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Kapitel 7

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„Was erzählst du für Lügen!“

Das Gesicht ihrer Mutter sah blass und zerfurcht aus, und die Haare standen wirr um ihren Kopf, als sei sie durch einen heftigen Wind gelaufen. Sie war gerade mit zwei prall gefüllten Einkaufstaschen zur Wohnungstür hereingekommen, während Edith auf dem Weg durch den Flur in die Küche war, um sich ein Glas Milch zu holen. Ehe sie sich versah, packte ihre Mutter sie an beiden Schultern und schüttelte sie. Sie prallte mit dem Rücken gegen die Wand.

„Sieh mich nicht so an mit deinen Unschuldsaugen. Du weißt genau, wovon ich rede.“

Sie wusste es nicht. In ihrem Körper kämpften ein großes Zittern und eine ebenso große Starre einen wilden, unentschiedenen Kampf. Sie konnte sich nicht rühren, nicht einmal ihren Mund öffnen.

„Komm!“

Ihre Mutter ließ ihre Schultern los und schloss mit blitzartiger Geschwindigkeit eine Hand wie einen Schraubstock um ihren Arm.

„Zieh dir was über, los, los!“

Sie gehorchte, ohne einen klaren Gedanken fassen zu können. Dann zog ihre Mutter sie ins Treppenhaus, die Treppe hinunter, auf die Straße. Das Sonnenlicht glich einem Hohnlachen. Immer noch hielt ihre Mutter ihren Arm mit eisernem Griff fest und lief, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass sie kaum Luft bekam. Sie stolperte hinterher. Dann standen sie vor dem Haus, in dem Hildegard wohnte. Ein Klumpen fiel in ihren Magen und erzeugte eine Übelkeit, aus der eine leise, noch vage Ahnung aufstieg.

„Los, mach schon. Ich habe nicht vor, meinen ganzen Tag mit deinen Lügen und ihren Folgen zu verbringen.“

Sie glaubte zu ersticken. Ihre Knie gaben bei jeder Stufe nach, aber die Hand ihrer Mutter zerrte sie unbarmherzig die sechs Stockwerke hoch.

Als Hildegards Mutter die Wohnungstür öffnete, schlug ihr Herz in ihrer Kehle, und sie konnte nur noch verschwommene Umrisse sehen.

„Ich bin mit meiner Tochter gekommen, damit sie den Mist, den sie verzapft hat, richtig stellt.“

„Ach Gott“, sagte Hildegards Mutter, dann lange nichts und dann noch einmal: „Ach Gott. Nun nehmen Sie das doch nicht so tragisch, Frau Ohm.“

„Doch.“

Sie spürte, dass der Körper ihrer Mutter bei diesem Ausruf bebte.

„Edith muss lernen, dass Lügen Konsequenzen haben. Sie muss lernen, Verantwortung zu übernehmen. Wir stören Sie auch nicht lange. Hildegard ist doch da?“

„Ja“, antwortete Hildegards Mutter mit einem leisen Zögern, dem Edith unter der Hülle der Verzweiflung, die sie umgab, schon anhörte, dass sie nachgeben würde.

„Aber wir sind gerade beim Essen.“

Dann öffnete sie die Wohnungstür ganz und ließ sie ein. Ediths Herz raste in ihrer Brust wie ein verängstigtes und zorniges Tier in einem Käfig. Ihr Herz würde sie erschlagen. Sie atmete nicht mehr. Die Hand ihrer Mutter, die ihre eigene immer noch mit hartem Griff fest hielt, zitterte jetzt so stark, dass dieses Zittern auch auf ihren Körper übergriff. Hatte ihre Mutter auch Angst?

Sie traten ins Wohnzimmer. Hildegard sah von ihrer Suppe auf, zuerst erstaunt und dann schlagartig besorgt. Ihre Augenbrauen zuckten. In der nächsten Sekunde nahm Edith etwas wahr, das sie erstarren ließ. Am Tisch saß noch ein Junge. Er sah neugierig zu ihrer Mutter und ihr hinüber, ohne eine Miene zu verziehen. Für einen kurzen, wahnwitzigen Moment hoffte sie, dass er ihre Rettung sein würde. Ihre Mutter würde ein Einsehen haben und ihr Schonung gewähren. Aber schon schlug deren Stimme zu:

„Hildegard, Edith hat dir etwas zu sagen.“

Ein Stoß traf ihren Rücken, und sie taumelte auf den Tisch zu. Der Junge fixierte sie immer noch mit seinem neugierigen Blick, Hildegards Augenbrauen tanzten nervös. Edith öffnete den Mund. Er war trocken, auch ihre Zunge war trocken, ihre Zähne waren trocken. Ihre Mundhöhle war mit Schmirgelpapier ausgeschlagen, das jeden Ton verschluckte, noch bevor er sich in ihrer Kehle geformt hatte. Und ihr Kopf war zementschwer. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, hatte immer noch nicht begriffen, warum ihre Mutter so wütend war.

„Jetzt sag etwas. Raus mit der Sprache.“

Die Stimme ihrer Mutter peitschte ihren Nacken, wieder traf ihre Faust ihren Rücken. Ediths Herzschlag setzt wieder ein, aber dieses Mal in ihrem Magen. Ihr Herz tobte sich an ihren Magenwänden aus, prügelte eine große, nicht mehr zurückzudrängende Übelkeit hinein. Bevor sie etwas dagegen unternehmen konnte, lag sie auf den Knien und übergab sich auf den Wohnzimmerteppich.

„Ach Gott“, hörte sie Hildegards Mutter sagen, weit weg hinter ihrem Rücken. Und gleich darauf über ihrem Kopf die Stimme ihrer Mutter, die jetzt zitterte vor Entschlossenheit: „Edith hat dich angelogen, Hildegard. Sie hat gar keinen Vater, der sie besucht. Und schon gar nicht beim Zirkus.“

Sie lachte ihr gequältes, bellendes Lachen.

„Sie hat sich das alles nur ausgedacht, um ein bisschen aufzuschneiden. Ich denke, das solltest du wissen.“

In ihrem Körper breitete sich schlagartig eine überwältigende Schwäche aus. Sie konnte sich nicht mehr auf den Knien halten. Ihre Arme hatten keine Kraft mehr, ihren Oberkörper zu stützen. Das letzte, das sie wahrnahm, war der Gestank ihres eigenen Erbrochenen, als sie mit dem Gesicht hinein fiel.

Abends war der kleine Mann verschwunden. Sie suchte nicht nach ihm, denn sie wusste, dass es ihr unmöglich sein würde, den Tanz mit ihm fortzusetzen. Der Gestank ihres Erbrochenen haftete jetzt daran. Die Stimme ihrer Mutter, die ihren Nacken peitschte. Die zuckenden Augenbrauen Hildegards. Als sie wieder zum Haareschneiden ging, fragte Tante Hannelore sie nach ihm.

„Wir tanzen nicht mehr. Er ist gestorben.“

Tante Hannelore sah sie erschrocken an, und einen Moment lang zitterte ihre Unterlippe. Dann strich sie ihr über den Kopf und sagte leise:

„Da kann man nichts machen.“

Danach sprach niemand mehr über ihn. Sie vergaß ihn siebenunddreißig Jahre lang.

Findeltochter - Vaterkind

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