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Kapitel 12

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Sobald sie aus der Hofeinfahrt steuerte, begannen ihre Tränen zu fließen. Schon an der Kasse im Supermarkt hatte sie den Druck hinter ihren Augäpfeln gespürt, der sich bis in ihre Kehle und ihre Brust ausdehnte. Es kostete sie Kraft, ihm standzuhalten, solange sie in der Nähe des Alten war. Wenigstens hatte er nichts bemerkt. Oder hätte er sie sonst gleich nach dem Verstauen der Einkäufe gefragt, ob sie ihm bei der Ernte im Gemüsegarten helfen würde? Jetzt war sie auf einmal nicht mehr sicher. Vielleicht war er noch unverfrorener, als sie sich einzugestehen wagte, und nutzte sie aus, obwohl er begriff, dass er sie verletzte. Nahm sie beim Wort. Schließlich hatte sie gesagt: „Ich will etwas für Sie tun.“ Sie war hinter ihrer Hilfsbereitschaft in Deckung gegangen, obwohl sie eigentlich etwas von ihm erhoffte. Klarheit. Die Lösung ihres Lebens aus dem Zustand einer Fata Morgana.

„Vergiss nicht, dass ich auch ohne Vater aufgewachsen bin. Wie übrigens viele in unserer Generation.“

Jedes Mal, wenn Rüdiger das sagte, versuchte sie, ihm den Unterschied zwischen einem abwesenden und einem ausgelöschten Vater zu erklären. Zwischen einem Vater, von dem es Bilder gab und nach dem man fragen durfte, und einem, dessen Existenz geleugnet wurde.

„Es ist, als gäbe es mich nicht. Als hätten meine Zeugung und Empfängnis nie stattgefunden. Mein Leben kommt mir vor wie eine Luftspiegelung.“

„Mir nicht. Du bist doch da.“

Rüdiger lachte, packte ihre Schultern und knetete sie, bevor er sie umarmte. Er verstand es nicht. Ihre Erklärungsversuche waren sinnlos. Trotzdem tat die Erinnerung an seine Zärtlichkeit jetzt weh. Sie musste am Straßenrand anhalten und ihr Gesicht abtrocknen.

War Otto Guse ihr Vater? Sollte sie es sich wünschen, nachdem sie ihn nun kannte? In jedem Fall war er ihre letzte Chance. Die wenigen Spuren, die ihre Mutter hinterlassen hatte, führten zu ihm. War er es nicht, würde sie ihren Vater nie finden. Ihr Leben würde ihr weiterhin vorkommen wie ein flirrendes Phantom, das die Hitze in die Luft über dem Asphalt zeichnete.

Als Kind hatte sie einmal geglaubt, ihr Vater sei zurückgekehrt. Sie kam nachmittags von einem Pionierauftrag und schloss die Wohnungstür auf. Das Lachen einer männlichen Stimme empfing sie, ein kehliges Lachen, scharf wie ein durch die Luft wirbelndes Messer. Sie zuckte zusammen und blieb auf der Türschwelle stehen. Nie zuvor hatte ein Mann ihre Mutter besucht. Natürlich kam Rüdiger oft zusammen mit Tante Hannelore, aber er war ein Junge mit einer hohen Stimme. Der Mann schleuderte sein Lachen erneut in den Flur, als fordere er ihre Aufmerksamkeit, wolle dafür sorgen, dass sie ihn auf keinen Fall überhörte. Zögernd trat sie ein. Die Wohnung war ihr auf einmal fremd. Der Wind schlug die Tür hinter ihr zu, sodass sie wieder zusammenfuhr. Während sie, noch immer mit behutsamen, langsamen Bewegungen, ihre Jacke an die Garderobe hängte, stand ihre Mutter plötzlich neben ihr.

„Komm bitte ins Wohnzimmer. Ich möchte dir jemanden vorstellen.“

Ihre Stimme klang streng vor Anspannung, als sei sie im Begriff, eine schwere Pflicht auf sich zu nehmen. Edith folgte ihr, zögerte aber wieder im Türrahmen. Ihre Mutter ging mit zügigen Schritten auf einen Sessel zu, ohne sich nach ihr umzudrehen. Der Mann saß auf dem Sofa. Seine Stirn war hoch und breit gewölbt wie das Schild eines Kriegers, und seine Augen glichen einem kristallgrauen Quarzgestein mit hellen und dunklen Einsprengseln, als hätte alles Gesehene dort Spuren hinterlassen, sei im Grau dieser Augen eingefroren worden und erstarrt. Sie unterzogen sie einem ausgedehnten, stummen Verhör. Dann brüllte er plötzlich:

„Für Frieden und Sozialismus. Seid bereit!“

Es klang zornig, und die graue Kälte seiner Augen funkelte jetzt. Sie erstarrte und wagte nicht, weiter zu gehen. Sie wagte es auch nicht, den Mund zu öffnen. Ihre Kehle war im Hals festgefroren. Ihre Mutter musste erzählt haben, wo sie den Nachmittag verbracht hatte. Schließlich trug sie keine Uniform.

„Na, Pionierchen. Weißt du die Antwort nicht?“

Er sprach jetzt leise, drohend.

„Also noch einmal, laut und deutlich: Für Frieden und Sozialismus. Seid bereit!“

Wieder schwoll seine Stimme an. Seine Augen funkelten. Jetzt war sie sicher, Hass darin zu erkennen. Sie versuchte es:

„Immer bereit.“

Leise und zittrig würgte sie die Worte aus ihrer verkrampften Kehle. Es klang kläglich. Der Mann legte eine Hand hinter sein Ohr:

„Wie bitte? Ich verstehe nichts. Lauter!“

Sie versuchte es wieder, aber es gelang nicht besser als beim ersten Mal. Gegen ihren Willen verstärkte sich das Würgen. Sie begriff, dass sie kurz davor war, in Tränen auszubrechen, und zwang sich, die Lider offen zu halten. Die Gestalt des Mannes verschwamm bereits vor ihren Augen. Die scharfen Messer seiner Lachsalven flogen auf sie zu.

„Da hört sich doch alles auf! Ein heulendes Pionierchen.“

Am liebsten hätte sie sich die Ohren zugehalten, wagte es aber nicht. Sie sah zu ihrer Mutter. Die saß in ihrem Sessel dem Mann gegenüber und starrte auf ein Blumenbild, das schräg hinter seinem Kopf über dem Sofa hing. Ihre Locken fielen noch tiefer in ihre Stirn als gewöhnlich. Es sah aus als verberge sie ihr Gesicht hinter einem Vorhang. Ihre Lippen zuckten. Allmählich verebbte das Lachen des Mannes. Es gluckste noch ein paar Mal in seiner Kehle, während er Messer für Messer hinunterschluckte und irgendwo in seinem Bauch verstaute.

„Genug, genug“, sagte er schließlich wie zu sich selbst. „Du bist nur ein dummes Kind und kannst nichts dafür. Komm her.“

Noch nie hatte jemand sie ein dummes Kind genannt. Die Stimme des Mannes klang jetzt sanft und ein wenig traurig. Zögernd trat sie auf ihn zu.

Ihre Mutter löste ihren Blick von dem Bild und schüttelte ihr Haar aus der Stirn, aber nur so weit, dass sie Narbe bedeckt blieb. Eine vorsichtige, genau abgemessenen Bewegung, die ihr Körper von selbst vollzog wie einen Reflex. Sie sah zu ihr, mit zusammengezogenen und ein wenig über die Lider gesunkenen Brauen.

„Edith, das ist Dr. Stinhöfer. Begrüß ihn bitte anständig.“ Ihre Stimme klang wie eine zu straff gespannte Saite.

„Guten Tag, Herr Dr. Stinhöfer“, sagte sie gehorsam, wagte es aber nicht, weiter auf ihn zuzugehen und ihm die Hand zu geben.

Schweigend sah er sie über den Couchtisch hinweg an. Sein Nase schien sie aufzuspießen und im Raum zu fixieren, sodass ihr jede Bewegung unmöglich wurde.

„Was stehst du da wie eine Ölgötze? Sag etwas.“

Immer noch hörte sie die Anspannung in der Stimme ihrer Mutter. Verzweifelt suchte sie nach einem Satz. Wäre sie mit ihrer Mutter allein gewesen, hätte sie von Frau Windmüller erzählt, die extra einen Kuchen für die Gruppe gebacken und Limonade besorgt hatte, und davon, dass sie nur diesen einen Tag gebraucht hatten, um beide Zimmer zu tapezieren.

„Schön“, hätte ihre Mutter wahrscheinlich geantwortet. „Gut, wenn du lernst, durch eigener Hände Arbeit etwas zu erreichen, und keine Flausen in den Kopf kriegst.“

Jetzt wagte sie jedoch nicht, über ihren Tag zu sprechen. Es war zu deutlich, dass dieser Dr. Stinhöfer keine Pioniere mochte. Die Spannung im Raum wuchs von Sekunde zu Sekunde. Allmählich begann ein Gedanke in ihrem Kopf Gestalt anzunehmen. Zuerst fühlte sie ihn wie eine vage Verwunderung, die sich dann zu einer Frage, einem Wort verdichtete.

„Ist das mein Vater? Ist er zurückgekommen?“

Die Stille, die daraufhin das Zimmer erfüllte, war wie der unhörbare Atem einer verborgenen, sprungbereiten Raubkatze. Ihre Mutter und dieser Mann, der ihr Vater sein musste, starrten sie unverwandt an. Doch während die Miene des Mannes unbewegt blieb, spielte sich im Gesicht ihrer Mutter ein Kampf ab, dessen Mittelpunkt das Starren war. Ihre Oberlider vibrierten fast unmerklich, während die Unterlider von Konvulsionen durchzuckt wurden. Es sah aus, als schlüge ihr Herz unmittelbar unter ihren Augen. Die Falten die sich neuerdings um ihre Mundwinkel abzeichneten, wurden zu tiefen Kerben, wie ein plötzliches Zerreißen der Haut. Schließlich räusperte sich der Mann.

„Zugegeben, die Idee hat einen gewissen Charme.“

Sein Blick glitt zu ihrer Mutter. Im zerklüfteten Grau seiner Pupillen glomm ein Flackern auf, verlosch aber wieder, sobald er ihr Gesicht sah. Er wandte seinen Blick davon ab und starrte wieder sie an.

„Um es kurz zu machen“, er straffte die Zügel seiner Stimmbänder, „ich bin nicht dein Vater. Aber das spielt keine Rolle. Deine Mutter und ich arbeiten zusammen. Wenn es allerdings nach mir geht, wird es dabei allein nicht bleiben.“ Er machte eine Pause, sah wieder zu ihrer Mutter und fragte in einem veränderten, besorgten Ton:

„Margit? Was ist mit dir?“

Die Lider ihrer Mutter flatterten noch, während sie antwortete:

„Nichts. Ich bin nur erstaunt, auf welche absonderlichen Ideen diese junge Dame kommt. An sich haben wir dieses Thema schon lange durch.“

Dr. Stinhöfer stieß ein Lachen aus, das klang, als schleudere er ein Gewicht von sich.

„Lass nur, Margit. Es ist ja kein Wunder, dass das Kind überrascht ist. Ich hoffe doch sehr, dass du nicht ständig fremde Männer in deine Wohnung mitbringst.“

Allmählich begriff sie. Dr. Stinhöfer war nicht ihr Vater. Aber er duzte ihre Mutter und nannte sie beim Vornamen. Und er legte keinen Wert darauf, einer unter vielen Männern zu sein. Er war in ihre Mutter verliebt. Er wollte sie für sich. In ihrem Magen öffnete sich eine Grube. Auf einen Schlag begriff sie, dass die Form seiner Stirn kein Zufall war. Er war ein Krieger. Er würde sie bekämpfen.

Findeltochter - Vaterkind

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