist ein schönes Fiasko. Ich will wissen, wo der Truchsess ist – und das Kind. Sie wurden in einem Dorf gesehen, doch als dein Bruder dort ankam, fand er sie beide nicht. Ich vermute, es handelt sich um einen Trick der loyalen Dorfbevölkerung.«
»Hat irgendjemand überlebt?«, erkundigte Rodric sich.
Lord Vaharél lachte auf. »Ich sagte doch, dein Bruder war dort.«
Ja, dachte Rodric trocken, das sagt vermutlich alles.
Auch Rodric wandte sich zum Gehen, doch bevor er an ihm vorbeitreten konnte, legte Lord Vaharél ihm die flache Hand auf die Brust. Rodric hielt inne.
»Mir ist gleich, wie viel du Königin Lamia und ihren Schergen erzählt hast, Rodric. Aber ich will die Details kennen. Malagad sagte mir, du hast ihn in Amber Hall aufgehalten.«
Rodric senkte den Blick auf die Hand, bis sein Vater sie fortnahm. Er schob sich die Hemdsärmel hob und lehnte sich an die Wand des Korridors.
»Das ist richtig. Ich habe ihn daran erinnert, dass er eine Pflicht zur erfüllen hat, bevor er sich um seine Interessen kümmern kann. Und ich denke, das war in Eurem Sinne, Lord Vater.«
Lord Vaharél wollte antworten, doch Rodric war schneller:
»Nein, ich unterstelle Euch kein Mitgefühl für ein kleines Mädchen, Mylord, denn ich kenne Euch, und Mitgefühl ist Euch so fremd wie mir Bescheidenheit.« Rodric lächelte. »Eure Sorge gilt dem Ruf der Vaharél. Ihr seid völlig damit einverstanden, dass man über Sir Malagad Vaharél in den Hurenhäusern spricht. Dass er mit seinen Freunden seine Spiele mit den Mägden und Töchtern der Bauern spielt. Ihr könnt darüber hinwegsehen, so, wie Ihr darüber hinwegsehen konntet, als er damals Lady Vaharéls Katze aufgeschnitten hat. Und da war er gerade einmal acht.« Rodric hob leicht die Schultern an. »Ihr wollt nur nicht, dass er bei den noblen Familien Shaylas als ein unberechenbares Risiko gilt, sobald Ihr eine Allianz schmieden müsst. Und dass Ihr das müsst, wissen wir beide.«
Raldevas Vaharél musterte ihn kalt.
»Zumindest brauche ich mir keine Sorgen machen, dass die Taten des Blutritters meinen Namen beflecken. Sir Rodric Blackthorne nennen sie dich.«
Rodric fuhr sich mit dem Daumen über die Unterlippe.
»Ein simples Wortspiel auf meine Haarfarbe und meine Abstammung durch Euren Titel als Lord von Thornehold. Und ich bin doch der Dorn in Eurer Seite, Lord Vater, seitdem man mich zu Euch brachte, oder nicht?«
Der Herr von Thornehold zog es vor, nicht zu antworten. Er ordnete seine Kleidung, die schon vorher in makellosem Zustand gewesen war.
»Tu, was man dir sagt, Rodric«, entgegnete er schließlich, als er sich zum Gehen wandte. »Vielleicht ist die Macht, die die Himmelslichter dir gaben, dann doch nicht ganz verschwendet.«