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Kapitel 4

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Nachdem die Frau gegangen ist, räumt er die Gläser ab und bleibt im Haus. Die restlichen Holzscheite müssen bis morgen warten. Günstig ist das nicht, denn die Luft ist so feucht heute abend. Vielleicht wird es über Nacht regnen. Aber er ist zu müde, um weiter zu arbeiten. Das Reden mit der Frau hat ihn müde gemacht. Er hat viel zu viel erzählt. Und geheult. Dabei hasst er undichte Männer. Er muss jetzt aufpassen, dass er nicht so ein alter Schwätzer wird, der nachher nicht mehr weiß, was er geredet hat. Seine Knie und Füße schmerzen, als er ins Schlafzimmer geht. Vor allem das linke Knie, das sie ihm kaputt geschossen haben. Seit Grete tot ist, spürt er die alten Wunden wieder stärker. In dem Augenblick, als er sie im Gemüsegarten hat liegen sehen, ist es ihm zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder so eng um die Brust geworden, dass sein Atem einige Sekunden lang stockte. Das alte Gefühl zu ersticken. Erst, als er wieder zu Atem kam, konnte er auch wieder denken. Die Grete legt sich doch nicht einfach so hin, dachte er. Die legt sich doch nicht einfach hier im Gemüsegarten so mitten auf den Weg. Das hatte sie nie getan, sich hinlegen, tagsüber, bevor die Arbeit erledigt war. Da wurde ihm alles klar. Sein Körper hatte es ja schon vorher gewusst. Er bückte sich, packte ihre schlaffen Handgelenke und schleifte sie über die Steinplatten aus dem Gemüsegarten hinaus vor das Haus. Die Stufen zum Eingang schaffte er nicht mehr. Also ließ er Grete auf dem Vorplatz liegen, in der Vormittagssonne, die heiß auf seinen Rücken brannte. Dann erst kam er auf die Idee, Dr. Zeitz anzurufen. Der gab ihm eine Beruhigungsspritze, nachdem er kurz Gretes leblosen Körper untersucht hatte, und sagte noch: „Sehen Sie zu, dass sich jemand um Sie kümmert, Sie sollten jetzt nicht allein sein“, bevor er wieder fuhr. Aber wer sollte das tun? Der Bestatter, den Dr. Zeitz angerufen hatte, kam, und seine Männer legten Gretes Körper in einen Zinksarg und nahmen ihn mit. Er kam noch gerade rechtzeitig auf die Idee, sie zu darum zu bitten, dass sie ihm ihre Kittelschürze daließen. Tasso jaulte zuerst noch leise vor sich hin und schnüffelte in allen Ecken des Hauses nach Gretes Geruch. Dann wurde es still. Es war meist still hier oben, außer in den Ferien und an den Wochenenden, wenn Gäste kamen, aber diese Stille war besonders. Sie umgab das Haus wie eine dickflüssige Substanz, die jede Bewegung lähmte und das Atmen schwer machte. Er ging ins Haus, aber sie war auch dort und drückte auf seinen Brustkorb. Sie beugte ihn. Er strengte sich an, sich aufzurichten, aber es gelang ihm nicht.

Im Schlafzimmer angekommen, lässt er sich schwer auf die Bettkante fallen und holt noch einmal mühsam tief Luft, bevor er Hemd und Strickjacke gleichzeitig über den Kopf zieht. Dabei streift seine Hand die Kuhle neben seinem Brustbein, wo zwei Rippen fehlen. Unwillkürlich hält er die Luft an, als habe er nicht gelernt, trotz dieser Kuhle und der leichten Krümmung, die sie seinem Körper aufzwingt, ruhig zu atmen. Gretes Tod hat die Jahre ausgelöscht. Er ist wieder Herkules geworden. Dieser Name. Jahrzehnte ist es ihm gelungen, ihn aus seinem Gedächtnis zu streichen. Zuerst mit Mühe, weil er sich immer wieder wie ein ungebetener Gast in seine Erinnerung drängte. Später verschwand er von selbst. Grete hatte ihn nie von ihm gehört. Sie wusste nicht, dass es eine Zeit in seinem Leben gegeben hatte, in der dieser Name ihm zugefügt worden war wie ein Brandmal. Er hätte nicht sagen können, wozu er imstande gewesen wäre, wenn sie es erfahren hätte. Ihr Nichtwissen war alles entscheidend. Dadurch konnte er vergessen. Bis jetzt.

Er greift nach Gretes Kittelschürze, die auf seinem Kopfkissen liegt, presst den vom vielen Waschen weich gewordenen Stoff vor sein Gesicht und atmet den Geruch von Erde und Gretes Haut ein, versucht, den Damm zwischen sich und seiner Erinnerung wieder zu errichten. Was soll er tun, wenn der Geruch verschwunden sein wird? Schon jetzt fällt es ihm Abend für Abend schwerer, ihn wiederzufinden. Er muss mit seiner Nase tief in den Stoff eintauchen. Aber sobald er ihn riecht, geht sein Atem leichter und die zähflüssige Stille entlässt ihn für einen Augenblick aus ihrer Umklammerung. Noch am Abend des Tages, an dem sie Gretes Körper weggebracht haben, hat er ihren Kittel neben sich auf das Kopfkissen gelegt. Es war fast, als sei sie noch da, neben ihm, mit dem leichten, unhörbaren Atem des ersten Schlafes.

Herkules. Dieses Mal schützt Gretes Geruch ihn nicht. Der schnoddrige Berliner Tonfall, in dem das gesagt wurde. Herablassend, mit leichter Ironie, als sei der Name ein guter Witz. Grete hat nie so mit ihm reden dürfen. Ein bisschen berlinern ja, aber nicht so. Mit der Zeit hat sie es sich ganz abgewöhnt. Gut so. Jetzt kehrt diese verfluchte Stimme zu ihm zurück. Dabei gehört auch sie einer Toten. Warum überlebt eine Stimme fast fünfzig Jahre, ein Geruch aber nicht einmal ein paar Tage?

Er hat die Frau vergessen, die heute da war. Die hat so ähnlich geredet wie die, die ihn Herkules genannt hat. Die ist Schuld, dass er das Brandmal auf einmal wieder spürt. Dieses Rabenaas. Tut harmlos in einem albernen Ballettröckchen, für das sie viel zu alt ist. Versteckt ihr Haar. VERSTECKT IHR HAAR. Er knüllt Gretes Kittelschürze zusammen und schleudert sie in eine Ecke. Die Frau soll es nur nicht wagen wiederzukommen.

Findeltochter - Vaterkind

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