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Kapitel 16

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Irgendwie gelang es ihr, ohne Unfall zur Pension zurückzufahren. Als sie den Wagen abschloss, nahm sie wie durch einen Nebel wahr, dass die Sonne noch im mittäglichen Zenit stand. Trotzdem tat ihr Körper weh vor Erschöpfung. Ihre Glieder waren bleischwer und schmerzten wie bei einer heraufziehenden Grippe. Sobald sie im Zimmer war, schlug sie die Bettdecke zurück und zog sich aus, um sich hinzulegen. Als sie die Kleider abstreifte, fühlte ihre Haut sich wund und aufgerieben an.

Die Treppenstufen sind kalt unter ihren nackten Fußsohlen, und ein Splitter bohrt sich in ihre Ferse. Doch sie kann sich nicht darum kümmern. Das Erbrochene sammelt sich schon in ihrem Mund. Sie muss schleunigst die Toilette erreichen. Die Tür ist unverschlossen. Ein Glück. Im nächsten Augenblick beugt sie sich über die Schüssel. Ihr Magen krampft sich zusammen. Das Halbverdaute brandet in großen Wellen ihre Speiseröhre hinauf. Sie muss spucken und spucken und kann nicht denken. Dann ist es vorbei. Sie richtet sich auf, wischt sich mit dem Toilettenpapier den Mund ab und spült. Danach entriegelt sie die Tür und steigt langsam die Treppe hoch. Tante Hannelore erwartet sie mit verschränkten Armen in der geöffneten Wohnungstür. Sie lässt ihr keine Zeit hereinzukommen, bevor sie sagt:

„Mein liebes Fräulein, glaubst du eigentlich, du kannst mich noch länger an der Nase herumführen? Wie lange willst du warten, bis du endlich den Mund aufmachst?“

Sie erstarrt. Es ist doch noch so frisch. Sie hat selbst kaum Zeit gehabt, sich an den Gedanken zu gewöhnen. Daran, dass es ihre kleine Tochter ist, die ihr jeden Morgen diese Übelkeit verursacht. Immer noch zieht sich ihr Herz ängstlich zusammen bei dieser Vorstellung. Ist sie mit vierzehn nicht doch noch zu jung? Auch wenn sie einem bei der Jugendweihe erzählen, man sei schon erwachsen. Auch Tante Hannelore und ihre Mutter haben das getan. Bloß nicht an Mutter denken. Doch jetzt hat sie eine Chance. Sie wird selbst Mutter. Sie wird immer für ihre Tochter dasein, immer zu ihr halten. Sie nie verlassen. Seit ihr das klar geworden ist, sieht sie die Kleine vor sich, wie sie ihre winzigen Hände und Arme nach ihr ausstreckt. Sieht ihre erwartungsvollen Augen. Es ist gut, was passiert ist. Trotz ihrer Angst. Sie braucht keine Mutter mehr. Die Treue, die zwischen einer Mutter und ihrer Tochter sein soll, wird sie neu erschaffen. Mit dieser Kleinen.

„Hörst du mir überhaupt zu?“

Tante Hannelore sieht weiterhin mit verschränkten Armen auf sie herab. Sie ist immer noch viel größer als sie selbst. Und so dick. Früher hat sie nie Angst gehabt vor ihrem großen Körper. Jetzt schon. Er ist wie ein riesiger Schatten, der auf ihr Leben fällt, der sie erdrückt, ihr keine Luft zum Atmen lässt.

„Wenn du glaubst, du kannst das hier einfach aussitzen, bis es zu spät ist, hast du dich geirrt. Ich sehe nicht noch einmal zu, ohne etwas zu unternehmen.“

Was meint Tante Hannelore mit „noch einmal“? Plötzlich fasst sie Mut.

„Du kannst nichts machen.“

Sie hört den Triumph in ihrer eigenen Stimme, stemmt die Hände in die Hüften.

„Es ist verboten.“

Sie wagt nicht, das Wort auszusprechen. Die Kleine soll es nicht hören.

„Willst ausgerechnet du mir erzählen, was verboten ist?“

In Tante Hannelores Mund sitzt die gehässige Schlange, die sie seit kurzem regelmäßig heimsucht. Seit genau neun Wochen und einem Tag. Sie speit Feuer, unter dem Tante Hannelores Stimme zu Asche zerfällt. Aus dem kalten Rauch steigen Worte auf wie giftige Schwaden.

„Ich finde eine Möglichkeit, dir dieses Balg auszutreiben.“

„Aber ich will nicht. Ich will die Kleine behalten.“

„Kommt nicht in Frage. Ich lasse mir nicht noch ein Kind aufdrängen.“

Tante Hannelore hat sich keinen Zentimeter vom Fleck gerührt. Sie steht so dicht vor ihr, als wolle sie ihr den Zutritt zur Wohnung verweigern, solange sie das Kind in ihrem Leib trägt. Sie könnte sie wegschicken, in ein Heim. Ihre Knie fangen an zu zittern. Doch sie wehrt sich gegen die Angst. Ein Gedanke fliegt sie an wie ein Raubvogel, nistet sich in ihrem Kopf ein, drückt gegen ihre Schädeldecke. Sie ist nicht die einzige, die Angst haben muss.

„Wenn du versuchst, mich zu zwingen, zeige ich dich an.“

Langsam sinken Tante Hannelores Arme neben ihrem Körper herab. Sie kann förmlich spüren, wie die große, schwere Gestalt vor ihr erkaltet. Edith wagt nicht, ihr in die Augen zu sehen, aber sie hört ihren Atem gehen. Stoßweise, als habe ihr jemand die Luft abgeschnürt. Dann trifft ein Schlag ihre Wange und hinterlässt eine heiße Stelle auf ihrer Haut. „Wag es noch einmal, mir zu drohen.“

Tante Hannelores Hände packen ihre Arme. Die Fingerkuppen graben sich schmerzhaft unter ihre Sehnen, sodass sie einen Aufschrei nicht unterdrücken kann.

„Wag es noch einmal.“

Tante Hannelores Stimme schlägt ihr gellend ins Gesicht. Dann stößt sie zu, stößt ihren Körper mit aller Kraft von sich weg. Sie taumelt nach hinten, versucht vergeblich, sich abzufangen, fällt und prallt mit Rücken und Kopf gegen das Treppengeländer. Ihr wird schwarz vor Augen. Eine endlose Weile dreht sich alles in ihrem Kopf. Dann ist mit einem Mal das Tier da. Jemand hat es in ihren Körper eingesperrt, es rennt von innen gegen ihn an, gegen ihre Arme und Beine, gegen ihren Rücken, ihre Brust und ihren Unterleib. Vor allem gegen ihren Unterleib. Das Tier füllt ihn jetzt ganz aus mit seinem viel zu großen Körper. Es schlägt seine scharfen Zähne von innen in ihr Fleisch. Sie bäumt sich auf. Eine große Kälte schüttelt sie.

„Kind. Das wollte ich nicht.“

Tante Hannelore kniet neben ihr, versucht, ihr den Arm um die Schultern zu legen.

„Steh auf. Komm ich helfe dir.“

Sie wehrt sie ab und fällt zurück. Doch das Tier reißt ihren Oberkörper wieder hoch. Es wütet , stößt sich wund, beginnt zu bluten. Das Blut rinnt zwischen ihren Beinen aus, heiß und klumpig.

„Mein Gott.“

Tante Hannelores Stimme klingt jetzt wie eine Metallscheibe, über die ein Nagel gezogen wird.

„Rüdiger, wir brauchen einen Arzt!“

Das Tier kommt in seinem Blut aus ihrem Körper gekrochen und verströmt einen fauligen Atem. Der Atem hüllt sie ein, ein betäubender Nebel, durch den sie gerade noch sieht, wie Tante Hannelore in die Wohnung läuft. Dann legt er sich über sie wie ein schweres Tuch.

Als sie zu sich kommt, liegt sie auf einem schmalen, vibrierenden Bett. Über ihr heult das Tier. Doch dann begreift sie, dass sie in einem Krankenwagen fährt. Sie öffnet die Augen. Rüdiger kauert neben ihr, mit einem verzerrten Gesicht. Sein Blick schreit. Stirb nicht. Seine Lippen sind fest geschlossen. Vor Anstrengung, den Schrei zurückzuhalten, haben sie sich mit einem glitzernden Speichelfilm überzogen. Später wacht sie in einem Krankenhausbett auf. Tante Hannelores Körper ist ein riesiger Schattenriss vor dem großen Fenster. Der Schattenriss nähert sich, beugt sich über sie. Sie spürt Tante Hannelores Hand auf ihrer Schulter. Die Hand ist kalt.

„Du wirst sehen, es wird alles gut. Es ist besser so, glaub mir.“

In ihrer Stimme zittern zurückgehaltene Tränen. Warum weint sie? Die Kleine. In dem Blut war die Kleine. Die Erkenntnis kommt wie ein Schlag mit der Faust.

„Wo ist sie?“

Ihr Atem streicht kalt über ihren Gaumen. Sie kann ihre eigene Stimme kaum hören.

„Denk nicht mehr daran. Später wirst du verstehen.“

Der große Schatten wendet sich von ihr ab. Die Hand löst sich von ihrer eingefrorenen Schulter. Durch die unverdeckte Fensterscheibe fällt das grelle Sonnenlicht sie an. Abends kommt Rüdiger und setzt sich zu ihr ans Bett. Sein Blick ruht wachsam auf ihrem Gesicht, mit der künstlichen Ruhe glatt geschliffenen Bernsteins.

„Wie geht es dir?“

Weiß er? Sie sucht in seinen Augen nach einer Antwort. Auf dem Grund des Bernsteins zuckt es für den Bruchteil einer Sekunde hell auf. Ist das eine Spiegelung der Nachttischlampe oder weiß er von der Kleinen?

„Besser“, antwortet sie. Dieses Mal ist das Zucken deutlich zu sehen.

„Nein, das ist untertrieben. Es geht mir sehr gut.“

Undenkbar, dass Rüdiger das wirklich hatte glauben können. Doch es war ohnehin die Zeit der Lügen und fragwürdigen Verpflichtungen.

„Mach bitte kein Licht. Sie haben Mutter verhaftet.“

Sie war zu ihm gegangen und hatte leicht seine Schulter berührt.

„Es ist meine Schuld.“

Er antwortete nicht. Sie setzte sich zu ihm und hielt seine Hand. Wie lange hatte es gedauert, bis ihr die Wölbung unter dem Stoff von Rüdigers Hose zu Bewusstsein gekommen war? Zuerst sah sie weiter starr geradeaus, als habe sie nichts bemerkt. Doch dann hörte sie ihn atmen und spürte seinen Blick auf ihrer Wange. Gelegenheit, etwas gut zu machen, dachte sie und drehte sich zu ihm.

„Komm.“

Sie öffnete die Augen und umklammerte die Bettkante. Sieh dir das Zimmer an, sagte sie sich. Konzentrier dich auf die Einzelheiten. Die Tür, die Decke, das Fenster. Sie redete in Gedanken auf sich selbst ein wie auf ein verängstigtes Kind und ließ ihren Blick über die Gegenstände gleiten. Ihr Atem beruhigte sich. Das Telefon. Sie sollte jemanden anrufen.

Findeltochter - Vaterkind

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