Читать книгу Findeltochter - Vaterkind - Silke Grigo - Страница 5
Kapitel 3
Оглавление„Warum tanzt du nie?“
„Mit wem denn?“
Ihre Mutter nahm gerade einen Teller aus der Geschirrablage neben der Spüle und rieb ihn mit einem Tuch trocken. Sie unterbrach ihre Arbeit nicht, während sie antwortete, und sah sie auch nicht an. Ihre dichten Locken fielen über ihre linke Schläfe und Augenbraue. Immer sorgte ihre Mutter dafür, dass die rosige Narbe bedeckt war, die einen Wulst über ihrer linken Braue bildete. Edith konnte das verstehen. Die Narbe war wirklich hässlich. Aber es war schade, dass damit auch der Blick ihrer Mutter oft vor ihr verborgen blieb. So auch jetzt.
„Mit mir vielleicht.“
Ihre Mutter stieß ein Lachen aus, aber es klang nicht fröhlich, eher wie das wütende, abgehackte Bellen eines Hundes, den man versehentlich getreten hat. Sie kam zum Tisch und stellte den Teller vor sie hin, mit einer solchen Wucht, dass er ein lautes, klackendes Geräusch auf der Tischplatte machte.
„Fang schon mal an zu essen, sonst kommen wir zu spät zum Kindergarten.“
Edith griff nach einer Brotscheibe und schmierte Marmelade darauf. Butter gab es zur Zeit nicht.
„Warum kann Tante Hannelore so schön tanzen?“
„Sie hat früher mit ihrem Mann getanzt, als er noch lebte. Und jetzt hör auf mit dem Quatsch.“
„Hast du mit meinem Vater auch getanzt?“
Ihre Mutter zermalmte den Brotbissen, den sie gerade in den Mund gesteckt hatte, mit so schnellen und heftigen Bewegungen, dass ihre Kaumuskeln unter der Haut hervortraten. Sie sah starr auf ihren Teller.
„Du hast keinen Vater.“
„Aber...“
„Kein Aber. Und jetzt will ich nichts mehr hören. Mach voran.“
Ihr Stimme überschlug sich wie immer, wenn sie wütend war. Sie hatte überhaupt eine besondere Stimme. Sie klang, als seien die hohen Töne herausgeschnitten worden und nur ein paar tiefe, heisere übrig geblieben. Man wusste nie im Voraus, wann sie beim Sprechen die Lücken erwischte. Wenn das geschah, wurden die Buchstaben und Wörter zu einem rauhen Hauch. So auch jetzt. Vom „nichts“ waren nur das „ch“ und das „ts“ hörbar, ein empörtes Zischen. Es war besser, nicht mehr zu widersprechen, auch wenn Edith wusste, dass das, was ihre Mutter behauptete, nicht stimmen konnte. Alle Kinder hatten schließlich einen Vater. Vielleicht wusste Tante Hannelore etwas über ihren. Sie beschloss, sie zu fragen, wenn sie wieder zum Haareschneiden musste.
Tante Hannelore schenkte ihr ein Erdbeerbonbon, nachdem sie auf dem Stuhl vor einem der Spiegel Platz genommen hatte, und hüllte sie in einen Plasteumhang.
„Na, wie geht es deinem Tänzer?“
„Gut. Wir tanzen jeden Abend vor dem Einschlafen.“
Tante Hannelore lachte. Es sah aus, als führe eine Brise in die großen Blütenblätter auf ihrem Kittel.
„Das ist gut. Bestimmt hast du danach schöne Träume, stimmt´s?“
Edith nickte. Warum konnte ihre Mutter nicht ein bisschen so sein wie Tante Hannelore? Ihre Mutter war schöner und klüger. Aber man durfte sich selten richtig freuen in ihrer Gegenwart. Dann wurde sie meist ärgerlich.
„Haare so wie immer?“
Tante Hannelore hielt die Schere schon in der Hand.
„Mama will sie wieder ganz kurz.“
„Und du?“
„Ich nicht. Immer denken die Leute, ich bin ein Junge.“
„Dann lassen wir hier ein paar Locken stehen.“
Tante Hannelore berührte leicht die Haare, die in ihre Stirn fielen.
„Einverstanden?“
„Mama wird schimpfen.“
„Ich rede mit ihr, versprochen.“
Dann strich sie ihr behutsam über den Kopf und begann zu schneiden.
Edith beobachtete sie eine Weile im Spiegel, sah ihren zufriedenen Gesichtsausdruck unter der blonden, helmartigen Frisur, während sie über ihren Hinterkopf gebeugt dastand, sah ihren großen Busen, der sich unter ihren ruhigen Atemzügen auf- und abbewegte. Schließlich fiel ihr wieder ein, was sie sich für heute vorgenommen hatte.
„Kennst du eigentlich meinen Vater?“
Tante Hannelores Busen hörte schlagartig auf sich zu bewegen, und die Schere schwebte für ein paar Sekunden über ihrem Kopf.
„Wie kommst du darauf?“
„Mama behauptet, ich habe keinen, aber das kann ja nicht stimmen.“
Tante Hannelores Atem setzte wieder ein, mit einem tiefen Seufzer.
„Er ist tot.“
„Hast du ihn gekannt?“
„Nein. Und deine Mutter spricht nicht gerne über ihn, weil es ihr zu weh tut.“
„Ist sie traurig, dass er tot ist?“
„Ja sicher.“
„Aber dein Mann ist auch tot und bei euch zu Hause steht ein Bild von ihm.“
„Vielleicht hat deine Mutter keins.“
„Sagst du zu Rüdiger auch, dass er keinen Vater hat?“
„Nein.“
Tante Hannelore starrte die ganze Zeit ihr eigenes Gesicht im Spiegel an, während sie antwortete. Das tat sie sonst nie. Und ihre Worte klangen, als habe jemand sie säuberlich nebeneinander auf eine eiserne Stange gespießt, damit keines besonders hervorstach. Da begriff Edith, dass es keinen Zweck hatte weiterzufragen. Sie beschloss, dass ihre Vaterlosigkeit ein Ende haben musste. Sie würde sich nicht länger damit abfinden.