Читать книгу Das Zeichen der Erzkönigin - Serena J. Harper - Страница 11

Tyran
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Tyran gab sich nicht der Illusion hin, sein Nähern vor Rodric verbergen zu können: Er wusste, dass die Sinne des Nachtalben seinen in nichts nachstanden und dieser ihn gespürt haben musste, sobald er den Korridor zu seinem Quartier betreten hatte.

An der Unterbringung an sich gab es nicht viel auszusetzen. Besonders im Vergleich zu den Räumlichkeiten, in denen die anderen Sklaven untergebracht wurden – sowohl hier als auch an so gut wie jedem anderen Hof –, war die Kammer, die Lamias Blutritter zur Verfügung stand, trocken, sauber und mit einem Bett ausgestattet, in das Rodric trotz seiner Größe sogar bequem hineinpassen würde.

Aber als Tyran die Hand zum Klopfen hob, konnte er das mahrische Schloss spüren, ganz genauso deutlich, wie er die Eisenriegel sah, die man von draußen vorschieben konnte. Tyrans Knöchel hatten das Erlenholz noch nicht berührt, als er von drinnen ein knappes Brummen vernahm. Mehr Aufforderung brauchte Tyran nicht.

Er trat ein und schloss die Tür behutsam hinter sich. Rodric stand nur mit einer Hose bekleidet über einen Eimer gebeugt da und schien zu versuchen, das braunverkrustete Blut von seinen Unterarmen zu waschen. Rodric war erst vor wenigen Minuten wieder im Kristallpalast eingetroffen – zurückgekehrt von einem der Aufträge, die Königin Lamia ihm gegeben hatte. Es musste dieses Mal innerhalb von Shaylas Grenzen gewesen sein, denn Rodric und die anderen waren binnen dreier Tage zurückgekehrt. Doch obwohl es eben nur drei Tage und zwei Nächte waren, war die Erschöpfung Rodric ins Gesicht geschrieben.

»Ich hätte ein wenig später kommen sollen«, sagte Tyran. »Tut mir leid.«

Rodric schüttelte nur leicht den Kopf. »Es ist in Ordnung. Lass mich nur – lass mich das kurz tun.«

Tyran nickte stumm, während Rodric weiter seine Arme und die Unterseiten seiner Nägel schrubbte.

Als Tyrans bester Freund sich schließlich zu ihm umdrehte, sah er erschöpft aus.

»Willst du darüber sprechen?«, fragte Tyran.

Das Lächeln, das über die markanten Züge des Nachtalbenkriegers glitt, war nur im ersten Moment traurig, bis Rodric zu der ihm angeborenen Arroganz zurückfand. »Wann habe ich das je gewollt?«

Tyran nickte erneut und blieb unschlüssig stehen, wo er war. Rodric wies auf den einzelnen Schemel und nahm selbst auf dem Rand seines Bettes Platz, sich die Reitstiefel von den Füßen zerrend.

Tyran legte die Flügel an und setzte sich.

Sie hatten nie viel reden müssen, um einander zu verstehen, in all den Jahrhunderten nicht. Aber Tyran wusste, dass Rodric ihn ebenso gut kannte, wie er ihn. Und so wie er buchstäblich riechen konnte, dass eine schreckliche Nacht hinter Rodric lag, würde dieser fühlen, dass Tyran mit einer Neuigkeit zu ihm gekommen war, die ihm nicht gefiel.

»Ich werde ausgeliehen«, sagte Tyran leise, aufmerksam jede Regung in dem Gesicht seines Kameraden beobachtend. Nicht viel war zu sehen, nur ein kurzes Flackern in den violetten Augen. Rodric erhob sich von seinem Bett, die Schuhe nah an die kleine Feuerstelle schiebend. Er füllte ihnen zwei Holzbecher mit Wein und leerte seinen zur Hälfte, noch bevor Tyran seinen ersten Schluck getan hatte. Obgleich angespannt, lag in jeder seiner Bewegungen die raubtierhafte Eleganz, deren Potential Königin Lamia vor vielen Jahren in ihm gesehen haben musste.

»An wen?«, erkundigte Rodric sich beinahe beiläufig.

»An Königin Elnesta.« Tyran fühlte, wie ihm die Zunge schwer wie Blei wurde, als er den Namen aussprach. Für einen kurzen Augenblick glaubte er, die Kiefernmuskeln seines Freundes zucken zu sehen.

»Elnesta«, wiederholte Rodric tonlos.

Ein drittes Nicken. Es gab nichts, was Tyran erklärend hätte hinzufügen müssen. Sie beide kannten Elnestas Ruf – kannten die Erzählungen von ihrer Grausamkeit, ihre Vorlieben für Askyaner. Zum ersten Mal in seinem über siebenhundertjährigen Leben wünschte Tyran sich, kein Paar von mit dunkelgrauen Federn bestückten Flügeln zwischen seinen Schulterblättern zu haben.

Rodric sank wieder auf sein Bett zurück und schwenkte den beinahe leeren Becher gedankenverloren hin und her.

»Weißt du, für wie lange?«

Tyran zuckte mit den Schultern. »Spielt das eine Rolle?« Er verzog die Lippen. »Ich werde es überstehen, ob für zehn, fünfzig oder hundert Jahre, und dann hast du mich hier wieder am Hals.« Das Lächeln, das dieses Mal Rodrics Züge erhellte, war wärmer als das zuvor. Tyran konnte unausgesprochene Worte auf seiner Zunge erkennen; Dinge, die sie sich schon lange nicht mehr sagten, weil sie an der Situation nichts ändern würden. Früher hatten sie einander noch versprochen, vorsichtig zu sein, hatten sich ein baldiges Wiedersehen zugesagt und nicht selten sogar im anderen die Hoffnung erneuert, eines Tages könnten sie in einer anderen Welt aufwachen. Einer Welt, in der ein Krieger mit einer roten Rún oder einer schwarzen, wie Rodric sie trug, an niemanden würde ausgeliehen oder verkauft werden können.

Das war lange her. Es gehörte zu dem Gerede von Jungen, die sich über die Dauer von den fünftausend Jahren, die Alben leben konnten, keinen Begriff machten. Jungen, die noch glaubten, dass sie mit dem Älterwerden und der dazugehörigen wachsenden Stärke die Unabhängigkeit und letzten Endes auch die Freiheit gewinnen würden, nach der sie sich sehnten. Jetzt, mehr als siebenhundert Jahre später, fühlte Tyran, dass die Hoffnung längst von ihnen abgeschliffen worden war, wie grobe Holzspäne, die einem Hobel zum Opfer fielen.

Eine ruckartige Bewegung seines Freundes riss Tyran aus seinen Gedanken: Rodric blickte auf, den Becher auf den Fußboden stellend, die violetten Augen wachsam auf die Tür gerichtet. Einen Herzschlag später spürte auch Tyran, dass sich jemand näherte.

Verdammter Nachtalb. Rodrics Sinne waren eben sogar noch einen Hauch besser als seine eigenen. Ein Soldat, der Königin Lamias Sonnenschärpe trug, trat nur zur Hälfte ein.

»Eure Anwesenheit wird verlangt, Sir Rodric.«

Obwohl die Worte ein unmissverständlicher Befehl waren, schwang für Tyran unüberhörbar Nervosität in der Stimme des Soldaten mit, dessen eine Hand auf dem Türknauf ruhte. Seine anderen Finger lagen wachsam auf dem Griff seines Schwertes.

Sir Rodric.

Es war für Tyran immer noch merkwürdig, zu hören, wie Rodric so angesprochen wurde. Es war ein Titel, der nur den aristokratischen Alben zustand. Über das adlige Blut von Rodric brauchte man nicht streiten, jeder wusste, wer sein Vater war – aber trotzdem war Rodric ein Sklave genau wie er. Die Anrede war eine Worthülse, keine Respektsbekundung. Ein Luxus, der Rodric jederzeit genommen werden konnte, ganz wie dieses Zimmer. Wie die Kleidung, die er am Leib trug. Wie der billige Wein, den sie tranken.

Rodric schob sich das nachtschwarze Haar in den Nacken, es mit wenigen Griffen und einem Lederband zu einem Zopf zusammenfassend. »Ich komme«, teilte er dem Wächter mit, machte aber keine Anstalten, das Zimmer zu verlassen.

Zwei Sekunden verstrichen, bis der Mann, dessen grüne Rúnir-Aura sich weder mit der von Tyran, noch mit der von Rodric messen konnte, sich umdrehte und sich entfernte.

Rodric zog aus seiner schmalen Kommode sein Hemd und streifte es sich über den Kopf.

»Wann brichst du auf?«, fragte er.

»Morgen schon«, antwortete Tyran und erhob sich mit raschelnden Flügeln. Eigentlich war es ihm fast recht, dass man ihm keine Zeit gelassen hatte, über den Befehl der Königin nachzudenken. Der Ruf, der Elnesta vorauseilte, deckte sich mit den wenigen Erfahrungen, die er mit ihr bisher gemacht hatte – was auf nichts Gutes schließen ließ.

»Mir ist neulich übrigens etwas in die Hände gefallen«, griff Rodric den Gesprächsfaden wieder auf. Tyran kam nicht umhin, eine dunkle Augenbraue anzuheben. Lächelnd schüttelte er sich ein paar flammendrote Haarsträhnen aus dem Gesicht. Was auch immer Rodric genau meinte – bei ihm bestand fast nichts aus Zufall. Aber an die distanziertere Formulierungsweise seines Freundes, ein wenig nonchalant, ein wenig vage, hatte sich Tyran gewöhnt. Rodric verbrachte zu viel Zeit mit den Herolden und den Speichelleckern hier am Hof.

Doch das, was Tyran nun in der ausgestreckten Hand des Blutritters sah, ließ ihn tatsächlich in seinem Gedankengang innehalten. Es war ein kleiner Obsidiankeil, spitz wie ein Dolch, mit einem kurzen, abgerundeten Griff. Gerade so, dass er in eine Kinderfaust passen würde.

»Du hast ihn noch?«, verblüfft nahm Tyran den Steindolch an sich. »Wir haben damals – verflucht, das müssen sechs, sieben Wochen gewesen sein, die wir daran herumgeschliffen und gefeilt haben.«

»Acht«, korrigierte Rodric sanft. »Und wir haben davon geträumt, ihn dem Jäger in die Kehle zu stoßen.« Sein Tonfall hatte etwas Grimmiges bekommen.

»Hätten wir es bloß getan.« Tyran drehte den Obsidiankeil, um ihn Rodric zurückzugeben, der sich jedoch bereits abgewandt hatte.

»Behalt ihn. Du hast mehr daran gearbeitet als ich«, sagte er nüchtern, während er in seine Stiefel stieg. Einen Moment lang betrachtete Tyran das Erinnerungsstück noch, bevor er es in die Innentasche seiner Jagdtunika gleiten ließ.

»Ich gebe ihn dir zurück, wenn wir uns wiedersehen, Bastard«, versprach er und wandte sich zur Tür. Er wusste, obwohl sie den gleichen Weg hatten – aus den Sklavenquartieren nach oben –, würde Rodric nicht mit ihm zusammen gehen. Das tat er nie.

»Ich verlasse mich darauf, Tyr.« Rodric überbrückte die Distanz, die Tyran in sich stets spürte, wenn sie wieder an getrennte Höfe geschickt wurden, und zog ihn zu einer kurzen, festen Umarmung heran, bevor er ihn beinahe aus der Tür schob.

Das Zeichen der Erzkönigin

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