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Kapitel 5

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Sie tanzten nun schon lange miteinander, ohne dass der Tanz seinen Zauber verlor. Edith wurde nicht müde, die schlanke, straffe Taille des kleinen Mannes zu umfassen und ihren Blick zu seinem feinen Gesicht aufzuheben, einer sicheren Insel inmitten des Kreisens. Oft genügte es ihr, sich im Klang der Melodie zu verlieren, die sie leise summte. Manchmal jedoch, wenn sie sich über etwas freute oder Kummer hatte, erzählte sie ihm davon. Sie musste dazu den Mund nicht öffnen. Wenn sie wollte, konnte sie sogar gleichzeitig die Melodie summen. Sie erzählte ihm alles mit ihren Gedanken und durch ihre Blicke, und sie wusste, dass er sie verstand, ebenso wortlos, wie er während ihres Tanzes wuchs und ihr mit seinem Körper Halt gab. Meine Mutter sagt, ich habe keinen Vater. Sein Gesicht ist ihr zugeneigt. Sein feiner, roter Mund lächelt. Das glaubst du so wenig wie ich, nicht wahr? Sie verstärkt ihren Schwung und dreht sich schneller. Die Decke ist nun eine Scheibe, und sie beide sind Akrobaten, die auf der Scheibe Kunststücke vollführen, mit Händen und Füßen halten sie sich an Griffen fest und lassen sich vor den Augen der Leute, die bewundernde Rufe ausstoßen, kopfüber herumwirbeln. Schwindlig wird ihnen nicht, denn sie sind es gewohnt. Außerdem haben sie sich ja gegenseitig. Das Lächeln des kleinen Mannes wird breiter, größer. Jetzt begreift sie auf eimal, warum. Er weiß es besser als ihre Mutter, denn er ist ihr Vater, ein Akrobatenvater, der mit einem Zirkus herumzieht. Deshalb sind ihre Treffen so heimlich und voller Zauber. Sie dreht sich schneller, schneller. Ihr Pferdeschwanz fliegt. Sie ist eine Zirkusprinzessin mit einem Akrobatenvater. Er bringt ihr alle Kunststücke bei, das größte besteht darin, dass er sie auf seinen Händen balanciert, in einem kurzen silbernen Kleid, unter den staunenden Blicken der Zuschauer. Sie wirbelt um ihre eigene Achse, so schnell sie kann, und fühlt sich so leicht wie noch nie zuvor in ihrem Leben. An jenem Abend, an dem sie begriff, dass der kleine Mann ihr Vater war, sprach er zum ersten Mal mit ihr. Er sagte: „Ich bin stolz, dich in meinen Armen zu halten.“

Im selben Jahr kam Hildegard in ihren Kindergarten, ein dünnes, blondes Mädchen mit geflochtenen Zöpfen, die in der Sonne glänzten wie frisch gebackener Butterteig. Als sie diesen Glanz zum ersten Mal sah, wusste sie, dass Hildegard ihre Freundin werden musste. In der ersten Pause setzte sie sich neben sie und gab ihr von ihrem Frühstücksbrot und ihrem Apfel ab. Sie sammelte die Bonbons, die Tante Hannelore ihr schenkte, und teilte sie mit ihr. Eines Tages lud Hildegard sie zu sich nach Hause ein. Im Wohnzimmer stand eine große, dunkle Geschirrvitrine. Zwischen Tellern mit Blumenmustern gab es ein Foto von einem Mann mit kurzem, sehr glattem blonden Haar in einer Soldatenuniform. Hildegard bemerkte, dass sie es ansah.

„Das ist mein Vater. Er ist als Soldat im Krieg gefallen. Vor meiner Geburt.“

„Erzählt deine Mutter oft von ihm?“

Hildegard nickte eifrig.

„Oh ja. Er war so stark, dass er meine Mutter nach der Hochzeit die ganze Treppe hoch getragen hat, vom Erdgeschoss bis hier oben. Und lustig. Für meine Cousins hat er zum Geburtstag immer Kasperletheater gespielt. Alle Rollen. Er konnte seine Stimme verstellen wie ein Schauspieler. Meine Mutter sagt immer, mit dem Papa hättest du deinen Spaß gehabt.“

„Vermisst du ihn?“

Hildegard legte den Kopf schief.

„Ja.“

In Ediths Brust wuchs ein großer Klumpen. Sie holte tief Luft.

„Mein Vater ist Akrobat bei einem Zirkus. Deshalb wohnt er nicht bei uns. Mein Vater kann alles, Seiltanzen, Saltos, Turnen am Trapez. Und er bringt mir alles bei. Er nimmt mich mit, und dann treten wir zusammen auf. Weißt du, was das Beste ist? Wenn er mit mir zusammen auf einem Pferd reitet und mich auf seinen Händen balanciert.“

Hildegards Augen waren groß geworden, und ihr Mund stand ein wenig offen.

„Nimmst du mich mal mit?“

„Ganz bestimmt. Du bist doch meine beste Freundin.“

Sie griff nach Hildegards Hand, die sich heiß und feucht anfühlte. Im selben Augenblick spürte sie, dass hinter ihr jemand ins Zimmer gekommen war. Als sie sich umdrehte, sah sie Hildegards Mutter im Türrahmen stehen. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt, und in ihrem schmalen Gesicht zeichnete sich ein feines Lächeln ab.

Findeltochter - Vaterkind

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