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Kapitel 15

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Er weiß nicht, wie lange er geschlafen hat. Sein Rücken ist verzogen und schmerzt. Er schafft es kaum, den Kopf von der Tischplatte zu heben und sich aufzurichten. Dann riecht er den fremden Geruch. Schwach, aber doch deutlich. Süß, ein wenig blumig. Jetzt fällt es ihm wieder ein. Diese Frau ist hier gewesen, aber wieder gegangen, als er ihr erzählt hat, dass die Stühle mit ihm gesprochen haben. Ihr ganzes Gerede, dass sie ihm helfen will, ist für die Katz. Nicht, dass er ihr vorher geglaubt hat. Es stimmt nie, wenn sie das vorgeben. Es gibt nur eine Art, auf die eine Frau einem Mann helfen kann, und über die muss man nicht reden. Alles andere ist eine Demütigung, und sie wissen das. Dieser Geruch macht ihn nervös. Hat hier nichts zu suchen. Er muss lüften. Zuerst kann er sein linkes Knie nicht bewegen. Dreimal sackt er auf den Stuhl zurück, bevor er endlich aufstehen kann. Sein Körper fühlt sich zerrissen und wund an, während er zur Tür humpelt, um sie zu öffnen. Gut, dass ihn niemand so sieht. Das ist der Vorteil des Alleinseins. Wenn man kaum kriechen kann, gibt es keinen Zeugen. Keine besorgten Blicke. Selbst von Grete hat er das nicht ertragen. Einmal hat sie es gewagt, ihn so anzusehen. Muss im letzten Jahr gewesen sein. Da packte er ihre Schultern und schüttelte sie mit aller Kraft, die ihm geblieben war.

„Was gaffst du mich so an?“

Sie schlug die Augen nieder. Von da an jedes Mal, wenn ihr Blick ihn bei einer Schwäche hätte ertappen können. Er wusste nicht, ob sie es verstand. Verstand, dass erst die Zeugenschaft einen endgültig vernichtete. Die Zeugenschaft einer Frau. Aber sie respektierte es. So, wie sie ihn immer respektiert hat.

Endlich erreicht er die Tür und stößt sie auf. Von draußen weht ein kühler Luftzug herein. Der Himmel hat sich zugezogen. In der Luft steht das trübe Grau des Spätnachmittags. Ihr Kinn, ihr kleines rundes Kinn. Er schüttelt heftig den Kopf, aber das Bild bleibt. Es hat sich in seinem Körper eingenistet und den Moment der Schmerzen abgepasst, um wieder zum Vorschein zu kommen. Heimtückisch. Konsequent. Schließlich hat die Frau im Augenblick seines größten Schmerzes Macht über ihn bekommen.

Eines Tages war sie plötzlich im Verbandsraum. Wahrscheinlich hatte sie ihm sogar den Verband gewechselt, aber das konnte er nicht mit Bestimmtheit sagen. Jedes Mal war es, als würden seine Lunge und sein Herz mit der Spitzhacke umgegraben. Das Morphium half dagegen nicht. Die Schwester, die sich über die Trümmer in seinem Brustkorb beugte und die alten, mit Blut und Eiter durchtränkten Wattepfropfen aus den Wunden löste, hatte weder ein Gesicht noch einen Körper. Er war blind vor Schmerz und rannte in eine Wand, die ihm eine fremde Stimme entgegenschleuderte. Dann verlor er das Bewusstsein. Als er dieses Mal aufwachte, sah er als Erstes den Schattenriss ihres Gesichtes vor dem fahlen Deckenlicht. Ein kleines, rundes Kinn und eine volle Unterlippe. Dazwischen ein Grübchen. Er wollte seine Lippen in das Grübchen betten. Wollte sich hineinbetten. In dieser Mischung aus Weichheit und Kraft geborgen sein.

„Ihnen geht es wieder besser. Schön.“

Ihre Stimme klang hell und ein wenig atemlos. Sehr jung.

„Frisch von der Schwesternschule?“

Er zuckte zusammen vor seinem eigenen Gekrächze. War nicht sicher, dass sie ihn überhaupt verstehen konnte. Sie raffte die stinkenden Verbandreste zusammen, drehte sich von ihm weg und warf sie in eine Abfalltonne. Ihr Hintern unter dem Kittel war nur wenige Zentimeter von seinem Kopf entfernt. Als er ihr Gesicht wieder sehen konnte, hatte sie ihre dichten, dunklen Augenbrauen zusammengezogen und runzelte die Stirn.

„Ich bin einundzwanzig. Da hat man in diesen Zeiten die Schwesternschule schon lange hinter sich. Und vieles andere auch.“

Sie verschluckte das letzte Wort, als hätte sie das eigentlich nicht sagen wollen, und presste einen Augenblick lang ihre Lippen aufeinander, sodass sie schmal wurden.

„Wem sagen Sie das.“

Er brachte immer noch nicht mehr heraus als ein Krächzen.

„Wir bringen Sie jetzt wieder zurück.“

Hatte sie ihn dieses Mal nicht verstanden oder ging sie absichtlich nicht darauf ein? Eine zweite Schwester kam dazu, blieb aber außerhalb seines Blickfeldes. Er spürte nur, wie sie seine Fußgelenke fasste. Die Frau griff fest unter seine Achseln. Ihr Gesicht war jetzt über seinem. Die Falte auf ihrer Stirn hatte sich vertieft, ihr schwarzer Haaransatz unter der Haube glänzte von Schweißperlen, und ihre Augen sahen an ihm vorbei zu der anderen Schwester. Hellblaue Augen, die nicht zu den dunklen, breiten Brauen passten. Überraschend wie ein klarer Waldsee in einer dunklen, dicht bewachsenen Senke. Es sind diese Kleinigkeiten, die dich auf Dauer um den Verstand bringen. Wie eine geschliffene Messerklinge, die immer wieder in derselben Wunde herumgedreht wird.

„Und hoch.“

Sie nickte der anderen Schwester zu, ohne ihre Miene zu verändern, und ihre Stimme klang jetzt gepresst vor Anstrengung. Dann spürte er, wie er von der Liege auf die Rollbahre gehoben wurde. Bisher hatte er diesen Moment immer im Zustand einer erschöpften Betäubung verbracht. Schweißgebadet. Dankbar, dass vom Schmerz nur das übliche dumpfe Nagen geblieben war. Doch mit diesen Augen über sich schämte er sich plötzlich. Während die Frauen ihn hochhoben und die Fläche der Liege sich von seinem Rücken löste, hatte er das Gefühl, nackt ausgezogen zu werden. Nicht so, wie eine Frau einen Mann nackt auszieht, bevor sie mit ihm ins Bett geht. Sondern so, wie man einen Krüppel auszieht, um ihm die Windeln zu wechseln. Etwas anderes hatte die Frau ja auch nicht getan. Sein ganzer Körper hatte sich in einen verschissenen, stinkenden Hintern verwandelt. Selbst da, wo sein Herz schlug und sein Atem aus- und einging. Das bestätigten ihre Augen, die an seinen vorbei sahen, ihre zerfurchte Stirn und ihre gepresste Stimme. Sein Rücken berührte die Rollbahre.

„Ab dafür.“

Die Frau stand jetzt seinem Blick entzogen hinter seinem Kopf.

„Und der Nächste.“

Ihre Stimme war tiefer in ihren Kehlkopf gerutscht.

Später wachte er aus dem Erschöpfungsschlaf auf, in den er jedes Mal nach dem Verbandswechsel fiel. Ihr Gesicht zeichnete sich hinter seinen Lidern ab. Der Blick, der an seinen Augen vorbei sah. Das weiche und kraftvolle Kinn. Er sehnte sich nach dem Moment, in dem sie wieder neben seinem Bett stehen würde. Und fürchtete ihn.

Findeltochter - Vaterkind

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