Читать книгу Findeltochter - Vaterkind - Silke Grigo - Страница 19
Kapitel 17
ОглавлениеKann es einen solchen Leberfleck zweimal geben? Sieht er vielleicht doch in das Gesicht eines Fremden? Das hat er sich gefragt, als er in diesem Graben stand. Und zugleich gewusst, dass diese Frage ein Verrat war. Brüder sollten einander unter allen Umständen erkennen. Heinrich hatte sich aus freien Stücken in einen Fremden verwandelt. Doch der Verrat des einen Bruders zieht den des anderen unweigerlich nach sich. Das Schweigen. Das Vergessenmüssen. Den Zweifel. Er hatte das immer gespürt, aber in diesem Graben begriff er es in einer neuen Deutlichkeit. Eigenartigerweise verabscheute er den Toten nicht. Das stumpfe Weiß seiner Augäpfel hatte Recht und Unrecht ausgelöscht. Nie wieder würde er Heinrichs Blick begegnen können. Der Gedanke war noch dabei, sich in seinem Kopf festzusetzen, als zwei Männer aus seinem Trupp den Toten packten und forttrugen. Er hinterließ nicht einmal einen Blutfleck. Die Erde sah aus, als hätte dort nie einer gelegen.
Seine Zunge tat es der Erde gleich. Weder seiner Mutter noch Grete erzählte er, dass er seinem Bruder wiederbegegnet war. Wahrscheinlich. Wiederbegegnet? Grete erfuhr nie, dass er überhaupt einen Bruder gehabt hatte. Die meiste Zeit hatte er nicht einmal das Gefühl zu lügen, wenn er behauptete, dass er mit seinen Eltern allein gewesen sei. Heinrich war verschwunden, als habe ein riesiges Loch ihn verschluckt, das weder Laute noch Farben kannte. Nur in den Augen seiner Mutter hinterließ er Spuren. Aber sie schlug die Augen nieder, aus Angst, der Vater könnte diese Spuren entdecken. Wie immer schon aus Angst.
„Mit diesem Fraß hier beleidigst du mich und meine Arbeit.“ Der Vater schlug die Kelle mitten in den Eintopf hinein, sodass Kartoffeln und Gemüse über den Rand spritzten und auf dem Tisch landeten. Seine Stimme schwoll an und dehnte sich bis in jeden Winkel der Küche aus.
„Geht.“
Sie mussten die Worte von den blutleeren Lippen der Mutter ablesen. Heinrich nahm seine Hand.
„Komm.“
Sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, hörten sie die Schläge und die Schmerzenslaute der Mutter. Heinrich legte ihm den Arm um die Schultern.
„Wir gehen in den Wald.“
Seine Stimme war ein Balsam, der die Striemen in seiner Seele kühlte. Sie barg ihn vor dem Grauen der rotgeschwollenen Stimme des Vaters und der Schmerzenslaute in einer Welt fremder Worte und Zeichen, von Katheten, Hypothenusen, Sinus und Cosinus.
„Geometrie ist schön. Sie hat klare Regeln und Gesetze, auf die man sich verlassen kann. Und trotzdem entdeckt man immer neue Geheimnisse.“
Mit einem Stock zeichnete Heinrich ein Dreieck und darüber ein Netz aus Quadraten in die aufgelockerte Erde. Die Furchen hoben sich dunkel vom Boden ab. Sie gaben seinen Augen Halt, erinnerten ihn an einen frisch gepflügten Acker, während Heinrichs Worte wie rätselhafte Zauberformeln in seinen Ohren klangen. Seine Stimme hatte jetzt, vom Eifer des Erklärens durchdrungen, einen etwas höheren und schärferen Ton angenommen. Sein halblanges, schwarz gelocktes Haar fiel über seine Wangen, während er sich vorbeugte und zeichnete. Er strich sie hinter sein Ohr und streifte ihn mit einem kurzen Seitenblick, um zu sehen, ob er auch bei der Sache war. Der große Leberfleck unter seinem linken Auge schimmerte in einem rosa unterlegten Braunton. Es machte nichts, dass er nicht verstand, was Heinrich ihm zeigte. Für einen Moment waren sie beide geborgen und in Sicherheit.
Er und sein nur zwei Jahre älterer Bruder. Der Kluge, dessen Klugheit weh tat.
„Mutter kann ich nicht beschützen, aber dich.“
Der Schöne, der den Mädchen im Dorf am besten von allen gefiel. Solange Heinrich da gewesen war, hatte er selbst wie im lichtdurchlässigen Schatten einer Erle gelebt, deren bebende Krone den Himmel mit einem feinen Netz unaufhörlich sich öffnender und schließender Fenster überzog. Ohne dieses Netz hätte sein Blick länger allein am Boden gehaftet. Aber es ließ ihn auch spüren, dass der Himmel für ihn unerreichbar bleiben würde. Er begriff früh, dass der Abstand, den er zwischen sich selbst und Heinrich empfand, nicht durch die Jahre geschaffen wurde, sondern durch Unterschiede ihres Wesens. Er würde nie dorthin gelangen, wo sein Bruder sich befand.
Die Stirn des Toten unter der Mütze war hoch und schmal gewesen, eine Denkerstirn. Die hatte ihm am Ende nichts genützt. Er war aus dem Graben gekrochen wie ein gequältes Tier, das längst für den Tod bereit ist.
Er zwingt sich, die Augen zu öffnen, und schlägt mit der Faust auf den Tisch, sodass die angebrochene Flasche umfällt. Der Wein ergießt sich über die Tischkante auf den Fußboden. Stöhnend wuchtet er sich von seinem Stuhl hoch und hinkt ins Schlafzimmer. Er nimmt Gretes Kittel vom Kopfkissen und presst sein Gesicht hinein. Atmet mühsam wie ein Ertrinkender.