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Die Beerdigung war, wie Beerdigungen an trüben Wintertagen sind. Elijah zählte zwanzig Jugendliche, wohl frühere Freunde und Klassenkameraden von Amelie, und noch einmal so viele Erwachsene, ältere, jüngere, alle in dicken Mänteln und Jacken; Onkel und Tanten, Nachbarn, Bekannte. Jeder, der sich verpflichtet fühlte.

Elijah hielt Abstand zu der Gruppe in einem Halbkreis vor dem Sarg und dem Pastor in seinem schwarzen Gewand, Gebetbuch aufgeschlagen in der einen Hand, mit der anderen darin blätternd. Elijah sah Amelies Eltern, Frau Bennett und ihr Mann, zwischen ihnen ein junges Mädchen, das die zweite Tochter sein musste, Amelies jüngere Schwester. Ihren Namen kannte er nicht, aber sie musste jetzt so alt sein wie Amelie bei ihrem Verschwinden. Außerhalb des Halbkreises an der Seite stand Jankowsky in seiner braunen Kordjacke und der blauen Wollmütze, da hatte sich nichts geändert. Fünf Schritte hinter ihm Niehring, sein Stellvertreter, der jetzt den Kopf drehte und Elijah zunickte. Elijah nickte zurück.

Bis auf die Jugendlichen in Jeans und Turnschuhen waren alle dunkel gekleidet, und niemand sprach, außer dem Pastor, der mittlerweile das Gebetbuch zugeschlagen hatte und routiniert seine Rede abspulte bis auf die eine Stelle, wo er Namen vertauschte und „unsere liebe Jessica“ sagte, weißer Hauch vor dem Mund. Aber niemand lachte. Auch dann nicht, als er behauptete, die Verstorbene wäre vom gütigen Herrgott aufgenommen worden.

Weit hinten sah Elijah eine zweite Beerdigung. Wenigstens schneite es nicht.

Dann war es vorbei. Die Jugendlichen stellten sich zusammen, Arme auf Schultern, zwei Erwachsene gingen hin und wurden in den Kreis aufgenommen. Lehrer vielleicht. Die anderen Erwachsenen standen zu dritt, zu viert in Grüppchen. Vielleicht sprachen sie über Amelie, vielleicht nicht. Vielleicht über das kalte Wetter oder das anschließende Essen im ‚Ochsen‘ oder im ‚Moselblick‘ oder wo immer es hinging und ob der Koch wohl ihre Allergien berücksichtigen würde.

Wen Elijah nicht sah, war Amelies Exfreund. Es wunderte ihn nicht, ärgerte ihn aber.

Amelies Mutter stand jetzt alleine, ihr Mann war mit der Tochter an der Hand zu den Jugendlichen gegangen; als hätte sie Mann und Tochter weggeschickt, so hatte es für Elijah ausgesehen. Frau Bennett, elegant in schwarzem Pelzmantel und Hut, schwarze Strümpfe, schwarze Stöckelschuhe, guckte zu Elijah und kam jetzt zu ihm.

„Ich bin froh, dass Sie gekommen sind, Herr Leblanc“, und reichte ihm sogar die Hand, mit festem Druck, die Hand schmal und sehr kalt. „Ich muss es auch gleich loswerden: Sie hatten Recht damals, und ich hatte Unrecht. Amelie war weggelaufen.“

„Ich habe Ihnen gesagt, Amelie taucht wieder auf. Ich habe Ihnen gesagt, Sie sollen sich beruhigen.“ Elijah schüttelte den Kopf. „Ich hatte daher nicht Recht, Frau Bennett. Und es spielt ohnehin schon lange keine Rolle mehr, Recht oder nicht Recht.“ Er sagte, „Ihr Mann ...“

„Er kann nicht gut mit dem umgehen, was geschehen ist. Er glaubt, wir haben als Eltern versagt. Eine Meinung, die ich zu hundert Prozent teile. Dass Amelie weggelaufen ist, dass sie nicht das Gefühl hatte, sie konnte sich uns anvertrauen ... das ist unsere Schuld. Und meine noch mehr als die meines Mannes, als Mutter ...“

Es hörte sich an, als wollte sie noch etwas sagen, oder vielleicht wollte sie auch nur, dass Elijah etwas sagte. Aber ihm fiel nichts Tröstendes ein, und er hielt den Mund.

Sie sagte, „Mein Mann, er möchte mit niemandem über Amelie sprechen. Auch nicht mit Ihnen. Aber ich wollte mit Ihnen sprechen, deshalb habe ich ihn gebeten, mich alleine zu lassen.“ Sie nickte. „Sehen Sie sich die beiden an. Vater und Tochter Hand in Hand. In den vergangenen zwei Jahren hat er sich mehr denn je um Leonie gekümmert. Leonie ist jetzt vierzehn. Genauso alt wie Amelie war.“

„Amelie und Leonie“, sagte Elijah.

„Ja, das hörte sich immer so wunderschön an, wenn Besuch kam: Das sind unsere Töchter Amelie und Leonie.“ Sie sagte, „Gegenseitig haben sie sich immer Schwesterherz genannt. Nicht kleine Schwester oder große Schwester oder so. Schwesterherz. Süß, nicht?“

Elijah ließ einen Moment verstreichen. „Amelies Exfreund habe ich nicht gesehen“, sagte er dann. „Diesen Ronny.“

„Das ist auch besser so“, sagte sie. „Ich mochte ihn nie. Es schien ihn damals nicht im Geringsten berührt zu haben, als Amelie verschwand. Als die Polizei die Suche nach ihr einstellte. Er hat nie mit uns gesprochen, auf meine Anrufe hat er nicht reagiert. Und ich wollte doch gerne wissen, was zwischen ihnen geschehen war, ob ich etwas hätte tun können. Keine Antwort. Bis eines Tages dann sein Vater bei uns angerufen hat, der feine Herr, und meinte, ich sollte seinen Ronny in Ruhe lassen, er würde sonst eine Unterlassungsklage anstrengen.“

„Ronnys Vater ist Anwalt?“

„Arzt ist er, Orthopäde mit eigener Praxis. Auf den Sohn hat das nicht abgefärbt. Ich habe Ronny vor einer Weile in der Stadt gesehen, vor einem dieser Fitnessstudios. Ich sage Ihnen, du meine Güte. Noch mehr Muskeln, und jetzt auch Tattoos auf den Armen bis zum Hals hoch. Als ich ihn gesehen habe, hat Ronny telefoniert. Er hatte Probleme, das Telefon gegen sein Ohr zu drücken, so dick war sein Arm. Wie eine Pampelmuse. Furchtbar.“

Auf der Fahrt hatte Elijah darüber nachgedacht, aber er wusste, es gab nicht den richtigen Zeitpunkt, also sagte er, „Frau Bennett, hat Jankowsky mit Ihnen über den Obduktionsbericht gesprochen?“

Sie nickte ohne zu zögern.

„Dann hat er ... Also, dann hat Jankowsky Ihnen auch von den Narben an Amelies Arm erzählt?“

Sie atmete ein und aus und nickte wieder.

„Die Narben“, sagte Elijah, „glauben Sie, Amelie konnte so verzweifelt über das Ende ihrer Beziehung zu diesem Ronny gewesen sein?“

Sie zögerte, und Elijah sagte, „Ich kann verstehen, wenn Sie-“

„Ich muss nur über Ihre Frage nachdenken, Herr Leblanc. Geben Sie mir die Zeit. Wir können darüber sprechen.“ Nach einem Moment sagte sie, „Ich halte es für möglich. Sie schien mir sehr verliebt damals ... Dieser Ronny, sechs Jahre älter, in ihren Augen schon erwachsen. Eigenes Auto, vor Selbstbewusstsein strotzend, aus gutem Haus. Mit dem konnte sie angeben. Nicht, dass Amelie gerne angegeben hätte, verstehen Sie mich nicht falsch. Aber Sie wissen, was ich meine. Junge Mädchen mit einem älteren Freund ... das wäre bei mir nicht anders gewesen. Und wenn es dann auseinandergeht ... Ja, ich könnte es mir vorstellen.“

„Wissen Sie, ob Jankowsky noch einmal mit Ronny gesprochen hat? Ich meine, jetzt, nachdem Amelie gefunden wurde?“

„Jankowsky?“, sagte sie. „Das weiß ich nicht. Und wenn, dann hat er nichts herausgefunden, sonst hätte er es mir erzählt. Sie hätten etwas herausgefunden, Herr Leblanc. Sein Mitarbeiter vielleicht auch, der Herr Niehring, dahinten steht er. Der hat mehr Biss. Aber der durfte ja nicht.“

Elijah sah sie an. „Was meinen Sie, Der durfte nicht?“

Sie verschränkte die Arme und ihre Hände verschwanden unter den Ärmeln ihres Mantels. „So hat er mal zu uns gesagt, auf dem Revier. Im Büro. Sagt man heutzutage noch Revier? Polizeirevier? Ich weiß nicht. Also, Jankowsky war nicht da, daher hat der Herr Niehring uns empfangen. Aber sprechen wollte er nicht mit uns. Wir sollten zurückkommen, wenn Jankowsky wieder da wäre. Sein Chef würde die Untersuchung leiten, hat Herr Niehring gesagt, mit eiserner Hand. Damit meinte er, Jankowsky würde jede Befragung selbst machen. Jede. Und nur Jankowsky würde Auskunft zum Stand der Untersuchung geben, niemand sonst, basta. Niehring war darüber sehr verärgert, wir haben ihm das nicht nur angemerkt, er hat es auch so gesagt. Also, er hat nicht gesagt, er wäre verärgert, sondern: es kotze ihn an. So hat er gesagt. Wir sind dann später zu Jankowsky, und danach noch ... ich weiß nicht, zwanzig Mal. Und haben immer dieselbe Antwort von ihm bekommen. Wen er alles befragt hätte damals, was er alles angestellt hätte.“ Sie sagte, „Aber vielleicht fragen Sie ihn selbst ja noch einmal. Jankowsky, meine ich.“

„Das werde ich tun, Frau Bennett.“

Sie sah hoch zu ihm. „Tatsächlich? Heißt das ... das heißt also, Sie ermitteln in Amelies Fall wieder?“

Elijah hatte die Frage erwartet und wollte in der Situation entscheiden, was er antworten würde, und das tat er. Sie hatte es verdient. „Es gibt ein paar Dinge, die bei Amelie nicht zusammenpassen, Frau Bennett“, und er sah, wie sie erwartungsvoll ihre Augenbrauen hob. „Und denen möchte ich auf den Grund gehen. Ich habe aber die Bitte, sprechen Sie mit niemandem darüber. Offiziell ermittele ich nicht. Das ist Sache der Frankfurter Kripo. Und von Jankowsky.“ Er sagte, „Und nur um das klarzustellen: Auch damals haben wir nicht ermittelt. Wir waren zwei Mal hier, kurz, jeweils nur zwei Stunden. Beide Male auf Bitten Jankowskys. Beim ersten Mal haben wir uns die Ermittlungsakten angeguckt und mit Ihnen gesprochen, Frau Bennett. Beim zweiten Mal waren wir am Fundort von Amelies Shirt, in Nells Land? Und haben die Spuren gesichert. Danach hatte ich noch ein kurzes Gespräch mit Ronny. Das war alles.“

„Nells Ländchen.“

„Ländchen? Okay, dann Nells Ländchen eben. Was ich meine, wir haben nie ermittelt.“

Sie sagte, „Warum eigentlich nicht?“

„Weil es sich bei Amelies Verschwinden nicht um eine Serie handelte.“

„Serie? Was meinen Sie damit?“

Elijah überlegte und sagte, „All die furchtbaren Dinge, die ein Mensch einem anderen zufügen kann, die kann dieser eine Mensch auch mehreren anderen Menschen zufügen. Das nennen wir dann eine Serie.“

„Sie wollen meine Gefühle nicht verletzen, deshalb sprechen Sie so verklausuliert. Sie meinen Vergewaltigung? Mord? Sprechen Sie deutlich, Herr Leblanc, für alles andere habe ich keine Geduld mehr.“

„Vergewaltigung. Tötungsdelikte. Raub.“ Elijah sagte, „Kindesmissbrauch. Nur wenn es sich um eine Serie handelt, kann es ein Fall fürs BKA werden. Und nur, wenn es eine Leiche gibt, wird es ein Fall für meine Kollegin und mich.“

„Sie sind hier“, sagte sie. „Amelie ist tot. Es gibt ... eine Leiche. Amelies Leiche. Also glauben Sie jetzt an eine Serie? Und ermitteln?“ Als sie keine Antwort bekam, „Was, Herr Leblanc, passt bei Amelie nicht zusammen?“

„Die Situation hat sich mit dem Auftauchen von Amelie grundlegend geändert, Frau Bennett, das stimmt. Nur, was ich glaube und was ich belegen kann, das sind zwei unterschiedliche Dinge. Aber ja, ich halte jetzt eine Serie grundsätzlich für möglich. Was genau bei Amelie nicht zusammenpasst, die Einzelheiten, darüber kann ich jetzt ... Ich kann darüber jetzt noch nicht sprechen.“

Sie war still.

„Aber ich habe zwei Fragen, Frau Bennett, die Sie mir vielleicht beantworten können.“ Elijah wartete.

„Fragen Sie. Fragen Sie.“

„Amelie“, sagte Elijah, „können Sie mir sagen, ob Amelie an China Interesse hatte? Shanghai vielleicht?“

„Shanghai? China?“ Sie musste nicht nachdenken. „Nein, das kann ich ausschließen. Amelie hatte kein Interesse an fernen Ländern, nicht an China und nicht an anderen Ländern oder Städten. Warum? Was hatte Amelie mit Shanghai zu tun?“

„Haben Sie oder Ihr Mann Kontakte nach Shanghai? Oder in eine andere Stadt in China?“ Sie schüttelte den Kopf. „Oder Verwandte von Ihnen, vielleicht Amelies Onkel oder ihre Tante? Sie haben damals gesagt, Sie und Ihr Mann hätten Geschwister. Haben die vielleicht Kontakte nach China?“

„Nein, niemand von uns hat jemals irgendetwas mit China zu tun gehabt. Was sollen diese Fragen über China? Was hat Amelie mit China zu tun? Mit Shanghai?“

Elijah erzählte ihr von dem Foto, was darauf zu sehen war, dass er nicht wusste, wer es ihm geschickt hatte und bat sie noch einmal um Verschwiegenheit.

„Ich erzähle niemandem etwas“, sagte sie. „Sie müssen Ihre Gründe haben, denke ich.“

Elijah nickte.

„Das waren deutlich mehr als zwei Fragen“, sagte sie.

„Trotzdem habe ich noch eine“, sagte Elijah. „Das Fitnessstudio, wo Sie diesen Ronny gesehen haben. Wo ist das?“

Ihre Augenbrauen zuckten nach oben. „Haben Sie ... Sie wollen ihn fragen, warum er nicht auf Amelies Beerdigung war?“

„Unter anderem“, sagte Elijah. Und sah tatsächlich jetzt ein schnelles Lächeln über ihr Gesicht huschen.

Sie nannte ihm einen Straßennamen und sagte, „Sie wissen, wo der Hauptmarkt ist?“

„Ich stamme aus Trier“, sagte Elijah, „ich weiß, wo der Hauptmarkt ist.“

„Hab ich gar nicht gewusst, dass Sie von hier kommen. Sie wussten nicht, dass es Nells Ländchen heißt.“

„Ich bin bereits als Jugendlicher von hier weg und war seitdem weniger als ein halbes Dutzend Mal in Trier.“ Er zuckte mit der Schulter.

„Gut. Gehen Sie vom Hauptmarkt Richtung Kornmarkt und weiter in die Brückenstraße. Fragen Sie nach dem Karl-Marx-Haus, wenn Sie nicht mehr wissen, wo das ist, das kennt jeder. Daran vorbei die Straße hinunter und zweimal links abbiegen. Sie können dieses Studio nicht verfehlen.“ Sie sagte, „Und wenn Sie weitere Fragen haben, Sie können mich jederzeit ... Warten Sie.“ Sie nahm ihr Telefon aus der Tasche. „Sie können mich jederzeit anrufen.“ Sie tauschten ihre Mobilnummern aus. Sie sagte, „Bislang kann mir noch niemand sagen, was mit Amelie in den vergangenen zwei Jahren geschehen ist, zwei Jahre. Das ist unerträglich. Bei Ihnen ... habe ich ein gutes Gefühl. Damals auch schon, auch wenn es sich für Sie anders angehört haben mag, was mir, ich sage es noch einmal, leid tut. Wenn Sie und nicht Jankowsky damals ... Sie hätten unsere Amelie – Nein, bitte, lassen Sie mich das sagen, Herr Leblanc. Ich glaube, Sie hätten unsere Amelie gefunden. Sie hat noch zwei Jahre gelebt. Und zwei Jahre sind für einen guten Polizisten eine lange Zeit, nicht wahr?“

Elijah schwieg.

Sie sagte, „Nicht wahr, Herr Leblanc?“

Und jetzt nickte er. Was blieb ihm anderes.

„Danke. Wenn Sie also Licht in diese Zeit bringen könnten, selbst wenn dieses Licht weitere sehr unschöne Dinge aus dem Dunkel hervorbringen würde ... Shanghai, mein Gott ...“ Sie sagte, „Mein Mann, Leonie, ich: wir wären Ihnen sehr dankbar. Nichts ist schlimmer als diese Unwissenheit, glauben Sie mir.“ Sie sagte, „Dieses Foto von Amelie, kann ich das haben?“

Elijah spürte das Telefon in seiner Jacke.

„Wenn wir mit der Untersuchung fertig sind, dann bekommen Sie es. Versprochen.“

Schwesterherz

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