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Kapitel 14

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Am nächsten Morgen wurde Edith von der ungewohnten Helligkeit im Zimmer wach. Zuerst glaubte sie, verschlafen zu haben, doch beim Blick auf ihren Wecker stellte sie fest, dass es noch nicht einmal sieben Uhr war. Sie hatte lediglich vergessen, die Jalousie über dem schrägen Dachfenster herunterzulassen, sodass die Sonne bereits auf ihre Bettdecke schien. Erntewetter.

„Kommt ihr morgen in den Schrebergarten? Es soll sonnig werden.“

Tante Hannelore wand sich mit energischen Schulterbewegungen aus ihrem Kittel und warf ihn in den Wäschesack. „Warum nicht? Mir tut es gut, an meinem freien Sonntag vor die Tür zu kommen, und Edith sicher auch.“

Ihre Mutter warf einen Blick in den Spiegel und strich ihr frisch geschnittenes Haar hinter das Ohr. Natürlich nur an ihrer rechten, schönen Seite. Sie sah sich selbst in die Augen, mit einem kleinen hellblauen Zwinkern, als beglückwünsche sie sich. Edith spürte die Vorfreude wie einen erfrischenden Windstoß in ihrer Brust.

Am anderen Morgen waren sie früh da. Während sie über den schmalen Weg auf das Tor zugingen, das zu Tante Hannelores Schrebergarten führte, griff ihre Mutter nach ihrer Hand und drückte sie.

„Heute machen wir uns einen schönen Tag, meine Kleine.“ Ihre Stimme klang weich. Eine leichte Morgenbrise strich über die Hecke neben dem Weg. Tante Hannelore hatte schon den großen Tisch vor der Laube gedeckt. Kaffeeduft wehte zu ihnen herüber. Rüdiger kniete etwas weiter entfernt in einem der säuberlich voneinander abgegrenzten Beete und zog Möhren aus dem Boden. Sein nackter Oberkörper war gebräunt, und seine Wirbelsäule glänzte im Sonnenlicht wie ein zarter Wellenkamm auf der Oberfläche eines Sees. Als er sie sah, stand er auf, wischte mit einer schnellen Handbewegung ein paar Erdklumpen von seinen Hosenbeinen und kam zu ihnen.

„Morgen.“

Er reckte sich und gab ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange. In den letzten Wochen war er gewachsen, trotz seiner erst elf Jahre, sodass seine Stirn ihr jetzt bis zum Kinn reichte. Edith hatte sich noch nicht daran gewöhnt, dass seine Augen nicht mehr mit ihren auf einer Höhe waren. Sie sahen jetzt auf sie herunter und schienen auf einmal schwarz verschattet, während sie früher von einem durchsichtigen Braun gewesen waren, das der Farbe des Bernsteins glich. Auch die Art, wie er sie begrüßte, hatte sich verändert. Früher hatte er sie nur kurz angesehen, als genüge die Begegnung ihrer Augen auf ein- und derselben Höhe. Jetzt gab er ihr die Hand, und sein Blick stahl sich suchend aus dem Schatten seines Gesichts hervor, tastete mit einer neuen Unsicherheit nach ihrem, als müsse er sich erst daran gewöhnen, den Höhenunterschied zu überwinden. Sein behutsamer Händedruck bat um ihre Aufmerksamkeit. Wenn sie geradeaus sah, fiel ihr Blick auf seinen schmalen Oberkörper, und seine Augen suchten vergeblich nach ihren.

Tante Hannelore kam mit einem Korb voller Brötchen aus der Laube, stellte ihn auf den Tisch und breitete ihre Arme aus.

„Ihr kommt gerade rechtzeitig, meine Lieben.“ Die vertraute Geste ihrer großzügigen Umarmung und die ebenso vertraute Anrede umschlossen ihre Mutter und sie gemeinsam, als lege sie Wert darauf zu zeigen, dass ihr Wohlwollen nicht nur jeder einzelnen von ihnen galt, sondern ebensosehr der Tatsache, dass sie zusammengehörten. Meist berührte Tante Hannelore sie dabei nicht. Mit der weit ausgreifenden Gebärde schuf sie einen Raum, der in seiner Größe unbestimmt blieb, als sei sie nicht sicher, wie eng oder weit er sein musste, um ihnen beiden genügend Platz zu bieten und sie doch eine Gemeinsamkeit fühlen zu lassen. Immer kam Edith diese Geste vor wie eine Aufforderung zur Versöhnung. Heute blieb Tante Hannelore jedoch mit ausgebreiteten Armen stehen, bis sie den Tisch erreicht hatten, legte dann jeder von ihnen eine Hand auf die Schulter und drückte sie kurz, bevor sie losließ.

„Esst erst einmal, bevor wir an die Arbeit gehen.“

Sie schwelgten in Marmeladen. Die Düfte nach sämtlichen Früchten des Gartens vermischten sich ungehindert über den Gläsern, von denen Tante Hannelore die Deckel abgenommen hatte. Edith hätte in die Luft beißen und sich die Fülle der Aromen im Gaumen und auf der Zunge zergehen lassen mögen. Doch es war ebenso gut, ein Brötchen nach dem anderen zu schmieren und sich dem Geschmack von Erdbeeren, Quitten, Stachelbeeren, Rhabarber, Kirschen und Pflaumen nacheinander hinzugeben. Ihre Mutter biss von ihrem Brötchen ab und kaute selbstvergessen, ohne darauf zu achten, wieviel Edith aß. Hier draußen gab es keine Ermahnungen und keine besorgte Kontrolle. Sie hatten alle dieselbe Aufgabe vor sich und stärkten sich dafür.

Danach pflückte sie zusammen mit ihrer Mutter Erdbeeren. Sie arbeiteten in zwei nebeneinander liegenden Reihen. Ihre Mutter hockte in einer eng gebundenen Trägerschürze zwischen den Stauden und summte eine Melodie. Ihre Stimme klang weder brüchig noch besonders tief. Die Melodie schien sie geschmeidig zu machen, während gesprochene Worte sie aufrieben. Trotzdem sang ihre Mutter nicht oft. Edith hielt einen Moment inne und wagte einen langen Blick hinüber. Ihre Mutter pflückte geschickt die Erdbeeren vom Strauch, zügig, aber ohne Hast. Ihre Fingerkuppen leuchteten in einem saftigen Rot. Kurz unterbrach sie ihre Melodie, führte die Kuppen an die Lippen, steckte eine nach der anderen in den Mund und leckte sie ab. Dann strich sie das Haar auf beiden Seiten hinter die Ohren. Ihre Stirn und beide Augenbrauen lagen ungeschützt im Sonnenlicht. Die Narbe glänzte, doch ihre Mutter bemerkte es nicht.

„Was ist das für ein Lied?“

„Es ist mir gerade eingefallen.“

Ihre Mutter zwinkerte ihr zu. Ihr Gesicht glich für eine Sekunde einem Spiegel, der einen Sonnenstrahl auffing und zurückwarf. Nach einer Pause setzte sie hinzu:

„Hast du Lust, mit mir zu singen?“

Edith nickte und stimmte sofort ihr Lieblingslied an:

„Blaue Wimpel im Sommerwind, wehn, wo fröhliche Kinder sind.“

Wenn sie sich an den Pioniernachmittagen manchmal ein Lied wünschen durfte, wählte sie immer dieses. Heute passte es besonders gut. Sie trug zwar nicht ihre Uniform, aber kein Kind konnte fröhlicher sein als sie an diesem Tag, an dem sie zusammen mit ihrer Mutter im Erdbeerbeet saß und sang. An dem ihre Mutter ihre nackte Stirn in die Sonne hielt und der unheimliche, gestaltlose Schatten zwischen ihnen verschwunden war, so endgültig, dass sie hoffte, er würde nie mehr zurückkehren. Als sie zur zweiten Strophe kamen, hörte sie Rüdigers klaren Jungensopran.

„Rings die ernteschweren Auen sind vor Freude licht und laut. Was die Väter kühn erbauen, ist uns morgen anvertraut.“

Tante Hannelore näherte sich schmunzelnd mit ihrem alten Fotoapparat, den sie über den Krieg gerettet hatte. Sie drückte auf den Auslöser.

Edith öffnete die Augen und richtete sich im Bett auf. Es war sinnlos, sich an Begebenheiten zu erinnern, die sich längst als Trugbilder entpuppt hatten. Das Foto gab es nicht mehr, seit Rüdiger es vor vielen Jahren zerstört hatte. Die Bauten der Väter hatten sich als tödliches Gefängnis erwiesen und waren eingestürzt. Sie schwang die Beine aus dem Bett und ging unter die Dusche. Das warme Wasser, das ihre Haut umspülte, tat gut. Es bereitete sie auf den Tag vor, ließ sie spüren, dass sie hier und jetzt lebte. Die Bilder, die ihr eben noch so deutlich vor Augen gestanden hatten, verflüchtigten sich.

Nach dem gestrigen Einkauf hatte sie die Schranke offen gelassen, sodass sie dieses Mal an den Hof heranfahren konnte. Den Alten hatte sie nicht um Erlaubnis gefragt. Die Treffen mit ihm waren mühsam genug. Daher war sie entschlossen, sich jede mögliche Erleichterung zu verschaffen. Wieder wartete sie eine ganze Zeit, ohne dass er sich zeigte. Dann ging sie ins Haus.

Er saß am Küchentisch und schlief. Sein Gesicht und sein Oberkörper lagen auf der Tischplatte, die das gleichmäßige Geräusch seines Atems zurückwarf und verstärkte. Alkoholausdünstungen vermischten sich mit den Gerüchen nach Schmutz und verdorbenem Essen. Neben dem Stuhl, auf dem er saß, lag eine leere Flasche auf dem Boden. Auf einmal hatte sie keine Kraft mehr, ihren Ekel zurückzudrängen. Die Verkommenheit des Alten und seiner Behausung schienen in ihren Körper einzudringen wie eine ansteckende Krankheit. Noch hätte sie eine Chance, sich zu entziehen und die Ansteckung zu verhindern. Doch sie blieb stehen, in einer Mischung aus Lähmung und Erwartung. Seine Atemzüge wurden jetzt unregelmäßig, er schnaufte einmal, hob den Kopf und sah sie aus trüben Augen an.

„Was machen Sie hier?“

Die Worte klangen undeutlich, verwaschen.

„Wir waren verabredet.“

„Ich verabrede mich nicht.“

Sein Kopf sank auf den Tisch zurück.

„Wir wollten die Brombeeren ernten. Erinnern Sie sich?“

Sie hatte gehofft, dass sie während des Pflückens und Einkochens endlich dazu kommen würde, ihm Fragen zu stellen und ihn zum Erzählen zu bringen. Wenn ihr das nicht gelang, verschwendete sie bloß ihre Zeit. Der Alte nuschelte etwas Unverständliches in seinen Ärmel.

„Ich mache Ihnen einen Kaffee.“

Ohne seine Reaktion abzuwarten, nahm sie die Kaffeedose vom Regal, füllte einen Filter und setzte Wasser auf. Das Verstauen der Einkäufe hatte ihr Gelegenheit gegeben, sich mit der Küche vertraut zu machen. Während das Wasser kochte, wurden die Atemzüge des Alten wieder tief und gleichmäßig, aber sobald er den Duft roch, schreckte er hoch.

„Grete?“ Dann sah er sie, und sein Gesicht fiel ein. Sie schüttete schweigend den Kaffee ein und stellte die Tasse vor ihn auf den Tisch. Er leerte sie in einem Zug.

„Trinken können Sie wirklich.“

Als er nicht antwortete, nickte sie zu der leeren, am Boden liegenden Flasche hinüber.

„Das macht alles nur noch schlimmer.“

Er grinste und schnalzte ein paar Mal mit der Zunge.

„Ich hatte schon vergessen, dass Sie Mutter Teresa sind, Helferin der Gestrauchelten.“

„Was haben Sie gegen Mutter Teresa?“

„Ich glaube nicht an Barmherzigkeit.“

Er artikulierte das „b“ übertrieben, ließ es zwischen seinen Lippen explodieren, sodass die Ironie unüberhörbar war. „Mutter Teresa oder wie diese Frauen auch heißen, wollen nur eins: Die Schwachen am Gängelband führen.“

„Wie kommen Sie darauf?“

Er schüttelte den Kopf.

„Ist nicht wichtig. Geht Sie nichts an.“

Dann schob er abrupt, mit einer rüden Geste, die Tasse über den Tisch in ihre Richtung.

„Los, machen Sie mir noch einen.“

Der Ärger nahm ihr für eine Sekunde den Atem.

„Wenn Sie mich freundlich darum bitten.“

Er legte den Kopf zurück, während ein meckerndes Gelächter aus seinem weit geöffneten Mund hervorbrach. Der Zahn stand in seinem Unterkiefer wie eine verlassene, längst vergessene Ruine. Da, wo er aus dem eingefallenen Zahnfleisch wuchs, zeichnete sich ein schwarz verfärbter Rand ab.

„Sehen Sie, wie Recht ich habe? Angeblich wollen Sie mir helfen, aber nur, wenn ich schön artig bin.“

Wieder lachte er meckernd auf.

„Sie haben keinen Respekt.“

Die Worte kamen in flachen Stößen aus ihrem Mund, weil sie kurzarmig geworden war vor Beklemmung.

„Oho! Respekt!“

Er rollte das „r“ und zog es spöttisch in die Länge wie ein schlechter Schauspieler.

„Das ist fast so gut wie Barmherzigkeit.“

Weil ihr nichts Besseres einfiel, nahm sie die Kanne und goss Kaffee in seine Tasse. Er bedankte sich nicht. Ich muss aufhören, seine Unverschämtheiten zu ignorieren, dachte sie. Er verbucht mein Schweigen als Sieg. Als wolle er diese Einsicht bestätigen, stützte der Alte beide Arme auf den Tisch, reckte sich ein wenig und sah sie mit vor Gemeinheit blitzenden Augen an.

„Warum tragen Sie immer dieses Ballettröckchen? Dafür sind Sie doch viel zu alt.“

Ich muss es genauso machen wie er, dachte sie, und zum Gegenangriff übergehen.

„Mokieren Sie sich mal nicht über mein Alter. Sie könnten mein Vater sein.“

„Darum trage ich auch schon lange keine kurzen Hosen mehr.“

„Aber hin und wieder Ihren nackten Hintern spazieren. Ist das etwa altersgerecht?“

Es kostete sie Überwindung, das Wort auszusprechen, doch sie hatte das Gefühl, dass sie den Kampf wenigstens einmal bis zum Ende ausfechten musste, statt sich immer nur zurückzuziehen. Gleichzeitig dachte sie: Ich lasse mich zwingen, seine Waffen zu benutzen. Das ist genauso schlecht. Wieder lachte der Alte, aber dieses Mal klang es sanft. Dazu nickte er anerkennend.

„Mädchen, du taust allmählich auf.“

Die nächste Unverschämtheit. Sie wurde schon wieder kurzatmig, als würde sie in einem viel zu engen Raum umhergehetzt.

„Eben war ich angeblich zu alt für meinen Rock, jetzt bin ich plötzlich ein Mädchen.“

Er schmunzelte immer noch. „Sie müssen die Dinge im Zusammenhang betrachten. Für den Rock sind Sie zu alt, aber im Verhältnis zu mir sind Sie ein Mädchen. Ich darf das sagen, weil Sie meine Tochter sein könnten.“

„Haben Sie denn Kinder?“

Er schüttelte den Kopf, während er die Pfeife aus seiner Hosentasche fingerte und auf den Tisch legte. Dann sah er sie wieder mit blitzenden Augen an.

„Sie muss ich danach gar nicht fragen. Wenn Sie Mutter wären, würden Sie kein Röckchen tragen wie ein junges Ding in der ersten Tanzstunde. Sie sehen aus, als wären Sie auf der Stufe eines kleinen Mädchens stehen geblieben.“

Auf einmal hatte sie das Gefühl, ihre Beine würden unter ihrem Körper weggezogen. Du holst dir einen Schaden. Das spielte keine Rolle. Sie würde nie ein Kind bekommen. Nie mehr. Ihr Unterleib verspannte sich in einem schmerzhaften Krampf. Sie war in einem eisigen Nebel aus Schmerz festgefroren und musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht laut aufzustöhnen. Währenddessen hatte der Alte die Pfeife angezündet und beobachtete sie mit zusammengekniffenen Lidern durch die Rauchwolke. Ein geübter Schütze. Sie war ihm nicht gewachsen. Es dauerte lange, bis sie sich wieder in der Lage fühlte zu sprechen

„Haben Sie einen zweiten Stuhl, damit ich mich setzen kann?“

„Nein. Die anderen Stühle habe ich zerhackt und verfeuert. Konnte sie nicht mehr sehen, als Grete tot war. Sieh her, du bist allein, sagten sie mir ständig. Und das wirst du bleiben.“

Er sprach jetzt leise, fast tonlos, und seine Stimme zitterte. Unter anderen Umständen hätte sie Mitgefühl mit ihm gehabt. Hätte die Gelegenheit ergriffen, ihm zuzuhören und Fragen zu stellen. Doch jetzt war sie dazu nicht in der Lage. Sie fühlte sich betäubt, als habe sie soeben einen schweren Unfall nur knapp überlebt. Auf einmal hatte sie sogar Zweifel, dass sie es alleine bis zu ihrem Auto schaffen würde. Wenn sie überhaupt eine Chance dazu haben wollte, durfte sie nicht eine Sekunde länger hier stehen bleiben. Langsam löste sie die Hände von der Tischkante und richtete sich auf. „Mir ist nicht gut. Ich gehe.“ Sie brauchte lange, um die Tür zu erreichen. Als sie die Hand auf die Klinke legte, hörte sie die Stimme des Alten in ihrem Rücken.

„Sehen Sie, die Stühle hatten Recht.“

Findeltochter - Vaterkind

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