Читать книгу Das Zeichen der Erzkönigin - Serena J. Harper - Страница 14
Lyraine
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ОглавлениеEine Elster schrie.
Sie war zu Hause.
Einmal, vor fünf oder sechs Monaten, hatte sie einen verletzten Vogel gefunden. Die wilde Elster hatte einen gebrochenen Flügel, den sie wie einen glänzenden, schwarzweißen Fächer hinter sich herzog, während sie verzweifelt durch den Garten hüpfte. Lyraine war damals vorsichtig näher getreten.
Sie wollte sie zu fassen bekommen, aber die Angst, dem verwundeten Tier noch mehr Schmerzen zuzufügen, hielt sie kostbare Minuten zurück, bis die Elster so erschöpft von ihren Versuchen war, dass sie ruhig sitzen blieb. Sie schlich sich Schritt um Schritt näher an sie heran, und als sie angekommen war, ließ sie sich ohne größere Mühe sanft umfassen.
Es hatte nicht lange gedauert, ihr zu helfen. Für zwei, drei Wochen war die Elster ein Gast in Amber Hall gewesen. Nachmittags saß der Vogel auf der Terrasse hinter dem Haus und ließ sich die beginnende Sommersonne auf die Schwingen scheinen. Dann fing sie an, kurze Probeflüge zu unternehmen. Als sie schließlich ganz davonflog, war Lyraine traurig gewesen.
Allerdings nur bis zum nächsten Morgen, als sie feststellte, dass die Elster zu ihrem Fenster zurückgekehrt war und sie mit ihren vertrauten Krächzlauten weckte.
Eine Elster schrie.
Lyraine öffnete die Augen.
Einen wunderbaren, köstlichen Moment lang wusste sie nicht, wo sie war. Dann kam die Erinnerung zurück, und Lyraine schloss die Augen wieder. Doch viel zu schnell wurde ihr bewusst, dass jetzt, da sie einmal zugelassen hatte, dass die durch die Baumwipfel blitzenden Wellen des Sonnenlichts den Schlaf aus ihrem Verstand spülten, würde sie nicht wieder an den tröstlichen Ort zurückkehren können, an dem eine Elster vor ihrem Fenster in Amber Hall wartete. Hatte sie es gesehen oder bildete sie sich nur ein, sich daran zu erinnern, wie sich drehende Flammen die Scherben aus den Rahmen gedrückt hatten, bis sie zerbarsten, und in einem Regen aus Splittern zu Boden rieselten?
Lyraine hörte jemanden atmen.
Gorwyn, erinnerte sie sich, Gorwyn hatte sie unter dem Bett hervorgezogen. Sie hatte losgelassen und er hatte sie hervorgezogen.
Eine Hand – Gorwyns Hand, korrigierte sie sich – legte sich tastend auf ihre Stirn, dann auf ihren Scheitel.
Mit untrüglicher Gewissheit war Lyraine bewusst, dass Gorwyn wissen musste, dass sie erwacht war. Sich schlafend zu stellen funktionierte auch nicht bei der alten Tovilda, und die war mehr Mensch als Alb. Meistens schwatzte sie morgens mit so einer Eifrigkeit los, dass es völlig unmöglich war, wieder ins Reich der Träume hinüber zu gleiten. Gorwyn hingegen war still.
Kurzentschlossen öffnete Lyraine die Augen und setzte sich auf.
Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, zu sehen.
Gorwyn saß neben ihr, an einen Baum gelehnt. Er hatte ein Bein weit von sich gestreckt, das andere angewinkelt. Erst jetzt begriff sie, dass sie auf seinem ausgestreckten Unterarm und auf Zisch gelegen hatte. Er hatte seine Jacke über ihr ausgebreitet, aber nicht nur die Luft war kalt, sondern auch der Boden. Sie fröstelte. Ein paar Schritte abseits graste eins der Pferde des Hofes. Es war zu groß für sie, das hatte Brandon gesagt. Zumindest, wenn sie es allein reiten wollte.
Lyraine kannte die kleine Lichtung. Sie waren nur wenige Meilen vom Anwesen entfernt.
Der Truchsess sah sie an. Er war schon ziemlich alt – wie alt, traute Lyraine sich nie, ihn zu fragen – aber sie hatte ihn noch nie so erschöpft gesehen. Als Erdalb hatte er eine bräunliche, fast bronzefarbene Haut, und auch die Hörner, die durch das sauber geschnittene weiße Haar hervorschauten, sahen aus wie Walnussholz.
Lyraine atmete ein. Das Gefühl war zu gewaltig, als dass sie es für sich selbst hätte in Worte fassen können. Es schien ihr, als würde ein Schleier aus Nebelseide der einzige verbleibende Schutz vor all den Gedanken sein, die sie tief in sich verschlossen hatte.
Und als der Truchsess seine Hand ausstreckte und sie an ihre Wange legte, wusste sie, dass sie nie wieder den Ruf der Elstern an ihre Fenster hören würde. Sie wusste, dass alles, woran sie sich zu erinnern glaubte, der Wahrheit entsprach.
»Es tut mir so leid.«
Es vergingen mehrere Sekunden, bis Lyraine verstand, dass Gorwyn sie angesprochen hatte, sie und niemanden sonst. Niemand sonst ist hier, schalt sie sich selbst. Niemand sonst. Sie waren allein.
Panik schlang sich um ihren Hals, um ihre Rippen, drückte ihr die Luft aus den Lungen. Sie konnte nicht sitzen bleiben, wo sie war. Wenn sie hier sitzen blieb, dann würde sie in die traurigen Augen des Truchsess schauen müssen. Sie würde ihm zuhören müssen, wie er davon sprach, wie leid es ihm tat.
Gorwyn griff mit einer Geschwindigkeit nach ihrem Arm, die sie ihm fast nicht zugetraut hätte.
»Kind«, er schüttelte den Kopf, »du darfst nicht weglaufen. Es ist nicht sicher.«
»Wir müssen zurück!« Die Worte waren ihren Lippen so plötzlich entwichen, dass es sie selbst überraschte. Aber ja – ja! –, sie mussten zurück. »Zurück nach Amber Hall. Wir müssen meine Eltern holen. Ich weiß nicht, wo meine Mama ist«, fügte sie hinzu.
Der Griff um ihren Arm wurde lockerer, nur um sich danach noch mehr zu festigen. »Lyraine, Kind, es ist dort niemand mehr am Leben.«
Lyraine spürte, wie ihr schwindlig wurde. Ihr Sichtfeld wurde schmaler, doch sie kämpfte gegen die Schwärze an, die ihr den Blick verdunkelte. Sie durfte jetzt nicht an diese Worte denken. Sie konnte das nicht anhören. Der Truchsess zog sie in seine Arme. Er roch nach seinen Keksen und nach Blut und nach Schwefel.
»Was ist passiert?«, flüsterte Lyraine. »Erklärt es mir, bitte!«
Gorwyn legte erschöpft seinen Kopf an den Baumstamm. Sie konnte erkennen, dass er mit sich selbst rang, wie es Erwachsene taten, wenn sie versuchten, zu entscheiden, ob das Kind vor ihnen alt genug war, um etwas erklärt zu bekommen.
»Meister Gorwyn«, sagte sie mit zitternder Stimme, »ich bin siebeneinhalb.«
Normalerweise war dies eine Aussage, die ihn zum Schmunzeln und zum Nachgeben brachte. Dann fing er an zu erzählen und zu erklären, was dieses oder jenes Schutzzeichen bedeute. So war es üblicherweise.
Heute wurde der Ausdruck in seinen Augen noch trauriger. Er legte seine Hand behutsam auf ihren Scheitel.
»Es ist wegen dem, was vor zwei Wochen im Kristallpalast passiert ist, nicht wahr?«, mutmaßte sie. »Mit Königin Lamia?« Den Namen konnte man nicht vergessen. Er wurde viel zu oft genannt. Von allen. Von Brandon im Stall und von Meister Lewyn, wenn er mit ihrer Mutter sprach. Von ihrem Vater, wenn der sich mit der Garde beriet.
Gorwyn nickte langsam.
»Die Herrin des Kristallpalastes hat vor einem Monat eine Einladung ausgesprochen, die, wie du weißt, von deiner Mutter angenommen wurde, um – Verhandlungen zu führen. Politische Gespräche«, erklärte Gorwyn. »Doch sie konnten sich nicht einig werden.«
»Über was?«, fragte Lyraine. Der Erdalb schloss für einige Sekunden die Augen. Lyraine griff nach seiner Hand. Er sollte nicht einschlafen.
»Darüber, ob Königin Marielle dem Kristallhof Gefolgschaft schuldet oder nicht«, antwortete Gorwyn. Er blickte Lyraine unter schweren Augenlidern an. »Du weißt, dass Shayla einst aus elf traditionellen Höfen bestand«, sagte er dann leise, »und von elf verschiedenen souveränen Königinnen regiert wurde. Das ist schon lange nicht mehr so, Lyraine. Höfe sind … zerbrochen. Gefallen. Als Königin Lamia den zentralen Thron bestieg, übte sie einen sehr, sehr großen Einfluss auf die anderen Königinnen aus, und auf die Männer, die den Königinnen folgten.«
»Wieso haben die anderen Königinnen sich nicht zusammengeschlossen?«, fragte Lyraine atemlos.
»Weil manche von ihnen – das wollten, was Königin Lamia ihnen versprach: mehr Reichtum.« Gorwyn legte seine Hand auf Lyraines. Sie war kalt. Sehr kalt. »Mehr Macht.«
Lyraine senkte den Blick und versuchte, das Gesagte in Gedanken zu ordnen. In diesem Moment erfassten ihre Augen etwas, was sie vorher nicht richtig wahrgenommen hatte.
»Meister Gorwyn«, stieß Lyraine hervor, sich vorbeugend, »Ihr seid verletzt!«
Jetzt verstand sie, wieso Gorwyn sein Bein so merkwürdig hielt – eine Wunde klaffte darin. Lyraine zog den Stoff an seinem Oberschenkel leicht auseinander, obwohl der Erdalb sie davon abzuhalten versuchte.
Die Wunde war nicht groß, aber tief. Das Blut kam ihr entgegen, als sie die Haut berührte, und Gorwyn krümmte sich.
»Meister Gorwyn«, flüsterte Lyraine, »es tut mir leid – ich habe nicht gesehen …« Sie richtete sich auf. »Ich hole Hilfe.«
»Nein!« Gorwyn wollte sie wieder am Arm fassen, aber dieses Mal war sie schneller. Lyraine hob seine Jacke auf und breitete sie über seiner Brust aus. »Lyraine, du kannst nicht zurück zum Anwesen laufen. Dort – dort ist niemand mehr«, beschwor Gorwyn sie. Lyraine nickte. Niemand mehr.
»Versucht, ganz ruhig zu liegen«, bat sie den Truchsess, während sie schon die ersten Schritte machte. »Ich bin, so schnell es geht, wieder hier.«