Читать книгу Findeltochter - Vaterkind - Silke Grigo - Страница 15
Kapitel 13
ОглавлениеEr döst am Tisch ein. Schreckt hoch, weil ein Mahlwerk in seinem Körper zu arbeiten beginnt, ein wohlbekanntes Mahlwerk, Jahrzehnte lang zwischen seinen Knochen und Muskeln eingeschlossen und stillgelegt, nun zum Leben erwacht, als hätte der Krieg nie aufgehört.
Es spricht sich herum, dass ihre neuen Stellungen bereits von Sträflingen gebaut werden. Froh ist er nicht darüber. Gefühle wie Freude oder Erleichterung übersteigen längst seine Fähigkeiten. Aber sein Kopf reagiert mit einem stumpfen Einverständnis, das sein Körper aufnimmt und das ihm für kurze Zeit das Marschieren erleichtert. Doch der Wundschmerz in seinen Fußsohlen verschlingt es schnell wieder. Das rohe Fleisch pulsiert im Rhythmus seiner Schritte und gibt den Zahnrädern im Innern den Takt vor. Seine Lider fallen immer wieder zu. Er spürt die Zahnräder dann besonders, spürt, wie sie seine Glieder zermalmen. Sie zermalmen auch die Gedanken und Gefühle. Nur nicht die Angst.
Der Himmel ist ein wütendes Gemisch aus Schwefelgelb und Grau, als sie ankommen. In kleine Trupps verteilt durchqueren sie ein Waldstück und nähern sich vorsichtig der Hauptkampflinie. Vom Waldrand aus sieht er die Sträflinge, die noch bis zum Hals in den Gräben stehen und das Erdreich mit Schaufeln ausheben. Die Erde ist klumpig und schwer von Feuchtigkeit. Einer hat eine Schaufel mit einem besonders langen, dünnen Stiel, der jedes Mal, wenn er ihn senkrecht über den Rand des Grabens wuchtet, unter dem Gewicht der Erdklumpen schwankt. Zuerst versteht er nicht, wie der da drüben es fertig bringt zu manövrieren, ohne dass sein Arm sichtbar wird. Doch dann wirft der untere Teil des Stiels plötzlich Falten, die Falten eines Ärmels, und er begreift. Erst recht, als die Männer nach und nach aus den Gräben kommen. Sie kriechen über die Ränder, schlammbedeckte Amphibien, deren Bewegungen von der Kälte großer Erschöpfung eingefroren sind. Die Rücken derer, denen es gelingt aufzustehen, sind krumm. Sie haben ihre Arme und Beine nicht mehr unter Kontrolle. Einer umfasst sein linkes Bein mit beiden Händen und zieht es bei jedem Schritt nach. Bei einem anderen windet sich die rechte Hand wie ein schon halb zu Tode geprügeltes Tier in zuckenden Bewegungen unter dem Ärmel. Jacken und Hosen sind dünn und zerschlissen. Keiner trägt eine Waffe. Der Aufseher kommt gelaufen, packt die Liegengebliebenen einen nach dem anderen am Kragen, hebt ihre ausgemergelten Oberkörper mit einer Hand an und drischt mit einem Knüppel auf ihre Rücken und Schultern ein. Das dumpfe, hohle Geräusch der Schläge dringt bis zum Waldrand. Die meisten kriechen auf allen vieren unter dem Knüppel weg, hinter den anderen her, einigen gelingt es hochzukommen, und sie taumeln auf dünnen, immer wieder einknickenden Beinen weiter. Ein paar verlieren die Orientierung, taumeln in Richtung des Russen. Niemand ruft sie zurück. Drei bleiben liegen. Der Aufseher holt noch einmal mit dem Knüppel aus und schlägt einem von ihnen ein Loch in den Kopf. Dann setzt er den anderen Gefangenen nach.
Sie bekommen den Befehl, in die Stellung einzurücken, und er läuft mit den anderen aus seinem Trupp zwischen den Bäumen hindurch auf die Lichtung, wo die Bunker hinter den Hügeln liegen, springt in einen Graben und landet in der Hocke. Als er sich aufrichtet, sieht er einem der Liegengebliebenen genau ins Gesicht. Seine rechte Wange und sein rechtes Auge versinken im Schlamm, und Erdklumpen sind in seinen geöffneten Mund eingedrungen. Auch auf der linken Wange unter dem Auge klebt ein dicker Schlammspritzer. Der linke Aufapfel ist verdreht. Unter dem Lid sieht nur noch der Rand der Iris hervor, eine schmale, braune Sichel über stumpfem Weiß. Er starrt und starrt, als könne er mit seinem Blick auch den Blick des anderen zum Leben erwecken. Erst, als er das blinde, tote Auge nicht mehr erträgt, treten die dunklen, leicht gekräuselten Stoppeln unter der Mütze in sein Bewusstsein. Auf einen Schlag begreift er. Das auf der linken Wange ist kein Schlammspritzer. Es ist ein Leberfleck. Ein Leberfleck, der einer an den Rändern zerlaufenden Blume gleicht. Die Wahrheit springt ihn an wie kochendes Metall, das sich über seinen Kopf und seine Schultern ergießt, in Sekundenschnelle erkaltet und seinen Körper in einen starren Panzer einschließt.