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Kapitel 6
ОглавлениеDer Schlagbaum war noch immer abgeschlossen. Also parkte sie auf einem schattigen Seitenpfad und machte sich zu Fuß auf den Weg. Während sie auf die Hofeinfahrt zuging, hallten Axtschläge durch die Luft. Dann sah sie den Alten. Er stand mit erhobenen Armen da und holte mit erstaunlichem Schwung aus. In der nächsten Sekunde sauste die Schneide auf das Holz nieder, das auf dem Hackklotz lag. Für den Bruchteil eines Augenblicks blitzte das Metall im Sonnenlicht auf, bevor das Holz genau in der Mitte auseinanderbrach. Währenddessen trabte der Hund in einiger Entfernung auf dem Hof im Kreis und verschwand dann in einem Unterstand mit angerosteten Geräten. Der Alte bückte sich, nahm das nächste Holzstück auf und legte es auf den Hackklotz. Dann hob er wieder die Axt mit beiden Händen über den Kopf. Sie sah, dass seine Arme fast unmerklich zitterten, aber auch, dass sie immer noch muskulös waren. Er führte den nächsten Schlag aus, aber der ging daneben. Die Schneide blieb im Klotz stecken, und der Alte hatte Mühe, sie wieder herauszuziehen. Er bewegte ein paar Mal den Griff wie einen verkeilten Hebel, legte dann eine Pause ein und wischte sich mit einem zerknüllten und durchgeweichten Stofftaschentuch den Schweiß von der Stirn. Sie sah, wie sein Bauch sich im Rhythmus seiner heftigen Atemstöße abwechselnd vorwölbte und zurückzog, während die Brust starr blieb. Er bemerkte sie nicht. Daher beschloss sie, einfach weiterzugehen. Der Hund hatte nicht angeschlagen, also würde er sie wohl nicht mehr wie einen Eindringling behandeln. Trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass ihr Atem etwas schneller ging und sie ein paar Schweißperlen auf ihrer Brust spürte, während sie die Hofeinfahrt hinter sich ließ.
Sie näherte sich dem Alten, rief: „Guten Morgen!“ und bemühte sich, dabei unbeschwert zu klingen. Der Alte sah gar nicht zu ihr hin und machte eine Handbewegung, als verscheuche er ein lästiges Insekt.
„Gehen Sie! Ich habe keine Zeit!“
Wieder packte er den Stiel der Axt und rüttelte daran.
„Ich habe gestern vergessen zu bezahlen.“
Noch immer würdigte der Alte sie keines Blicks und fuhr mit seinen Bemühungen fort.
„Hau´n Sie ab!“
Im selben Moment, in dem er das sagte, löste sich die Schneide aus dem Klotz. Der Alte ließ sie auf dem Holz ruhen, hielt den Stiel fest und keuchte. Dann riss er auf einmal die Axt blitzschnell hoch über seinen Kopf, drehte sich in ihre Richtung und brüllte:
„Haben Sie nicht gehört? Oder soll ich Ihnen Beine machen?“
Sie erstarrte. Sah, wie seine Hüfte seitlich einknickte und er taumelte. War plötzlich bei ihm, ohne zu wissen, wie sie dorthin gekommen war, stemmte eine Hand gegen seine Schulter, um seinen Fall abzuwehren, griff mit der anderen nach dem Stiel und schleuderte die Axt fort. Durch ihre Seite zuckte ein reißender Schmerz. Sie presste auch die andere Hand gegen seine Schulter, spürte sein Gewicht. Es gelang ihr, seinen Körper zu halten und aufzurichten. Er keuchte, als würde er im nächsten Augenblick ersticken. Sie hielt weiter seine Schulter fest, wartete, bis er wieder ruhig atmete. Es dauerte lange.
„Können Sie allein stehen?“
Er nickte. Langsam ließ er sich auf dem Hackklotz nieder und senkte den Kopf. Er wirkte benommen. Seine Haare waren verklebt und strähnig. Auf seiner stark geröteten Glatze perlte Schweiß.
„Haben Sie einen Hut? Sie holen sich sonst einen Sonnenstich.“
„In der Küche. Hinten.“
Er sprach leise und atmete wieder schwer.
Sie ging hinter das Haus und betrat die Glasveranda. Drinnen herrschte Chaos. Ein schaler Geruch nach ungewaschener Kleidung, faulenden Essensresten und Schmutz sickerte wie eine zähflüssige Masse in ihre Nase. Sie bekam das Gefühl, ihre Nasenlöcher verschlössen sich. An der linken Wand stand eine Spüle, auf der sich ungewaschenes Geschirr türmte. Der Topf auf dem Herd daneben war mit schimmligen Überresten einer Soße verklebt. Sie wandte den Blick nach rechts zu einem Küchentisch, der mit weiteren Geschirrstapeln, schmutzigen Gläsern und alten, noch säuberlich zusammengefalteten Zeitungen bedeckt war. Da, wo der einzige Küchenstuhl stand, lag ein krümelübersätes Frühstücksbrettchen mit einem marmeladebeschmierten Messer, auf dem Fliegen krabbelten. Neben dem Brettchen stand eine durchsichtige Flasche mit der blassgelben Flüssigkeit, die der Alte ihr gestern als Holunderbeerwein vorgestellt hatte. An der Stuhllehne hing ein brauner Hut aus Wildleder mit einer weichen Krempe. Er sah genauso aus wie der, den der junge Otto Guse auf dem Foto trug. Sie griff danach. Dann nahm sie ein Glas vom Tisch, spülte es aus und füllte es mit Wasser. Auch um die stinkenden Teller in der Spüle summten Fliegen.
Draußen wurde ihr übel, und ihr Mageninhalt schoss in ihre Kehle. Sie kam gerade noch dazu, sich vorzubeugen und Hut und Glas so weit wie möglich von sich weg zu halten, bevor sie sich übergeben musste. Es dauerte nur Sekunden. Das Erbrochene schoss aus ihrem Mund wie herauskatapultiert. Danach war ihr Mund trocken und ihr schwindelte. Der Hund kam um die Ecke getrabt und steckte seine Nase hinein. Sie sah zu, dass sie so schnell wie möglich wieder zu dem Alten kam.
„Hier.“
Ihre Stimme klang noch belegt, aber ihr Magen hatte sich beruhigt. Der Alte saß immer noch mit gesenktem Kopf auf dem Klotz, aber als er sie hörte, sah er hoch und nahm Hut und Glas entgegen.
„Danke.“
Er trank das Glas mit bedächtigen Schlucken in einem Zug leer.
„Ah, das tut gut.“
Sein Seufzer klang behaglich. Da fing ihr Körper auf einmal an zu zittern.
„Ich habe ja Glück gehabt, dass Sie nicht mehr so gut in Form sind.“
„Warum?“
Er sah zu ihr hoch, als wisse er nicht, wovon sie redete. Die Krempe lag halb über seinen Augen, was sie unter anderen Umständen lächerlich gefunden hätte.
„Sie wollten doch mit der Axt auf mich einschlagen.“
„Ach was. Ich wollte weiter Holz hacken und habe mich dabei kurz zu Ihnen umgedreht.“
„Und gebrüllt, dass Sie mir Beine machen.“
Er sah wieder vor sich hin.
„Ich habe mich geärgert, weil Sie mich gestört und nicht locker gelassen haben.“
Die Beschuldigung verschlug ihr für einen Moment die Sprache. Sie war also verantwortlich dafür, dass es so weit gekommen war. Noch während sie überlegte, ob es klug war, weiter mit ihm zu streiten, sagte er:
„Gute Frau, ich mache Ihnen einen Vorschlag. Sie behalten das Geld und lassen mich in Ruhe. Die Gastwirtschaft ist nämlich geschlossen.“