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Kapitel 9

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Die Frau muss er so schnell wie möglich vergessen. Den ganzen Mittag hackt er Holz, während der Schweiß ihm in Strömen über den Körper läuft, an Bauch und Rücken hinunter bis in seine Hose. Es wäre doch gelacht, wenn er nicht einmal mehr das hinbekäme. So weit ist es noch nicht mit ihm gekommen. Das heute Vormittag ist nur passiert, weil diese lästige, verblühte Ballerina ihn gestört und aus dem Tritt gebracht hat. Als die Sonne hinter den Blättern der Linde verschwindet, muss er aufhören, weil er seine Arme nicht mehr heben kann. Er hat ein schönes Stück geschafft. Neben dem Klotz liegt ein großer Haufen neuer, frisch geschlagener Scheite. Nur ein bisschen ausruhen, dann kann er anfangen, die Scheite zu den anderen an die Hauswand zu tragen. Dazu könnte er die Schubkarre gut gebrauchen. Aber die steht noch im Gemüsegarten. Dort hat er keinen Fuß mehr hin gesetzt, seit... Erst etwas essen. Er hat nur zwei Scheiben Brot gehabt heute morgen.

Er wirft den letzten Scheit auf den Haufen. Seine Muskeln zittern vor Erleichterung und Erschöpfung. Hinter dem Haus riecht es komisch. Erst im letzten Moment sieht er das Erbrochene, kann es gerade noch vermeiden, mitten rein zu treten. Das muss diese Ziege gewesen sein. Belästigte ihn erst und kotzte ihm dann vor die Tür.

Im Kühlschrank sind noch fünf Scheiben Brot. Das Marmeladenglas ist zu mehr als der Hälfte geleert. Er muss Einkochen lernen. Aber um die Brombeeren zu ernten, müsste er in den Gemüsegarten. Heute abend genehmigt er sich drei Scheiben Brot. Schließlich hat er hart gearbeitet. Oder doch lieber nur zweieinhalb. Er ist ja noch nicht fertig mit dem Holz. Als er die erste Scheibe auf das Brettchen legt, sieht er einen pelzigen Schimmelfleck am Rand. Schneidet das Stück, auf dem der Schimmel sitzt, ab und schiebt es mit dem Messer auf das Zeitungspapier hinter dem Brettchen. Beißt ab und kaut. Das Brot schmeckt trocken und kalt.

In seiner Kindheit waren Brote warm und dufteten. Die Frauen brachten den Teig in Tücher gehüllt zum Backhaus hinter der Schule. Der Duft wehte bis ins Klassenzimmer, und jedes Mal lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Im Winter, wenn es durch die undichten Fenster zog und der kleine Ofen in der Ecke die Temperatur kaum über dem Gefrierpunkt halten konnte, verströmte der Duft des Brotes Wärme und Behaglichkeit. Er stellte sich vor, wie er es in seinen Händen hielt und daran roch, während er in Wirklichkeit mit seinen Fingern trotz der Handschuhe kaum den Griffel halten konnte. So auch an dem Wintertag, an dem Heinrich verschwand und ihn ins Elend stürzte. Der Duft des Brotes wiegte ihn in Sicherheit. Trügerischer Duft. Am Brot lernte er das Wesen des Betrugs kennen.

Die Zeitung sollte er abbestellen. Die liegt hier bloß nutzlos herum. Er liest schon lange keine Zeitung mehr. Grete ja, die hat immer gesagt, man muss wissen, was in der Welt los ist, gerade wir hier oben brauchen die Zeitung, weil wir sonst nichts mitkriegen. Da hat er nachgegeben, obwohl es Geld kostete, das sie eigentlich nicht hatten. Aber Grete hat das Geld gut genutzt. Wenn er zum Frühstücken kam, hatte die Zeitung schon Eselsohren und Marmeladenflecken, und ein paar Krümel lagen auf der ersten Seite. Sie legte sie immer ordentlich zusammengefaltet neben seinen Platz, obwohl sie wusste, dass er sie nie las. Aber sie wusste eben auch, dass er sie bezahlte.

Früher hat ihn die Zeitung interessiert. Da brachten sie manchmal etwas über das Dorf, vor allem, als die Politiker anfingen, den Leuten hier einzureden, dass sie es anderswo besser hätten. Er hat sogar ein paar Mal mit Zeitungsleuten geredet und wollte dann natürlich wissen, was sie hinterher über ihn schrieben. Grete hatte die Zeitung zuerst, und er sah immer schon an ihrem Gesicht, wenn etwas über Radorf und den Hof darin stand. Ihre Augenbrauen sanken dann nach unten hinter ihre dicken Brillengläser. Vergeblich versuchte sie, ihre Stirn zu glätten, wenn sie merkte, dass er sie beobachtete. Über das Umsiedeln waren sie immer unterschiedlicher Meinung gewesen. Aber er hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass er nicht gehen würde. Niemals. Sie wollten ihn, obwohl er erst in seinen Vierzigern war, zu einem alten Mann machen, der nutzlos in einer winzigen Stadtwohnung saß und von Sozialhilfe lebte. Arm zu sein, hätte ihn nicht gestört. Sie waren auch hier oben immer arm gewesen. Aber nutzlos sein – niemals. Er wusste, was Nutzlos-Sein bedeutet, seit er Herkules gewesen war. Willi Schmitz versuchte alles, um aus ihm wieder einen Herkules zu machen. Ausgerechnet er. Machte von seinem Bürgermeisterposten Gebrauch und stiftete den Grafen an, ihm den Pachtvertrag zu kündigen. Aber dieses Mal kämpfte er und gewann. Deshalb ist er noch hier. Der Sieg ist die Einsamkeit wert.

Mittlerweile kaut er den letzten Bissen der letzten für heute vorgesehenen Brotscheibe. Satt ist er noch nicht. Aber es muss reichen. Vom Wein ist immerhin noch genug da. Der hilft, den Hunger zu vergessen. Nicht nur den Hunger. Eigentlich dumm, dass er hier sitzt und sich sein Leben erzählt. Vergessen ist doch das Beste. Nicht so viel denken, nicht so viel erzählen. Damit hält man nur die Wunden offen. Er greift nach der Weinflasche neben dem Brettchen und setzt sie an die Lippen.

Findeltochter - Vaterkind

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