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Der nächste Morgen, kurz nach neun, Polizeipräsidium Frankfurt. Elijah saß vor dem Schreibtisch von Hauptkommissar Mattheis und rieb sich den Ellbogen, den ihm Gielert überstreckt hatte und wartete darauf, dass der Kripomann auf der anderen Seite des Tisches den Hörer auflegte.

Was der jetzt tat.

„Tut mir leid, Nachwehen von unserem nächtlichen Ausflug in das aufregendste Viertel unserer schönen Stadt. Immer dasselbe. Am nächsten Morgen rufen die Anwälte an. Oder die Anwältinnen, genauso schlimm. Wie die hier gerade, das war Frau Doktor von Mayer-Prechting. Ich sage immer Frau Mayer-Prächtig, da regt sie sich so schön auf.“ Mattheis lachte und lehnte sich schwer auf den Tisch. „Wie wir es wagen können, eine Razzia bei ihrem Mandanten zu machen, einem unbescholtenen Geschäftsmann.“ Er schüttelte den Kopf. „Was ich besonders mag, wenn sie sagt, Mein Mandant bezahlt mit seinen Steuern Sie und alle Ihre Kollegen, und dann: Herr Kommissar!“

Elijah deutete auf die Plastiktüte mit Tabletten vor ihm. Klein, die meisten rund, fast alle beige oder gelblich. Alle mit eingestanzten Symbolen. „Von dem Geschäftsmann?“, und Mattheis nickte. „Ecstasy ...“, sagte Elijah und beugte sich vor, um besser sehen zu können, „mit einem Smiley?“

Mattheis strich rechts und links über seinen dichten Schnurrbart, „Smileys, Herzchen ... hier-“, und deutete mit einem dicken Zeigefinger auf eine Pille, „ein VW-Käfer, daneben, mit einem Mercedes-Stern. Audi hatten wir schon, aber kein Porsche und kein Opel, darauf warten wir noch. Hammer und Sichel haben wir auch, hier, und die olympischen Ringe, da. Und natürlich“, sein Finger huschte jetzt von rechts nach links nach unten, „Schweine, Hunde, Vögel, Pferde ...“ Er sagte, „Die hier sind von der privaten Party dieses Geschäftsmanns in der Dreihundert-Quadratmeter-Wohnung über seinem Puff. Entschuldigung, Frau Mayer-Prächtig: über seinem Business. Die haben Krokus gehört und Pillen reingeworfen, das gesamte Tierreich durch von Affe bis Zebra. Unter der Spüle haben wir drei Uzis gefunden und mehr Munition als der IS hat. Was soll man davon halten?“

„Krokus?“

„Hardrock aus der Schweiz“, und lachte. „Ich sags nochmal: Hardrock. Aus der Schweiz. Wie geht das? Die Bandmitglieder haben Totenköpfe auf dem T-Shirt, und das Durchschnittsalter liegt bei sechzig.“

„Der Shirts?“, sagte Elijah, und Mattheis lachte wieder.

„Vermutlich auch.“

Elijah wollte etwas von Mattheis, also hatte er auch etwas mitgebracht: Brötchen, Bratenaufschnitt, Kartoffelsalat, Fleischwürstchen. Mattheis hatte Wort gehalten und Kaffee gekocht, Tassen aus dem Regal hinter sich geholt, sogar ohne alte Ränder. Jetzt schob er die Pillen zur Seite, sie rissen die Papiertüten auf und fingen an.

Der Kommissar teilte sich den Raum mit einem Dutzend Kolleginnen und Kollegen und jeder schien zu ihnen herüber zu gucken.

„Wir haben noch nicht unser erstes Bier miteinander getrunken und sitzen schon zusammen beim Frühstück wie ein altes Ehepaar“, sagte Mattheis und tippte auf seinen Bauch. „Was hätten Sie gemacht, wenn ich gerade eine Diät angefangen hätte? Oder was, wenn ich Vegetarier wäre? Oder, schlimmer, Veganer?“ Dann nahm Mattheis ein Würstchen und wischte es durch den Senf und biss es zur Hälfte ab, kaute zweimal und schob eine Plastikgabel voll Kartoffelsalat hinterher.

„Ich hätte auf Sie eingeredet, dass jede Diät absolut sinnlos ist und Ihnen nur die Laune verdirbt, und ruckzuck hätten Sie mit dem Blödsinn wieder aufgehört“, sagte Elijah. „Und überhaupt, bei der Kripo in Frankfurt und ein Vegetarier? Oder Veganer? Wie soll das funktionieren?“

Mattheis schluckte und sagte, „Stimmt, unwahrscheinlich. Was wir hier so sehen, da brauchen wir etwas Vernünftiges im Magen. Sonst gibts Probleme beim Kotzen.“ Ohne zu lächeln.

Elijah ließ seinen Blick über den Raum schweifen. „Ich hätte mehr mitbringen sollen.“

„Sorgen Sie sich nicht um die“, und laut, „die können sich ihr Frühstück selbst holen.“

„Du bist ein guter Kollege, Frankieboy“, kam vom Tisch nebenan, eine nicht ganz schlanke Dunkelhaarige mit einem Stapel Akten auf dem Tisch und einer Literflasche Wasser neben dem Bildschirm. Sie sah Elijah an. „Wissen Sie, warum ich ihn Frankieboy nenne?“ Elijah hütete sich, den Kopf zu schütteln oder auch nur zu lächeln. Sie sagte, „Ich verrate es Ihnen trotzdem. Weil, wir waren mal in einem Sexshop, wir suchten einen Zeugen, von dem wir wussten, dass der sich da öfter rumtrieb, und mein stark übergewichtiger Partner hier-“ Ihr Telefon klingelte. Sie guckte auf die angezeigte Nummer und hob ab, hielt die Muschel zu und sagte zu Elijah, „Gleich gehts weiter, nicht weglaufen“, und in den Hörer, „Ich hab schon gewartet. Was hast du für mich?“

Mattheis hielt den Rest von dem Würstchen in ihre Richtung und steckte es in den Mund und bekam den Finger als Antwort.

„Ihr können Sie das mal erklären mit der Diät. Alle paar Wochen hat sie so eine Phase, ohne, dass es etwas nutzt, sehen Sie ja selbst. Und dann ist ihre Laune genau so, wie Sie sagen.“ Mattheis kaute. „Okay, Amelie Bennett. Warum interessiert sich das BKA für Amelie, Herr ...?“

„Leblanc.“

„Richtig, Leblanc. Leblanc ... Leblanc ... kenne ich Ihren Namen?“

Elijah zuckte mit der Schulter.

„Hm ... vielleicht auch nicht.“

Elijah hatte das Gefühl, mit Mattheis reden zu können. Offen, ehrlich, ohne Gerangel über Kompetenzen, Dienstwege, offizielle Anträge, all das. Zwei Cops im gleichen Alter, die seit zehn Jahren Partner sein könnten. Die ihren Job ernst nahmen und wussten, dass ihre Arbeit einen Unterschied machte. Die auch selbstbewusst genug waren, von anderen Hilfe anzunehmen. Also erzählte Elijah von Amelies Verschwinden vor zwei Jahren und von Jankowskys Mail an Jo und ihrem Gespräch über den Obduktionsbericht.

„Dieser Jankowsky“, sagte Mattheis dann, „was halten Sie denn von dem?“

„Die Nulllinie der deutschen Polizei“, sagte Elijah und sah Zustimmung in Mattheis' Gesicht.

„Sehe ich genau so. Ich habe ja nur ein Mal mit ihm telefoniert, aber, ehrlich ... das ist einer von den Kollegen, die mit einem Aktenkoffer zum Dienst kommen, jeden Tag ein Butterbrot und ein neues Heft mit Kreuzworträtsel drin. Wir haben hier auch einen oder zwei davon, die sitzen ganz hinten in der Ecke.“ Kopfnicken hinter sich.

„Und in Jankowskys Fall noch einen Dreierpack Underberg“, sagte Elijah und, als er Mattheis' fragenden Blick sah, nickte.

„Erklärt manches“, sagte Mattheis dann.

„Wie haben Sie Amelie identifiziert, Mattheis? Als sie aus Trier verschwand, hatte sie keinen Ausweis dabei, kein Telefon, nicht einmal ihr Portemonnaie mit dem Schülerausweis.“

„Als wir sie gefunden haben, hatte sie auch nichts dabei“, sagte Mattheis. „Ich hatte eine unbekannte Tote, keine Papiere, nichts. Wir habens also gemacht wie immer. Und es war einfach. Abgleich gegen Inpol und Treffer. Dann natürlich noch die DNA-Probe aus Trier.“ Er sagte, „Die DNA-Probe, das war die Gelegenheit, als ich mit Jankowsky telefoniert hab. Hat mir das Ohr vollgequatscht, was er alles angestellt hätte vor zwei Jahren. Hundestaffel, Helikopter, Zeugenbefragungen, blah-blah. Als hätte er alleine jeden einzelnen Trierer vorgeladen, so hat er sich angehört. Rausgekommen ist ja offensichtlich trotzdem nichts. Dann wollte er noch die Probe persönlich vorbeibringen, ich vermute mal, um sich bei den Eltern aufspielen zu können. Oder vielleicht wollte er auch nur mal die große Stadt besuchen, keine Ahnung. Ich hab ihm aber gesagt, wir seien verpflichtet, einen vereidigten Kurierdienst zu benutzen.“ Mattheis grinste, Senf an der Unterlippe.

Elijah grinste auch und sagte dann, „Amelie. Sie hatte also nichts bei sich, als Sie sie gefunden haben? Keine Tasche, kein Koffer, nichts?“

„Nichts.“

„Ein Foto? Oder ein Mobiltelefon?“

Mattheis schüttelte den Kopf.

„Eine Simkarte aus einem Telefon?“

„Nichts dergleichen. Nur die Kleidung an ihrem Körper und knapp zweihundert Euro in der Hosentasche.“

„Welche Kleidung?“

Mattheis legte sein Brötchen weg und griff hinter sich und zog eine Akte hervor, blätterte mit spitzen Fingern und sagte, „Fleecepulli, gelb, mit Stehkragen und Reißverschluss. T-Shirt, Levis-Jeans, Converse ... so eine Art Turnschuhe. Socken, Unterhose, BH.“ Er klappte die Akte zu und schob sie mit dem Unterarm zur Seite. „Billige Massenware. Wo ein bestimmtes Kleidungsstück gekauft wurde, ist ja heutzutage kaum mehr feststellbar, überall auf der Welt wird ja derselbe Kram angeboten. Aber die Kollegen versuchens trotzdem.“ Er biss ins Brötchen. „Ich war mit meiner Frau mal in Bangkok, schon ne ganze Weile her, aber zum ersten und zum letzten Mal, das sag ich Ihnen. Ich wollte mich entspannen, vielleicht mal wieder ein Buch lesen, und wir sind ausgerechnet nach Bangkok ... Wie auch immer, jedes Mal, wenn sie mit ihren Tüten zurück ins Hotel kam, hab ich ihr gesagt, Genau dasselbe hast du zuhause im Schrank hängen. Warte.“ Er wischte die Finger am Papier und blätterte wieder und drehte die aufgeschlagenen Seiten zu Elijah.

Sechs Fotos, sechs Mal Amelie. Wie Mattheis sagte, gelber Fleecepulli, Jeans, Turnschuhe. Sie lag in einem Hauseingang auf hellen Fliesen, vor einer Treppe, die nach oben führte, ihr Kopf gegen die Wand gelehnt, die Beine ausgestreckt, der linke Pulloverärmel hochgezogen. Im Unterarm eine Spritze. Der Hauseingang war sauberer, als Elijah erwarten würde bei einem Ort, wo eine Straßenprostituierte an einer Überdosis gestorben ist.

„Das haben wir natürlich auch gefunden.“ Mattheis deutete auf die Spritze und sagte, sie hätten zwei kleine Einstiche neben dem eigentlichen Einstich gefunden; als ob Amelie sich zunächst nicht getraut und probeweise gestochen hätte. Und da wäre natürlich noch die Syphilis.

„Syphilis?“

„Primärstadium, sie muss sich etwa vier Wochen vor ihrem Tod damit angesteckt haben. Durch Oralverkehr, das Geschwür hatte sie im Rachen. Fotos haben wir auch, wenn Sie sich das ansehen wollen.“

Elijah schüttelte den Kopf.

„Gut dann. Zum Zeitpunkt ihres Todes war Amelie daher hochinfektiös. Sollte sie also ungeschützt angeschafft haben, werden demnächst ein paar Fälle beim Gesundheitsamt gemeldet. Vielleicht kommen wir aus der Richtung dann an jemanden heran, der mit Amelie zu tun hatte.“ Mattheis deutete auf ein Foto von der Obduktion. „Und dann haben wir noch die alten Narben, die-“

„Alte Narben?“

„An ihrem Unterarm, hier, über dem Handgelenk. Von einem sehr scharfen Messer oder einer Rasierklinge. Längs, nicht quer. Zwischen zwei und vier Jahre alt, meint unser Medizinmann.“

„Längs, nicht quer“, sagte Elijah.

„Ja, sie hat es ernst gemeint damals. Hat Jankowsky Ihnen nichts von den Narben gesagt?“

Elijah schüttelte den Kopf.

„Sie müssen später entstanden sein, nach Amelies Verschwinden“, sagte Mattheis. „Ich habe Jankowsky natürlich gefragt, er sagt, Amelie hätte früher keine solchen Narben gehabt.“

„Nach ihrem Verschwinden haben wir Blut von Amelie gefunden, eingesickert im Boden“, sagte Elijah. „Die KTU meinte damals, es wäre sehr viel Blut, fast zu viel, um es zu überleben. Später hat die Kollegin präzisiert, es wäre möglich gewesen, aber wohl nur mit sofortiger Hilfe.“

„Die Amelie offensichtlich bekommen hat.“

„Kein Zweifel.“

Elijah guckte auf den linken Arm mit der Spritze, auf den rechten mit den Narben und dachte kurz darüber nach. Dann lehnte er sich wieder zurück und sagte, „Jankowsky hat meiner Kollegin heute Morgen gesagt, ihr habt Amelie im Bahnhofsviertel gefunden. Sie hätte dort auf der Straße angeschafft. Das hat mich überrascht, ich dachte, der Straßenstrich wäre aus dem Viertel raus.“

Mattheis nickte und nahm eine Straßenkarte in Plastik geschweißt vom Regal und hielt sie hoch. „Unser Rotlichtviertel ist hauptsächlich hier: Taunusstraße, Elbestraße, Moselstraße.“ Sein Finger huschte über die Karte. „Amelie haben wir in der Elbestraße gefunden, genau ... hier. Und wie sie aussah, wie sie gestorben ist, sind wir davon ausgegangen, dass sie dort auch angeschafft hat. Was uns selbst überrascht hat, denn das Gebiet ist absolutes Sperrgebiet, und die Frauen halten sich auch daran. Na ja, meist.“ Er legte die Karte zurück. „Das Haus, in dem Amelie lag, ist ein reines Wohnhaus, kein Bordell, auch kein Mischhaus, das heißt es gibt dort auch keine Laufwohnungen, die von Prostituierten genutzt werden. Und die Haustür hat ein stabiles, gut funktionierendes Schloss. Niemand kommt da rein, der keinen Schlüssel hat oder dem von drinnen nicht geöffnet wird. Ein sauberes Haus. Sie haben ja das Foto gesehen.“

„Wer hat Amelie gefunden?“

„Eine Anwohnerin.“

Elijah sagte, „Todeszeit zwischen Mitternacht und vier Uhr morgens am dritten Februar?“, und als Mattheis nickte, „Wann wurde Amelie entdeckt?“

„Gegen sieben. Die Anwohnerin wollte sich gerade auf den Weg zur Arbeit machen.“

„Dann hat sie den Schock ihres Lebens bekommen.“

„Nein, die nicht. Die Frau ist Krankenschwester.“ Mattheis sagte, „Wir sind am nächsten Tag zurück, Elli und ich“, Kopfnicken nach nebenan zu der Dunkelhaarigen, die jetzt aber nicht mehr an ihrem Schreibtisch saß; der Anruf musste wichtig gewesen sein, „und haben die anderen Hausbewohner befragt. Auch die Krankenschwester natürlich. Niemand hatte das Mädchen je zuvor gesehen.“

„Am nächsten Tag bereits? Warum die Eile? Sie hatte eine Überdosis, vermutlich kein Fremdverschulden, dann die alten Narben ...?“

„Wir sind von einer Überdosis ausgegangen, ja. Wir hatten noch keine Bestätigung vom Gerichtsmediziner, und normalerweise hätten wir auch seinen Bericht abgewartet, bevor wir irgendwas gemacht hätten“, sagte Mattheis. „Aber wie ich bereits am Telefon erwähnte, bei Amelie passt einiges nicht zusammen.“

Schwesterherz

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