Читать книгу Das Zeichen der Erzkönigin - Serena J. Harper - Страница 15

Varcas
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»Was, bei den Himmelslichtern, ist hier geschehen?«, fragte Varcas und trat in das Langhaus. Ohne zu zögern, streckte er die Hand aus und berührte den Mann. Die Totenstarre begann sich bereits wieder zu lösen. Er konnte auch schon einen Hauch des einsetzenden Verwesungsgeruchs wahrnehmen. Der kalte Herbst sorgte dafür, dass der Geruch nur leicht verströmte, aber noch nicht das ganze Langhaus durchdrungen hatte.

»Es waren die Männer der Kristallkönigin, M’lord.«

Mit zusammengezogenen Augenbrauen betrachtete Varcas den Toten. Auf dem Fußboden anderthalb Meter unter den Füßen des Mannes hatte sich Blut gesammelt, das bereits vollständig getrocknet war. Die Menge ließ keinen Zweifel zu: Als sie den unglücksseligen Mann an das Geländer geschlagen hatten, hatte er noch gelebt.

Lenka wandte sich ab und Varcas drehte sich ihr zu. Er wollte nicht zu sehr auf eine Erklärung drängen, jetzt, da er verstand, dass sie ihren Ehemann erst vor Kurzem verloren hatte. Dennoch war er erleichtert, als sie sich innerhalb einiger Augenblicke wieder zusammenriss und ihn ansah.

»Es hat einen Angriff gegeben auf die Festung Amber Hall.«

Amber Hall. Varcas erinnerte sich daran, dass, als er sich zurückgezogen hatte, eine Königin Orianna – oder so ähnlich – in dem kleinen Königreich im Südwesten Shaylas regiert hatte. Es war mit den alten Anwesen und Festungen eine schwierige Sache, was das Vererben anging. Die alten Familiensitze, die meistens auch Regierungszentren der Höfe waren, die sich bildeten, blieben nicht immer in der Hand der gleichen Familie. Das kam mit der Schwierigkeit, dass nicht in jeder Generation eine Königin geboren wurde: Es war ein reiner Zufall wie bei jeder anderen Kaste, die durch eine Rún bestimmt wurde.

Normalerweise waren die Anwesen jedoch nicht an einen Königinnentitel gebunden, sondern in der Hand einer Aristokratenfamilie, die, sollten sie nicht selbst eine Königin hervorbringen, einen oder mehrere Söhne im Trigon einer Königin unterzubringen versuchte. Im Idealfall stand selbstverständlich die Heirat mit einer Königin oder zumindest die Position des Gefährten noch höher, aber solche Arrangements hatten sich schon zu seiner Zeit als schwierig herausgestellt. So konnte es zu den Fällen kommen, dass einer Königin nicht das Haus gehörte, in dem sie residierte. Varcas konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, aus welchem Haus Orianna gestammt hatte und ob es bei ihr ebenfalls so gewesen war.

In wieder anderen Fällen wurden die Anwesen zeitweise nicht mehr als Höfe genutzt, wenn sich eine Königin mit einem Konkurrenzhof im gleichen Gebiet ansiedelte. Dann kam es oft dazu, dass ein männlicher Albenlord mit Macht und Reichtum mehr Gewalt über ein Gebiet ausübte als die nichtadlige Königin ohne Unterstützer.

Manchmal gab es dann friedliche Lösungen, oft genug kam es aber auch zu blutigen Konflikten.

Es wurde umso verwirrender, da im Falle einer Heirat die Kinder zumeist den Namen des Vaters trugen. Die Familienverhältnisse der Albenaristokratie zu durchschauen war eine Lebensaufgabe. Vermutlich, dachte Varcas trocken, war das auch ein Grund, warum viele adlige Alben es vorzogen, möglichst in engen Banden zu heiraten.

»Haben fast alle im großen Haus getötet, M’lord. Und wer nicht getötet wurde, den haben sie in Ketten gelegt«, ergänzte der Erdalb. Wut trat in seine Augen. Als er weitersprach, senkte er seine Stimme, als fürchtete er, belauscht zu werden: »Ich sage, es war nicht recht, Herr. Königin Marielle war eine gute Königin, und Lord Moonfall war vielleicht streng, aber auch gerecht.«

Lenka nickte.

»Wir waren bisher gesegneter als die meisten anderen, Mylord. An vier Tagen jede Woche hat Königin Marielle jeden empfangen. Und als unser Jaren – das ist der Älteste von meinem Bruder Joran – krank wurde und nicht mitarbeiten konnte für mehrere Monde, da hat der Truchsess uns Aufschub gegeben.«

Varcas schwieg, hin- und hergerissen von dem, was er hörte. Er hatte gewusst, dass es schlimm um Shayla – schlimm um ganz Norfaega stand. Aber wie schlimm war es, wenn die Dorfbewohner schon solche Dankbarkeit über diese kleinen Dinge zeigten?

Wie schlimm war es, wenn Königin Lamia das Alte Recht überschritt, und sich in die Angelegenheiten der einzelnen Königreiche derart einmischte? Varcas schloss seine Hand zur Faust. Wem machte er hier eigentlich etwas vor? Er hatte es gewusst oder doch zumindest geahnt. Aber wie zu viele hatte auch er sich entschieden, nichts zu tun. Varcas wandte sich zur Tür, um hinauszublicken. Die Nacht war nun schneller gekommen, als er erwartet hatte.

»Was ist dann passiert?«, fragte er mit tonloser Stimme.

»Als sie mit Amber Hall fertig waren, kamen sie hierher«, flüsterte Lenka. »Sie haben uns gesagt, wir seien ab sofort nicht mehr das Königreich Ambrien, sondern eine Provinz unter dem Kristallhof. Sie sagten auch, dass wir … dass wir uns als Rebellen gegen unsere rechtmäßige Königin gestellt hätten, und dass … dass jedes Dorf den Preis in Blut zahlen muss. Mein Osvald …«

Varcas konnte sehen, wie die Tränen sie übermannten, doch innerhalb weniger Augenblicke fand ihre Stimme wieder zu ihrer Stärke. »Unser Eldermann hat versucht, mit ihnen zu sprechen, doch sie haben nur gelacht. Sie haben ihn die Treppe hinaufgezerrt und … haben das getan. Wir mussten alle zusehen. Auch die Kinder, mögen die Himmelslichter ihnen gnädig sein.«

Varcas machte zwei Schritte weiter in das Langhaus hinein. Es war ein scheußlicher Anblick – aber vermutlich einer, an den er sich würde gewöhnen müssen, solange Königin Lamia herrschte.

»Wieso habt Ihr ihn nicht heruntergenommen? Euer Eldermann braucht ein anständiges Begräbnis.«

Lenka stieß ein gequältes Geräusch aus.

»Die Männer, die das getan haben, sagten uns, wenn sie wiederkämen und ihn nicht dort anträfen, dann müssten sie jemand anders aufhängen.«

Bastarde, dachte Varcas und fühlte, wie die Wut in seinem Herzen zunahm. Er mahnte sich selbst zur Ruhe. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um die Kontrolle zu verlieren. Er spürte die Nähe zu der Quelle seiner Vision mit immer stärkerer Deutlichkeit. Der Mann und das, was er aus dem brennenden Haus getragen hatte, konnten nicht fern sein.

Varcas betrachtete den Getöteten nachdenklich. In wenigen Tagen würde die Kälte Norfaegas nicht ausreichen, um die Geruchsbildung zu verhindern.

Doch es war nicht nur der Gestank der Verwesung, den Varcas fürchtete.

»Ihr müsst ihn bestatten oder verbrennen, sobald es euch möglich ist«, sagte er mit leiser Stimme. Doch der Zwiespalt, in dem die Dorfbewohner sich befanden, war offensichtlich.

Er war erleichtert, als sie ihn in einen anderen Raum führten, obwohl im großen Innenraum des Langhauses sicherlich sonst Gäste bewirtet wurden. Sie saßen in einer Nische des Kochraumes zusammen. Ein hübsches Erdalbenmädchen, dessen Gesicht und Arme über und über mit Sommersprossen bedeckt waren, deckte den Tisch. Varcas sah, wie die Köchin wieder und wieder Wasser in den Eintopf goss, um ein paar mehr Mägen zu füllen.

Doch er wusste, dass das warme Wasser, bei dem sich gerade die Kinder glücklich schätzen konnten, wenn sie ein oder zwei Kartoffelstücke oder ein paar Graupen finden konnten, nur die Illusion von Sättigung vermittelte. Bisher sahen die Dorfbewohner aber nicht unterernährt aus – vermutlich, schlussfolgerte Varcas, hatten sie nur an Lamias Soldaten einen Großteil ihrer Vorräte verloren.

Unter einer guten Königin – einer echten Königin – sollten kein Alb und kein Mensch sonst Hunger leiden müssen, und kein Lord, kein Eldermann, kein Anführer konnte diese Tatsache ausgleichen, wenn eine Königin fehlte.

Die Königinnen waren das Herz der Gesellschaft der Alben, schon seit Anbeginn der Zeit. Eine Frau, deren Rún zum Zeichen von Eynias Stern wurde, sobald sie ins Erwachsenenalter übertrat, würde stets eine Königin bleiben, ob sie einen eigenen Hof gründete oder nicht. Es war keine Magie – es war mehr als das. Königinnen hatten Anteil an dem Mythos der Himmelslichter. So wie Eynia, die Herrin der Gestirne, den Kosmos im Gleichgewicht hielt, hielten Königinnen das Land in der wahren Balance. Sie vereinigten oftmals Eigenschaften der anderen weiblichen Rúnir in sich – hatten Fähigkeiten, die sonst nur die Frauen besaßen, die Nyannas Träne oder Rhenas Blume trugen, sodass sie Magie anwenden konnten, die eigentlich jenen Zeichen vorbehalten war.

Selbst ohne das waren Königinnen der unverzichtbare Grundpfeiler der albischen Welt. Jeder Albenmann konnte es fühlen – und manchmal glaubte Varcas, je mächtiger ein Alb war, desto deutlich war es für ihn: Königinnen inspirierten Loyalität. Nicht jede gleichermaßen. Nicht jede bei jedem Mann. Der Sog, der von einer Königin ausging, hatte eine Kraft, der sich zu widersetzen unangenehm war, sobald man ihr einmal nachgegeben hatte.

Aber Königinnen waren selten, seltener als so gut wie jedes andere Zeichen. Es gab nichts, womit man die beeinflussen konnte, ob die diamantförmige Basis-Rún, die jeder Alb trug, sich zu Eynias Stern vervollständigen würde, wenn sie das Alter erreichte. Man konnte kein Mädchen der Welt dazu erziehen, eine Königin zu werden. Auch ihn hatte man nicht zum Seher ausbilden können; er hatte bei seiner Initiation Cathards Auge erhalten und hatte damit Talente, die anderen Alben verborgen blieben. Hingegen möglich – und zwingend notwendig – war das Schleifen und Stärken der Fähigkeiten.

Weder eine seltene Rún noch eine mächtige Farbe nützten etwas ohne das durch Theorie und Praxis angeeignete Wissen.

Zudem konnte keine Königin ein Reich – sei es auch noch so klein – allein regieren. Sie brauchte die Männer, die ihr folgten, den Kreis der Herolde, aus dem sie ihr Königinnen-Trigon wählte. Einer Königin zu dienen und einen Hof zu halten gab auch den einzelnen Herolden größere Macht. Es war ein komplexer Prozess, der wie die Existenz von Königinnen viele Regeln der Mahr überstieg.

Varcas fuhr sich nachdenklich über seine graue Rún. Einst, als er noch ein Herold gewesen war, hatte er diesen Effekt ebenfalls gespürt, hatte ihn sehen können … Aber das war lange her.

Er schlug das Angebot des Erdalbenmädchens, seine hölzerne Schüssel noch einmal zu füllen, aus. Eigentlich hatte er vorgehabt, den Dorfbewohnern von seiner Suche ein wenig zu erzählen – vielleicht würden sie ihm helfen können. Aber er glaubte nicht, dass sie viel mehr zu berichten gehabt hätten als das, was er sich selbst zusammengereimt hatte. Der Albenmann, den er etwas hatte retten sehen, war sicher ein Alb aus Amber Hall gewesen. Was konnte wichtiger sein, als zu versuchen, seine eigene Königin aus einer Flammenhölle zu befreien?

Nichts, dachte Varcas, nichts, wenn es ein Hof wie in den alten Tagen war. Aber möglicherweise eben doch. Es konnte nur ein mächtiges Relikt sein. Ein Gegenstand, den zu schützen die verstorbene Königin Marielle ihm aufgetragen hatte.

Schließlich zeigte Lenka Varcas seinen Schlafplatz für die Nacht, der sich nicht in dem Langhaus befand, sondern in einer der kleinen Wohnhütten. Obwohl man ihm ein echtes Daunenkissen gegeben hatte und er nicht auf Stroh ruhte wie viele andere der Dorfbewohner, fiel es ihm ausgesprochen schwer, in den Schlaf zu finden. Als es ihm schließlich doch gelang, träumte er so wirr wie selten von der Vergangenheit, dass er schon während des Traumes ahnte, dass ihm der Schlaf wenig Erholung bieten würde.

Aber ein Traumbild unterbrach die Fetzen der Erinnerungen wieder und wieder: Der Moment aus der Vision, als er sich selbst im Thronsaal des Kristallpalastes auf die Knie hatte sinken sehen.

Varcas versuchte, wacher zu träumen, wie er es als junger Mann gelernt hatte – den Blick zu heben zu der Frau, die vor ihm stand, doch es gelang ihm nicht.

Es war noch nicht Morgen, als Stimmen ihn aus dem leichten Dämmerschlaf rissen. Varcas war überrascht, wie schnell seine Sinne sich klärten. Er richtete sich auf seinem Lager auf.

Er war nicht in die Kaste der Krieger geboren worden, aber sein Albenblut ließ ihn die Eindringlinge spüren, noch bevor er in seine Schuhe gestiegen war. Jemand war gekommen.

Und als Varcas den Beutel öffnete, in dem er seinen Stab vor neugierigen Augen verborgen hatte, und seine Finger sich um das Seherzepter schlossen, fühlte er sich seiner Vision näher als all die Stunden zuvor.

Doch als Varcas aus dem Haus ins Freie trat, sah er nicht den Alb aus seiner Vision, sondern zwei Lichtalbenkrieger, die Königin Lamias Sonnenschärpe trugen. Varcas musste nicht lange überlegen, um die Situation zu durchschauen: Einer von ihnen hielt ihre beiden Pferde, der andere hatte sein Schwert gezogen und hielt die Heilerin am Oberarm fest. Auf dem Rücken trug er ein zweites Schwert.

Auch andere Dorfbewohner wagten sich aus ihren Häusern, ihre Kinder ängstlich hinter sich versteckend.

Himmelblau. Grün.

Kein Vergleich zu grau.

»Per Dekret der Königin muss jedes Dorf eine Milchkuh zur Versorgung der Armee abtreten. Sollte ein solches Tier nicht vorhanden sein, steht es dem Dorf frei, das Versäumnis durch eine Zahlung von zweihundert Goldmark auszugleichen.« Es sprach der, der bei den Pferden stand.

»Herr«, sagte Lenka, »wir haben Euch alles gegeben, was wir entbehren können. Vielleicht, wenn Ihr uns ein klein wenig mehr Zeit …«

»Siehst du das, Schlampe?« Der Alb packte Lenka am Nacken und zog sie zu sich heran, ihr Gesicht zu seiner Brust drückend. »Ich trage das Zeichen von Königin Lamia. Außerhalb der Kristallstadt ist mein Wort ihr Wort.«

Nein, das ist es nicht, schoss es Varcas durch den Kopf. Dieser Mann trug zwar die Schärpe, aber er war nie und nimmer ein Herold. Er war ein Fußsoldat, dessen Namen die Königin kaum kennen würde. Varcas verstärkte die Schleier seiner Tarnung, bevor ihn die Wut, die Heilerin so behandelt zu sehen, übermannen konnte.

»Hm«, machte der Zweite, die Pferde loslassend, die jedoch folgsam an ihrem Platz blieben, und sah sich um, »vielleicht können wir zu einem anderen Arrangement kommen?« Varcas folgte seinem Blick, sich immer noch bedeckt haltend. Die Augen des Kriegers hefteten sich auf das Mädchen, das ihm sein Abendessen serviert hatte.

Lenka versuchte, einen Protest zu stammeln, als der Mann, der sie festhielt, sie losließ, um nachzusehen, was – wen – sein Kumpan ins Auge gefasst hatte.

»Sie ist keine zweihundert Goldmark wert«, befand der Alb. »Aber wer weiß, Heilerin«, er bleckte die Zähne zu einem breiten Lächeln, »wenn sich das Mädchen nicht zu dumm anstellt, könnten wir bereit sein, die Summe zu senken.«

Varcas hielt nichts mehr.

Er trat vor, noch immer umwehte ihn der Schleier der Tarnung, sodass die Männer erst kaum auf ihn reagierten. Als er die Hand an seinen Gürtel legte und seinen Geldbeutel löste, sahen sie beim Klirren des Goldes auf.

»Dreihundert Goldmark«, sagte Varcas. »Zweihundert für das Fehlen der Milchkuh – einhundert, um den Eldermann bestatten zu dürfen.«

Die Albenmänner wandten sich ihm zu. Leicht, dachte er, es wäre so erschreckend leicht, sie zu töten. Aber er beschloss gleichzeitig, dies nur als die allerletzte Möglichkeit anzustreben. Die Dorfbewohner benötigten keine Leichen von Lamias Kriegern. Sie brauchten einen dauerhaften Schutz. Ganz gleich, was er jetzt anbot: Es würde jede Gier nur kurzfristig stillen. Aber sein alter Meister hatte ihm früher oft den weisen Ratschlag gegeben, ein Problem nach dem anderen zu lösen. Wer an dem ersten scheiterte, musste sich um das dritte keine Gedanken machen.

»Und wie kommst du zu diesem Geld, alter Mann?«, fragte der Lichtalb. Nur die Skepsis in seinen Augen konnte sich mit der Gier in seinem Blick messen.

»Ich habe es aufbewahrt für den richtigen Moment«, antwortete Varcas nichtssagend. »Und es scheint mir, der ist nun gekommen. Nehmt das Geld. Verzeichnet die zweihundert Goldstücke für Königin Lamia und reitet in die nächste Stadt. Für einhundert Goldmark könnt Ihr in jedem Bordell eine Frau finden, mit der Ihr mehr Vergnügen haben werdet als mit dem Mädchen dort.«

Varcas konnte die Gedanken hinter den Stirnen der Männer kreisen sehen.

Sie tauschten kurze Blicke. Schließlich kam einer von ihnen näher. Varcas reichte ihm den Geldbeutel – was den Gesichtsausdruck des Alben schlagartig in Hohn verwandelte.

»Oder, alter Mann«, sagte er grinsend, »wir nehmen dein Geld und töten dich.«

Varcas lächelte.

Fast wünschte er sich, dass sie ihm einen Grund geben würden – einen, den er nicht würde ignorieren können.

»Wenn Ihr in Zukunft in diesem Dorf immer wieder Gold finden wollt, dann wäre diese Vorgehensweise nicht ratsam, meine Herren. Aber vielleicht reicht Euch eine einmalige Zahlung von dreihundert Goldmark ja auch.« Varcas hob leicht die Schultern an. »In diesem Fall: Lasst euch nicht aufhalten.«

Erneut blickten die Alben sich an. Varcas atmete ein, versuchte, die mentalen Signaturen genauer zu erfassen, und spürte, dass die Gier Oberhand gewann. Es war zu einfach für diese Männer – zu einfach, zu glauben, dass sie noch genügend Gelegenheiten haben würden, ihn zu töten, wenn das nötig sein sollte.

Der Lichtalb steckte sein Schwert weg und warf den Beutel leicht in die Höhe, als wollte er ihn wiegen.

»Also schön, alter Mann.« Sein Kumpan zog bereits die Zügel der Pferde über ihre Hälse. »Dein Dorf ist für heute sicher. Und verscharrt Euren Eldermann. Wenn wir das nächste Mal wiederkommen, soll nicht alles nach verrottetem Erdalb stinken.«

Varcas schwieg und sah zu, wie der eine bereits aufsaß. Der andere Alb schob seinen Fuß in den Steigbügel seines Pferdes.

Eine Wahrnehmung ließ Varcas den Atem anhalten, genauso wie diese Empfindung den Lichtalb dazu brachte, in der Bewegung zu stocken.

Nein!

Der Pulsschlag seiner Vision ging ihm durch Mark und Bein. Die Quelle des Bildes war nah. Sie war hier.

Varcas fühlte, wie sein Seherblut zu rasen begann. Dennoch war er für einige Augenblicke wie versteinert, als der Alb den Fuß wieder senkte, um sein Pferd herumtrat, und mit langen Schritten in das Gebüsch zwischen zwei Häusern trat. Das, was als Nächstes an Varcas’ Ohren drang, hätte er mit dem Fauchen einer Katze verwechseln können.

Nah. So nah.

Und dann zerrte der Lichtalb ein Mädchen aus dem Gebüsch. In Varcas begann alles sich zu drehen. Ein Mädchen. Ein Kind, vielleicht sieben oder acht Jahre alt. Kein Gegenstand. Ein Nachtalbenkind mit dunklem Haar.

Die Hand des Lichtalbs hatte sich fest um den Unterarm der Kleinen geschlossen. Er zog ihren Arm dabei so sehr in die Höhe, dass kaum mehr als ihre Zehenspitzen – nackte Füße, wieso hatte sie nackte Füße? – den Boden berührten. Sie trug ein besticktes Nachthemd, das schon bessere Tage erlebt hatte. Aber selbst unter Spuren von Ruß und Erde erkannte Varcas, dass es sich um ein feines, teures Gewebe handelte. Nichts, was sich eine Frau aus diesem Dorf hätte leisten können – geschweige denn, was jemand für die Nachtkleidung eines Kindes hier ausgegeben hätte.

»Scheiße!« Der zweite Alb beugte sich über seinen Sattel herab und stieß einen schrillen Pfiff aus. »Schau nach, ob sie die roséfarbene Rún trägt.«

Kaum dass er diese Worte ausgesprochen hatte, begann das Mädchen, zu zappeln, was den Mann nicht davon abhielt, ihren Ärmel hochzuschieben. Zart schimmerte dort im roséfarbenen Himmelslicht der Diamant, mit dem die Alben geboren wurden.

»Sie ist es. Sie ist die Tochter der getöteten Königin von Amber Hall!«

Varcas hatte nicht bemerkt, wie er seinen Stab fester umschlossen hatte. Das Seherzepter sang, als er mit einer kurzen Handbewegung den feinen Mechanismus betätigte, der erlaubte, das Zepter auszuziehen, sodass es länger wurde, als Varcas hoch war.

Das Kind merkte es als Erstes. Eben noch stumm, aber zappelnd, hielt sie fast schlagartig inne. Die Sinne der Männer waren weniger fein.

Varcas spürte, wie seine graue Rún sich mit dem Seherzepter verband. Es wurde zu der Verlängerung seines Arms, der Verlängerung seines Geistes, und beinahe hätte die Energie ihn selbst von den Füßen gerissen. Jahrhunderte, Jahrtausende war es her – und nun war seine Macht wie ein lang gestauter Fluss, der den Damm brach und sich seinen Weg in ein vertrocknetes Flussbett suchte.

»Lasst sie los!«

Varcas’ Stimme war weich wie Samt. Er fühlte die Wut der Alben, die sich nicht mit der der Menschen vergleichen ließ, in jeder Faser seines Körpers.

Ein Kind. Kein Gegenstand. Ein Mädchen. Ein Waisenmädchen.

Er bemerkte kaum, wie die Dorfbewohner alle vor ihm zurückwichen. Aber er sah, dass die Narren vor ihm seinem Befehl nicht nachkamen. Stattdessen zogen sie ihre Schwerter. Endlich konnte er in ihren Augen Nervosität erkennen, den Anflug des Unverständnisses, was sich soeben abspielte.

Er verstand es selbst nicht ganz. Aber der Blick des Mädchens ruhte weiterhin auf ihm, und Varcas wusste, was er zu tun hatte.

Er stieß den Stab in den Boden und ließ die Tarnung von sich fallen.

Die beiden Albenkrieger keuchten auf. Ja, dachte Varcas, seht hin. Seht mich an.

Die graue Aura seiner Rún verdichtete sich um den Albenlord. Als Linkshänder hatte er früher ein Schwert in der linken Hand und den Stab in der rechten geführt. Jetzt fühlte seine Linke sich merkwürdig leer an.

Die Krieger vor ihm errichteten Schutzschilde mithilfe der Mahr, doppelt verstärkt um ihre Waffen. Als sie ihn angriffen, war Varcas bereit. Er sammelte seine Macht im Seherzepter, ließ sie auf einen schmalen Radius entweichen, und vor seinen Augen zermalmte die Druckwelle seiner Kraft die Schwerter. Das metallische Bersten klang hoch und schrill, als die Mahr sich durch die Waffen fraß. Varcas stoppte nicht.

Die selbst auferlegten Fesseln der Vergangenheit fielen von ihm ab, als er die Männer angriff, den Stab gegen sie richtend. Die Wucht der gleißenden Druckwelle sprengte zuerst ihre Schilde, dann lagen sie so schutzlos wie Menschen vor ihm.

All dies spielte sich in Sekundenbruchteilen ab. Es dauerte keinen Herzschlag, bis Varcas unter ihre mentalen Barrieren geschlüpft war. Für einen Moment war er angewidert von dem, was er fand – klebrig wie Pech war der Kern ihres Geistes, verdorben von all den Dingen, die sie im Auftrag Lamias und zu ihrem eigenen Vergnügen getan hatten.

Varcas entzündete das Seherfeuer in ihrem Inneren, ohne dass sie irgendetwas hätten tun können, um ihn aufzuhalten. Der grüne Alb warf sich ihm entgegen, in einer letzten Verzweiflung aufheulend, doch das Seherfeuer, das seinen Geist – nur den – verschlang, war zu schnell für ihn.

Zwei Körper fielen leblos vor Varcas zu Boden.

Erst jetzt spürte er, dass er den Atem angehalten hatte. Als er ihm entwich, musste er sich für einen Moment auf seinen Stab stützen – nicht, weil er sich geschwächt fühlte. Es war keine Schwäche. Es war eine Überreizung durch die Macht, der er sich so lange entzogen hatte.

Varcas’ Augen fanden das Kind, das immer noch ihn und nicht die Getöteten ansah.

Es war eine merkwürdige Eingebung, die ihn dazu brachte, in die Hocke zu gehen, um mit ihr auf Augenhöhe zu sein.

Funken der Mahr stoben immer noch aus der Krone seines Seherzepters und erhellten ihre Miene. Es war das elfenbeinerne Gesicht einer Puppe mit den feinen Zügen eines adligen Albenmädchens. Sie schob sich eine dunkle Strähne aus der Stirn, als sie auf ihn zutrat. Das Licht fand ihre Augen.

Ein Schauer rann über Varcas’ Rücken.

Ihn traf der Blick aus smaragdfarbenen Augen bis ins Mark.

Varcas glaubte für einen Moment nicht, dass er sprechen können würde. Doch noch während er sie anblickte, halb auf den Knien, den Stab umfassend, zogen sich die Flammen ihrer Iris zurück und ließen nun nur das beruhigte Grün sehen. Es war weniger die Farbe, die sich im Schein der mahrischen Funken änderte, als die Beschaffenheit ihrer Augen. Sie waren noch immer grün – waldgrün, haselgrün, durchzogen von Licht und Dunkelheit – aber das uralte Lodern erlosch.

»Meister«, sagte sie. Ihre Stimme zitterte.

»Varcas«, nannte er seinen Namen.

»Meister Varcas«, korrigierte sie sich selbst. »Ihr habt mir … einen großen Dienst erwiesen. Aber ich muss Euch um noch mehr bitten.« Jetzt, da das smaragdgrüne Feuer erloschen war, schien sie beinahe schüchtern. Trotzdem trug sie ihre Worte mit größtmöglicher Ernsthaftigkeit vor. Es war nicht schwer, sich vorzustellen, dass sie an einem Königinnenhof aufgewachsen war. Sie sprach, als hätte sie das typische Hofzeremoniell mit der Muttermilch aufgesogen.

»Mein Begleiter ist verletzt. Sehr schwer. Er braucht Hilfe.«

Das musste der Mann sein, den er in seiner Vision gesehen hatte – der dieses Mädchen aus Amber Hall gerettet hatte.

»Kannst du beschreiben, wo er ist?«, fragte er das Mädchen.

Es nickte.

Varcas richtete sich auf. Als er sich zu den Dorfbewohnern umblickte, spürte er, wie ihn die Welle ihrer Furcht und ihres Misstrauens erfasste. Sie hielten Abstand.

Vielleicht zu Recht.

Varcas richtete seine Aufmerksamkeit auf Lenka: »Heilerin, ein Albenmann ist verletzt.«

Die Heilerin trat näher. Die Vorsicht, die sie dabei walten ließ, galt nicht nur ihm, sondern auch dem Kind, stellte Varcas fest, als er dem Mädchen zuhörte, wie es den Weg durch den Wald zu einer Lichtung beschrieb.

Einige Männer des Dorfes sammelten sich auf Lenkas Geheiß und entzündeten Fackeln.

Lenka trat auf das Kind zu.

»Komm doch in mein Haus, Kleine, und wir schauen, ob wir für dich etwas zum Essen und etwas zum Anziehen finden.«

Das Mädchen rührte sich nicht von der Stelle. Stattdessen wanderte ihr Blick zurück zu Varcas.

»Werdet Ihr Meister Gorwyn wirklich finden?«, fragte es.

Varcas verstärkte den Lichtstrahl seines Seherzepters und lächelte.

»Das werde ich. Verrätst du mir auch deinen Namen?«

Das Nachtalbenkind zögerte. Zu lange. Ihre Unsicherheit wurde für Varcas’ Sinne fast greifbar stark.

»Wir reden später. Geh und ruh dich ein wenig aus. Ich werde alles tun, um deinen Meister Gorwyn zu finden.« Er nickte ihr zu, als Lenka die Hand auf die Schulter des Kindes legte.

Varcas näherte sich den beiden Leichen. Er drehte einen der getöteten Alben herum und zog das Schwert, das jener auf seinen Rücken geschnallt mit sich geführt hatte. Es war kein Meisterstück der albischen Schmiedekunst und die Kerben auf der Klinge erzählten von vielen Kämpfen, die damit schon bestritten worden war.

Es würde reichen. Für jetzt. Für ihn. Für den Anfang.

Das Zeichen der Erzkönigin

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