Читать книгу Findeltochter - Vaterkind - Silke Grigo - Страница 22
Kapitel 20
ОглавлениеAm nächsten Morgen kann er nicht aufstehen. In seinem Kopf stürmt es. Zuerst glaubt er, dass er träumt, aber je wacher er wird, desto mehr Kraft gewinnt der Sturm. Als er die Augen öffnet, hat er auch die Wand seines Schlafzimmers erfasst und weht das Fenster immer wieder von links in sein Blickfeld. Es macht ihn verrückt. Er kneift die Lider fest zusammen. Vor seinen Augen zittert eine rot-glühende Dunkelheit. Er tastet nach Gretes Kittelschürze und presst sie gegen sein Gesicht. Aber ihm schlägt nur sein eigener verbrauchter Atem entgegen, der nach abgestandenen Ausdünstungen von Tabak riecht. Soldatengeruch.
Vor der Frau waren schon viele Schwestern um ihn gewesen, im Feldlazarett und im Zug. Allerdings konnte er sich kaum daran erinnern. Es hatte ihn zerrissen, und danach war sein Körper voller Schmerz gewesen, der alle Sinne ausschaltete. Die meiste Zeit lag er bewusstlos. Hörte zwischendurch, dass Lärm gemacht wurde, litt Qualen, wenn sie seine Brust pflügten. Versank wieder in wohltuender Taubheit. Als er in Berlin ankam, sagte der Arzt ihm, dass er auf der Fahrt von dem Eiter in seiner Brust eine Herzentzündung bekommen hatte.
„Um ein Haar hätten Sie nicht überlebt.“
Allmählich kroch er aus seinem Dämmerzustand hervor wie aus einer schützenden Höhle. Sie hatten zwei Betten zusammengeschoben, die er mit drei anderen teilen musste. Neben ihm lag einer, dem sie beide Arme abgenommen hatten. Das gab etwas mehr Platz. Im Schlaf musste er aufpassen, dass er nicht versehentlich in die von Verbänden umhüllte Flanke des anderen stieß. Michael hieß er. Würde nicht mehr fliegen können, dieser Erzengel. An Michaels anderer Seite lag Gerhard, wie er selbst mit einem zerschossenen Brustkorb. Daneben Horst, ein Dicker, dem sie den linken Unterschenkel abgenommen hatten. Eine ältere Schwester, deren akkurater Scheitel unter der Haube schon von grauen Strähnen durchzogen war, versorgte sie. Schwester Else. Sie war eine vollkommene Mutter. Ungeprügelt. Sie beruhigte und linderte Schmerzen. Hatte die bronzen getönte Stimme einer Frau in den mittleren Lebensjahren. Nie wäre er auf die Idee gekommen, sich in ihrer Gegenwart gedemütigt zu fühlen. Er hatte nie eine vollkommene Mutter gehabt. Doch er wusste instinktiv, dass eine vollkommene Mutter die Schwäche ihres Sohnes sehen durfte. Seine Hässlichkeit. Doch dann verschwand Schwester Else, und es kam die Frau. Seit der ersten Begegnung im Verbandsraum wusste er, dass die Zeugenschaft ihres hellblauen Blicks schwer auf ihm lasten würde.
Ein paar Stunden, nachdem er ihr im Verbandsraum zum ersten Mal begegnet war, hatte er aus irgendeinem Grund das Essen nicht vertragen. In seinem Darm wüteten Krämpfe, die von Minute zu Minute stärker wurden. Die gärende Flüssigkeit, die sie in seinen Bauch pumpten, blähte ihn auf und brachte ihn fast zum Platzen. Während er bewegungslos dalag und nach Luft rang, kam die Frau in den Krankensaal und eilte an ein anderes Bett. Er biss die Zähne zusammen. Seine Kiefer fühlten sich an, als seien sie fest zusammengenagelt. Er würde sich nichts anmerken lassen, und dieses eine Mal würde seine Schwäche ihrem Blick entgehen. Noch während er sich das vorsagte und alle Kraft in seinen Willen legte, explodierte sein Unterleib, so laut, dass es im ganzen Saal zu hören war. Das Laken unter ihm wurde in Sekundenschnelle warm und nass von der stinkenden Brühe, die sich aus seinem Körper ergoss. Im nächsten Augenblick stand die Frau an seinem Bett. Ihr Gesicht sah aus wie von einem undurchdringlichen weißen Firnis überzogen. Ohne ein Wort zu sagen, beugte sie sich vor und begann, das schmutzige Laken unter der Matratze hervorzuziehen. Er wandte den Blick ab und wagte nicht mehr, sie anzusehen. Die Mischung ihres leichten Schweißgeruchs mit dem Gestank seines eigenen Kots hing noch lange, nachdem sie ihn gewaschen hatte, in seiner Nase und peinigte ihn.
Seit es ihn zerrissen hatte, war er unfähig. Sein Geschlecht regte sich nie, woran er auch dachte, selbst morgens nicht. Es war nur noch eine Röhre zum Wasserlassen. Er war sicher, dass die Frau über kurz oder lang dahinter kommen würde. Falls sie es nicht schon wusste. Schließlich war sie KRANKEN-SCHWESTER. Zum ersten Mal verstand er dieses Wort wirklich, begriff, dass es zur Impotenz geradezu verdammte. Dank der Frau begann er, die Gesten zu hassen, die diesem Wort Gestalt gaben: Das Ausschütteln der Decken, das Wenden der siechen Körper, das Füttern, die exakten Bewegungen beim Aufziehen des Lakens, das abschließende Darüberstreichen, mit einer Kraft, die einen Toten in ein flaches Brett verwandelt hätte. All diese sauber abgezirkelten Gesten, die sein Schicksal als Krüppel besiegelten. Er hasste jetzt den Krankenschwestern-Blick, der angespannt war, besorgt oder milde, aber sich niemals vor Gefallen und Verlangen verdunkeln würde. Es war die Zeugenschaft, die einen endgültig vernichtete. Die Zeugenschaft einer Frau.
Die anderen schienen das nicht zu bemerken. Sie lagen da, in ihre Kadaver gestopft wie in Särge, und rissen ihre Zoten. Ihrer Geilheit blieb kein anderer Weg als durch die Münder.
„Ich hab in Paris mal ´ne Nutte mit einem kleinen, runden Po von hinten genommen“, nuschelte Horst, der Dicke, in seinem thüringischen Dialekt.
„Die konnte gar nicht genug kriegen, presste nach jeder Ladung ihre Backen noch fester gegen meinen Schwanz. Ich hab sie gevögelt, bis meine Eier leer waren. Dieser weiche Arsch machte mich ganz verrückt.“
Er schmatzte und stieß einen langen Seufzer aus.
„Ich steh mehr auf blond.“
Gerhards Stimme klang matt, als müsse jedes Wort sich einzeln durch die eitrigen Höhlen in seiner Brust arbeiten.
„Und wenn dann auch noch der Busch hell ist...“
Während er zuhören musste, strömte ihm der Schweiß aus allen Poren. Er sah die dunklen Brauen der Frau vor sich. Als sie wenig später kam und den Stumpf des Dicken einrieb, konnte er seine Augen nicht vom Spiel ihrer Oberarme abwenden, das die Bewegung ihrer Hände jenseits der Decke nur erahnen ließ. Wenn es nun gar nicht der Rest des Oberschenkels gewesen wäre, dem ihre sorgfältigen Bewegungen galten? Der Gedanke ließ ihn wohlig und eifersüchtig zugleich erschauern. Er wollte den Schweiß aus ihren Achseln und von ihrem Haaransatz lecken. Ertrug es nicht, dass sie sich mit dem Dicken beschäftigte, ohne ihn anzusehen. Sie sollte ihm gehören. Er war so vertieft, dass die Frau ihn ein paar Mal ansprechen musste.
„Herr Guse, hören Sie mich? Brauchen Sie noch mal die Pfanne?“