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Kapitel 10

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Jedes Mal, wenn sie sich nachts im Bett umdrehte, fuhr eine scharfe Schneide in ihre rechte Seite. Der Schmerz zwang sie, die Luft anzuhalten. Er ließ das Bild des Alten wieder lebendig werden, die erhobene Axt in seinen Händen, seinen zornigen Blick, seine angeschwollene Stimme. Rüdiger konnte nicht wissen, dass die Wirklichkeit seine Skepsis bereits überholt hatte. Sie begann sehr wohl zu ahnen, auf was sie sich einließ. Der Alte war unberechenbar, egozentrisch und trank zu viel. Er hatte sie schon zweimal innerhalb kürzester Zeit dazu gebracht, sich selbst zu schaden. Sie musste auf der Hut sein. Oder das Unternehmen abbrechen. Ein paar Sekunden lang stellte sie sich vor, wie sie am nächsten Morgen ihre Sachen packen und nach Berlin zurückfahren würde. Wie sie unterwegs den Zeitungsartikel und das Foto zerriss und die Schnipsel auf irgendeinem Rastplatz in den Papierkorb warf. Ihr wurde klar, dass sie es sofort bereuen würde. Die Entscheidung, hier zu sein und Otto Guse zu treffen, war nicht in ihr eigenes Belieben gestellt, sondern folgte einer Notwendigkeit, die bisher noch einer Kette ohne Anfang und Ende glich. Wie durch einen Dämmer konnte sie einzelne Glieder ausmachen: Den unterstrichenen Namen im Zeitungsartikel und das Ausrufezeichen daneben, mit so viel Nachdruck geschrieben, dass der Stift das Papier durchstoßen hatte; die Tänzerpuppe, die, in den Artikel eingewickelt, im Sekretär ihrer Mutter gelegen hatte; die Sehnsucht und Qual vieler Jahre. Noch kannte sie den Faden nicht, auf dem diese Glieder aufgereiht waren. Sie war hier, um zu verstehen. Der Aufgabe zu verstehen konnte man sich nicht ohne Schaden entziehen.

Sobald sie in einen unruhigen Schlaf fiel, suchte sie vergeblich nach dem Traumbild des jungen Otto Guse, das sie in den Nächten der letzten Monate begleitet hatte. Es war von einem Loch in ihrem Bewusstsein verschluckt. An seine Stelle trat eine schwindelerregende Leere. Am nächsten Morgen erwachte sie erschöpft. Sie stand zeitig auf und war die erste im Frühstücksraum. Der Wirt kam und fragte nach ihren Wünschen. Er sprach in einem dauervergnügten, leicht singenden Tonfall, den sie befremdlich fand. Nachdem sie einen Kaffee und zwei Brötchen bestellt hatte, sagte er:

„Wir haben auch sehr schöne Doppelzimmer.“

Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er auf den Anruf anspielte, den er gestern für sie entgegengenommen hatte.

„Danke“, antwortete sie, „ich werde das mit meinem Mann besprechen.“

Gleich anschließend ärgerte sie sich darüber, dass sie sich zu dieser überflüssigen Ankündigung hatte hinreißen lassen. Sie war unnötig defensiv, wie alle, deren Ehe in die Brüche ging, ohne dass sie schon begonnen hatten, das zu akzeptieren. Machte anderen etwas vor, um selbst den Tatsachen nicht ins Auge sehen zu müssen. Sie frühstückte ohne Appetit und machte sich danach auf den Weg nach Radorf.

Dieses Mal hatte sie keine Eile anzukommen. Deshalb war es ihr recht, dass sie einige Zeit brauchte, um durch ein Gewirr von Gässchen auf die Hauptstraße zu gelangen. Reisstadt, der Ort am Rheinufer, in dem ihre Pension lag, bestand im Kern aus einer dichten Ansammlung niedriger Fachwerkhäuser, die ihr vorkamen, als stammten sie aus einem Spielzeugbaukasten. Auf den ersten Blick wirkten sie anheimelnd, allerdings auf eine Art und Weise, die sehr schnell ein Unbehagen in ihr erzeugte. Sie fühlte sich beengt, als würde sie in eine winzige Kammer gesperrt. Am Abend, nachdem der Alte sie mit der Axt bedroht hatte, war sie auf der Uferpromenade spazieren gegangen, um ihre Fassung wiederzugewinnen. Die Fließwellen des Rheins hatten das Abendlicht zu bizarren Formen auseinandergezogen, die Bakterien unter einem Mikroskop gleichen. Zum gegenüberliegenden Flußufer hin verfärbte die Wasseroberfläche sich im Schatten bewaldeter Hügel schwarzgrün. Das Gefühl von Enge und Eingesperrtsein war gewichen, allerdings nur, um einem dumpfen Ekel Platz zu machen.

Hinter dem Ortsausgang von Reisstadt stieg eine schmale Asphaltstraße steil zwischen Wiesen mit Obstbäumen an, bevor sie in einen dichten Wald mündete. Es gab noch ein Hinweisschild auf den Ort, obwohl bis auf den Hof kein Haus mehr stand. Der Wald hatte alle Spuren des Dorfes überwuchert und getilgt. Bevor sie den Artikel zu ersten Mal gelesen hatte, war ihr nicht klar gewesen, dass es auch im Westen Wüstungen gab. Bis dahin hatte sie die Vernichtung ganzer Wohnviertel und Dörfer für eine Spezialität Ulbrichts, Honeckers und ihrer Leute gehalten. Im Gleimviertel hatte sie die Mauer und den Sperrbezirk immer vor Augen gehabt. Sie lebte damit wie mit einer Wunde, die zwar notdürftig verheilt ist, aber weiterhin so empfindlich, dass jede Berührung schmerzt. So weit wie möglich vermied sie es, ihr zu nahe zu kommen; vermied es, sich an die Zeit der Unversehrtheit zu erinnern, als auf dem Mauerstreifen noch Häuser standen und man die angrenzenden Straßen ohne Passierschein betreten durfte.

Waren die Menschen aus Radorf vertrieben worden wie die Bewohner des Sperrbezirks?

Sie steuerte ihren angestammten Parkplatz in der Nähe des Schlagbaums an und stieg aus. Dieses Mal hallten keine Axtschläge vom Hof herüber. Ein leichter Wind bewegte die Baumkronen am Waldrand. Es klang, als tuschelten sie miteinander und tauschten ihr Erstaunen aus über diese hartnäckige Fremde, die schon wieder da war. Vielleicht standen sie in einer geheimnisvollen Verbindung mit dem Alten und kündigten ihr Kommen an. Bei diesem Gedanken blieb sie stehen und drehte sich um. Lieber sichergehen, dass er ihr nicht heimlich folgte. Glücklicherweise war er unsicher auf den Beinen. Solange sie auf Abstand zum ihm blieb, konnte ihr nichts passieren. Doch sie durfte sich nicht von ihm überraschen lassen. Auf dem Weg hinter ihr war niemand. Alles, was sie sah, waren der rissige Asphalt, der sich als schmale, gerade Bahn bis zur Schranke erstreckte, die Eichenblätter am Waldrand, die im Sonnenlicht des Vormittags grün schimmerten, und die hügeligen Wiesen, auf denen Apfelbäume verstreut standen. Sie trugen noch ihre Früchte, die bereits gelb und fleckig geworden waren. Offensichtlich machte sich niemand die Mühe, sie zu ernten.

Der Vorplatz neben dem Geräteschuppen war verwaist. Hinter dem Haus lag der Hund neben der rostigen Tonne. Als er sie kommen hörte, richtete er nur kurz ein Ohr auf, wandte den Kopf in ihre Richtung, legte ihn aber sofort wieder zwischen seine Vorderpfoten auf den Boden. Er wirkte müde. Vom Alten keine Spur. Vielleicht war er in den Wald gegangen, um Nachschub für seine Holzvorräte zu besorgen. Sie setzte sich auf eine Bank. Allmählich stieg die Sonne und verbreitete die typische spätsommerliche Hitze, die zurückkehrt wie ein bereits seit langem aufgebrochener Reisender. So sehr man seinen Abschied damals bedauert hat, so wenig weiß man jetzt mit ihm anzufangen, weil man sich längst an ein Leben ohne ihn gewöhnt hat. Die Schweißperlen auf ihrem Nacken und zwischen ihren Oberschenkeln störten sie. Gerade, als sie überlegte, ob es sich lohnte, noch länger zu warten, öffnete sich die Tür des Anbaus, und der Alte kam heraus. Er trug nur ein schmuddeliges Unterhemd. Unter seinen Achselhöhlen zeichneten sich gelb-braune Ränder getrockneter Schweißflecken ab, darüber wucherten dichte Achselhaare. In der Hand hielt er einen Napf. Langsam stieg er die Stufen hinunter und verzog bei jedem Schritt das Gesicht. Er sah nicht in ihre Richtung, sondern konzentrierte sich auf den Napf, um nichts zu verschütten. Als er sich schwerfällig bückte und den Napf auf den Boden stellte, schob sich das Hemd ein Stück über sein nacktes Gesäß nach oben, und sie sah sein Geschlecht zwischen seinen Beinen baumeln. Schnell wandte sie den Blick ab. Ihr kam der Gedanke, sich unauffällig davonzustehlen. Doch das wäre keine Lösung. Besser, sie gewöhnte sich an seine Widerwärtigkeit, härtete sich dagegen ab. Zögernd sah sie wieder zum Anbau. Der Alte hatte sie bereits bemerkt. Er stand neben seinem Hund, der gierig das Wasser aus dem Napf schleckte, hielt seine Hand über die Augen, um nicht von der Sonne geblendet zu werden, und sah in ihre Richtung. Im Stehen reichte das Hemd wenigstens bis zur Mitte seiner Oberschenkel. Eine ganze Weile verharrte er bewegungslos. Dann ließ er die Hand sinken, schüttelte den Kopf und kam auf sie zu. Sein wackelnder Gang wirkte jetzt, da er halb nackt war, noch bizarrer. Trotzdem spannte sie ihre Beine an, um notfalls aufspringen und weglaufen zu können.

„Ich habe Ihnen doch gesagt, dass die Gastwirtschaft geschlossen ist“, rief er ihr schon aus einiger Entfernung zu. Mit einer derartigen Begrüßung hatte sie gerechnet. Daher wartete sie mit ihrer Antwort ab, bis er näher gekommen war. Sie hatte nicht vor, ihre Kraft zu verschwenden. Seine Beine waren ebenso fest und muskulös wie seine Schultern und verrieten noch die Kraft, über die sein Körper einmal verfügt haben musste, aber über sein linkes Knie zog sich wie ein Reißverschluss eine wulstige Narbe. Sie hörte, dass er jetzt nach Luft rang. Wieder bewegte sich der Bauch in schnellem Wechsel unter seiner eingefallenen Brust vor und zurück. Sie musste an die plötzlich aufschwellenden Backenblasen eines Froschs denken. Er setzte sich auf die erste Bank, die er erreichte, zu ihrer Erleichterung ein Stück von ihr entfernt. Sie musterte sein Gesicht. Spätestens jetzt musste er sich doch daran erinnern, dass er keine Hose trug. Doch sie sah nur den Ausdruck einer großen Erschöpfung.

„Sind Sie krank?“

„Warum lassen Sie mich nicht in Ruhe?“

„Sie haben Fieber. Ihre Augen sind glasig.“

„Ich bin betrunken und will meine Ruhe haben. Gehen Sie.“

„Damit Sie weiter trinken können?“

„Ich habe mich immer noch besser im Griff als Sie sich nüchtern. Bin fast in Ihre Kotze getreten gestern.“

„Haben Sie deshalb heute vorsichtshalber auf Hosen verzichtet?“

Etwa eine Sekunde lang stutzte er und senkte den Blick in seinen Schoß, hob ihn dann aber wieder zur Tischplatte.

„Ich habe Sie nicht eingeladen. Sie sind selbst Schuld, wenn Sie mit meinem nackten Arsch vorlieb nehmen müssen.“

Das Schweigen, das folgte, schien mit der Hitze eine Verbindung einzugehen. Es füllte die Luft zwischen ihnen aus wie aufquellender Teig. Dem Alten war offensichtlich nichts peinlich. Jedenfalls nicht, wenn er betrunken war. Doch wie stand es mit ihr? Rüdiger hätte selbst in den intimsten Momenten nie ein Wort wie „Arsch“ in den Mund genommen, und er akzeptierte, dass sie beim Waschen am Spülstein allein sein wollte. Nicht erst, seit sie getrennt schliefen. Wie weit würde sie gehen, um zu verstehen? Was konnte sie hinnehmen, ohne sich selbst zu schaden? Andererseits hatte sie ihn herausgefordert. Sie musste ihm – von der Wortwahl abgesehen – Recht geben. Schließlich besann sie sich auf ihren Plan für heute.

„Wo ist eigentlich Ihre Frau begraben? Ich habe auf dem Weg hierher keinen Friedhof gesehen.“

„Unsere Toten liegen ein Stück weg in Felddorf.“

„Wie kommen Sie dahin?“

„Überhaupt nicht.“

Der Blick des Alten verlor sich immer noch irgendwo auf der Tischplatte.

„Zum Grab geht man nur, wenn man sicher sein will, dass der andere wirklich unten liegt und für immer da bleibt. Diese Mütterchen mit ihren Blümchen und ihrer Gießkanne... Das ist ein versteckter Triumph. Die bannen ihre Toten.“

„Dann könnte man Ihrer Meinung nach die Toten einfach irgendwo verscharren?“

Jetzt sah er sie an, antwortete aber nicht sofort. Das Braun seiner Augen verdunkelte sich. Erst nach einer ganzen Weile sagte er:

„Das ist eine gemeine Unterstellung.“

Seine Stimme zitterte dabei so stark und die Worte kamen so verschwommen aus seinem Mund, dass es wie ein Schluchzen klang.

„Es tut mir leid.“

Sie merkte, dass sie den Faden verlor und Schwierigkeiten hatte, klar zu denken. Ihr fiel nichts Besseres ein, als das Angebot, das sie sich ausgedacht hatte, doch noch zu machen.

„Sie lassen sich also nicht von mir zum Friedhof fahren?“

Ein leichter Ruck ging durch seinen Oberkörper. Immer noch sah er sie an.

„Warum wollen Sie das tun?“

Am einfachsten wäre es, jetzt die Wahrheit zu sagen, dachte sie. Aber es war zu früh. Mit Sicherheit würde er sich sofort wieder verschließen, und sie würde nichts aus ihm herausbekommen. Zuerst musste sie sein Vertrauen gewinnen.

„Sie haben mir nun einmal davon erzählt, dass Ihre Frau gestorben ist. Ich will etwas für Sie tun.“

Sie sah, wie die Mundwinkel unter seinem Bart zuckten, und erwartete schon eine spöttische Erwiderung. Doch stattdessen sagte er:

„Wir können zusammen Einkaufen fahren.“

Sie zögerte einen Moment und sagte dann matt:

„Von mir aus, wenn Ihnen das lieber ist.“

Er humpelte ins Haus, kehrte nach einer ganzen Weile vollständig angezogen zurück, drückte er ihr den Schlüssel zur Schranke in die Hand und sagte: „Damit Sie mich hier abholen können“, als sei diese zusätzliche Mühe selbstverständlich. Eigentlich hatte sie vorgehabt, nach Reisstadt zu fahren, doch an der Weggabelung, an der sie hätte abbiegen müssen, lotste er sie in die Gegenrichtung. Sie kamen auf einen unbefestigten Waldweg, auf dem sie mehrfach tiefen Schlaglöchern ausweichen musste. Der Alte zuckte nicht mit der Wimper.

„Sind Sie sicher, dass wir hier weiter kommen?“

Er lachte auf, ein abgehacktes Lachen, das einen Schleimklumpen in seinen Kehlkopf hinaufkatapultierte.

„Ach, Mädchen.“

Es war das erste Mal, dass er sie so nannte. Sie wusste, dass sie gut beraten wäre, sich diese Vertraulichkeit sofort zu verbitten, aber sie schwieg.

„Jetzt, im Spätsommer, geht es noch. Im Winter und bei Tauwetter ist überhaupt kein Durchkommen.“

„Wie haben Sie dann Ihre Einkäufe erledigt?“

„Grete ist um diese Jahreszeit mehrmals kurz hintereinander gefahren, um Vorräte anzulegen.“

„Allein?“

Er antwortete nicht auf ihre Frage, sondern sagte:

„Diese sogenannte Straße war eine der Hauptwaffen im Krieg gegen Radorf. Sie haben sie bewusst verkommen lassen. Bis die Männer, die hier jeden Morgen zur Arbeit lang mussten, davon überzeugt waren, besser anderswohin zu ziehen.“

„Aber sie haben es freiwillig getan?“

Wieder das abgehackte, verschleimte Lachen.

„Was ist freiwillig daran, wenn man aus dem Dorf nicht mehr wegkommt? Wenn die Stromleitung Jahrzehnte nicht erneuert wird? Wenn der Schulbus für die Kinder abgeschafft wird? Natürlich ist das alles passiert, weil bestimmte Leute von der Dorfauflösung profitiert haben. Allen voran unser Bürgermeister. Der sahnte über den Verkauf seines Grundstücks und die Entschädigung gleich zweifach ab. Der hat uns das alles eingebrockt.“

Seine Stimme zitterte jetzt vor Wut.

„Aber Sie und Ihre Frau konnten bleiben. Niemand hat Sie mit Gewalt vertrieben.“

„Ich musste kämpfen.“

„Wenn Sie im Grenzgebiet der DDR gewohnt hätten, wäre der Kampf aussichtslos gewesen.“

„Ach daher weht der Wind. Ostdeutsches Selbstmitleid. Ist ja modern geworden seit der Wende.“

„Woher kennen Sie sich so gut mit Ostdeutschen aus?“

„Grete hatte eine Cousine in Ostberlin. Sie hat immer darauf bestanden, ihr zu Weihnachten und zu den Geburtstagen ihrer sämtlichen Kinder Päckchen zu schicken, obwohl wir selbst kaum über die Runden kamen. Und als die Mauer gebaut wurde, hat sie Tage vor dem Radio verbracht, obwohl wir hier genug Probleme hatten. Damals lief die Kampagne zur Zerstörung Radorfs auf Hochtouren. Aber Grete war mit ihren Gedanken im Osten. Dauernd musste ich mir anhören, wie sehr die Menschen dort litten. Ermüdend.“

Edith schwieg und versuchte, die Bilder niederzukämpfen, die vor ihrem inneren Auge auftauchten. Mittlerweile hatten sie den Wald verlassen und fuhren auf einer gewöhnlichen Asphaltstraße durch ein Dorf.

„Bei der nächsten Gelegenheit müssen Sie nach rechts“, sagte der Alte. Es klang so sachlich, als habe er ihren Wortwechsel bereits vergessen.

Im Industriegebiet, in dem der Supermarkt lag, herrschte reger Verkehr. Während sie einen Parkplatz suchte, ertappte sie sich dabei, dass sie auf ein Wort des Bedauerns wartete. Der Alte musste doch sehen, dass diese Einkaufsfahrt ihr eine Menge Unannehmlichkeiten bereitete. Stattdessen sagte er:

„Holen Sie den Wagen. Ich bleibe so lange noch sitzen.“ Beim Aussteigen brauchte er ihre Hilfe, weil er nicht allein aus dem tief liegenden Autositz hoch kam. Sobald er stand, schüttelte er ihre Hände ab, packte den Haltegriff des Einkaufswagens und stützte sich darauf.

„Ich schiebe.“

Als sie die gläserne Schiebetür passiert hatten, wurde ihr sofort klar, dass sie Supermärkte immer noch hasste. Die Waren reihten sich in den Regalen aneinander wie feindliche Phalanxen, die bei ihrem Nähertreten zum Angriff übergehen würden. Ihr schwindelte. Gewöhnlich zog sie es vor, in kleineren Läden einzukaufen. Der Alte war keine Hilfe. Auf den Griff des Einkaufswagens gestützt, stand er ebenso unschlüssig zwischen den Regalen wie sie selbst, während sein Blick suchend umherirrte. Offenkundig hatte er seine Frau nie hierher begleitet. Oder der Alkohol begann bereits, seinen Verstand zu zerstören.

„Was brauchen Sie?“, fragte sie schließlich.

„Alles Nötige.“

Es dauerte fast eine Stunde, bis sie die Lebensmittel zusammengesucht und sich bei jedem einzelnen rückversichert hatte, dass es zum Nötigen gehörte. Vor den Kassen standen lange Schlangen. Als sie endlich mit dem Bezahlen an der Reihe waren, durchsuchte der Alte mit fahrigen Bewegungen beide Hosentaschen. Die Kassiererin musterte ihn mit einem misstrauischen Blick und griff schon nach dem Lautsprechgerät neben der Kasse. Da sah er Edith mit einem schiefen Lächeln an:

„Übernehmen Sie mal ruhig das Bezahlen. Sie stehen ja ohnehin noch wegen des Weins bei mir in der Kreide.“

Findeltochter - Vaterkind

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