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Kapitel 11

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Gut, dass er wieder Vorräte hat. Ohne Essen merkt er erst richtig, wie alt er geworden ist. Wenn man morgens zittert, wenn man kaum noch aufstehen kann vor Schwindel, ist man ein Greis. Ein greiser Herkules. Jede Scheibe Brot sagt Herkules den Kampf an, schiebt die Vergreisung ein bisschen hinaus. Sobald die Frau weg ist, legt er den ganzen Laib auf den Tisch, mitten in die Sonne, und schneidet Scheibe für Scheibe ab, ohne zu zählen, bis er satt ist. Trotzdem muss er vorsichtig sein. Im Duft des Brotes lauern Betrug und Verrat. Die Frau will ihm helfen. Und er muss es zulassen. Sie soll nicht glauben, ihm entgeht, wie sie ihn ansieht. Mit diesem lauernden Blick. Als warte sie auf etwas. Darauf, dass er wieder vor ihren Augen stürzt. Dass er wieder „Bitte“ und „Danke“ sagen muss. Da kann sie in Zukunft lange warten. Wenn sie wenigstens nicht dieses Tuch trüge. Frauen, die ihr Haar verstecken, sind verschlagen. Sie halten dich kurz und weiden sich daran, deine ohnmächtige Gier anzustacheln. Daran, dass du nicht an sie heran kommst. Deshalb musst du schwach bleiben. Deshalb nennen sie dich Herkules, während ihr Blick auf deinen Sturz lauert. Du sollst ständig hören, ständig vor Augen haben, was du nicht bist. Der Name ist Teil des Spiels. Genauso wie das Verstecken der Haare.

Grete hatte Zöpfe, als er sie zum ersten Mal sah. Plötzlich stand sie vor ihm. Knetete das Kaffeepäckchen, das sie trug, so fest mit ihren Fingern, dass die Verpackung knisterte und die Bohnen das Papier ausbeulten. Sie würde ein Loch hineinfummeln, wenn sie so weiter machte. Er legte seine Hand auf ihre unruhigen Finger. Sie bewegten sich gegen seine Handfläche wie aufgescheuchte Insekten. Sie merkte nichts davon. Ihr Blick kehrte aus einer gestaltlosen Ferne zurück und heftete sich erschrocken in sein Gesicht, als sei ihr erst durch die Berührung aufgegangen, dass er vor ihr stand. Die dicken Brillengläser vergrößerten den Ausdruck des Erschreckens in ihren Augen wie eine Lupe. Ein solcher Blick würde ihn niemals belauern und verspotten.

„Gib das mal her, Mädchen, bevor die Bohnen alle herausfallen, und nimm dafür das.“

Sie ließ sich widerstandslos das Päckchen aus den Händen nehmen und die Seidenstrümpfe hineindrücken, die er bei sich hatte. Es war, als hätte sie nicht damit gerechnet, in diesem Gewirr von Menschen jemanden zu treffen. Weiß der Teufel, was sie überhaupt auf dem Schwarzmarkt wollte. „Trinken Sie einen Kaffee mit mir?“

Ihre Stimme schien von einem Ort hinter ihrem Rücken zu kommen und sich mühsam einen Weg durch das Geschiebe und Gedränge der Körper zu bahnen. Wie etwas Verlorenes, das zurückkehrt. Er folgte ihr. An ihrer rechten Wade unter dem schiefen, ausgefransten Rocksaum hatte sie einen großen blauen Fleck. Unter anderen Umständen hätte er sie nicht einmal mit dem Hintern angesehen. Jetzt schon. Sie war anders als die Frau. Sie würde ihren Schatten auslöschen. Müssen.

Ihr Zimmer war ein kaltes Loch. Ein Teil der Wand fehlte und war durch ein dünnes Brett ersetzt. Hinter der Wolldecke, die im Türrahmen hing, trampelten Leute über den Flur. Die Schritte waren lauter als ihre Frage nach seinem Namen. Langsam wie eine Liebkosung zeichnete sie die Buchstaben mit der Spitze ihres Zeigefingers auf die Tischplatte. Sein Penis wurde groß und drückte gegen seinen Hosenstall.

„Meine Eltern und meine Schwester sind tot. Alle erstickt unter den Trümmern.“ Wieder kam ihre Stimme von einem weit entfernten Ort. „Ich will weg aus Berlin.“ Dann fiel ihr Blick in seinen Schoß. Als er aufstand und zu ihr ging, streckte sie ihre Hand nach ihm aus. Ihre Augen waren immer noch groß und weit geöffnet.

Schluss. Warum erzählt er sich das alles? Der Körper, der ihn damals aufgenommen hat, ist nicht mehr. Zum Grab fahren. Was die Frau sich vorstellt. Das Grab einer Ehefrau ist die Entmannung des Ehemannes. Jedenfalls, wenn er alt ist. Alter Witwer, nie mehr fickt er. Dass er solche Sprüche nicht lassen kann. Seit damals nicht. Der Spott ist in ihn eingedrungen wie Samen und gebiert immer neue Spottlieder. Wie Samen. Auf einmal ist ihm schlecht. Er muss sich übergeben wie diese verblühte Ballerina. All das schöne Brot. Danach ist es, als hätte er nie gegessen. Er zittert. Die Toten einfach irgendwo verscharren. Was wusste sie von Toten, die keine Gräber hatten? Die keine Ruhe fanden und einem auflauerten? Mit dunklen Stoppeln unter der Mütze und einem Leberfleck auf der linken Wange. Die einzige Unvollkommenheit in dem schönen Gesicht. Zu Lebzeiten hatte der Fleck manchmal rosig geschimmert. Er war ein Mal. Aber das wusste er lange nicht. Auch das schöne Gesicht hat ihn betrogen und verraten. Gerichtet. Betrogen und verraten.

Er muss aufstehen. Die Bilder in seinem Kopf anhalten. Der Leberfleck hatte die Form einer an den Rändern zerlaufenden Blume. Schluss. Er sucht mit der Hand Halt an der Tischkante und manövriert sich langsam, schwankend, in den Stand. Bis ins Haus muss er es schaffen. Endlich sitzt er am Küchentisch und greift nach der Flasche. Mit der Öffnung des Flaschenhalses kann er kaum seinen Mund erreichen, weil seine Hand unkontrolliert ausschlägt. Aber endlich geht es doch. Trinken, trinken. Die Wände hören allmählich auf, um ihn zu kreisen. Mit der angefeuchteten Fingerkuppe klaubt er alte Brotkrümel von den zusammengefalteten Zeitungen und schiebt sie sich in den Mund.

Findeltochter - Vaterkind

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