Читать книгу Der NSU Prozess - Tanjev Schultz - Страница 68
Tag 51
Оглавление5. November 2013
Manfred Götzl, Richter. Gamze Kubaşık, 28, Tochter von Mehmet Kubaşık, der am 4.4.2006 in seinem Kiosk in Dortmund ermordet wurde. Elif Kubaşık, 49, Ehefrau des Mordopfers. Janica D., 40, Büroangestellte aus Dortmund. Jochen Weingarten, Vertreter der Bundesanwaltschaft. Olaf Klemke, Verteidiger von Ralf Wohlleben. Carsten Ilius, Sebastian Scharmer, Anwälte der Nebenklage.
Götzl Es geht um den Tod Ihres Vaters am 4. April 2006. Es gibt verschiedene Themen, zu denen ich Sie befragen will. Zunächst zur Situation am 4.4.: Wie wurde der Laden Ihres Vaters betrieben, wer war wann vor Ort? Können Sie uns berichten?
Gamze Kubaşık Mein Vater, meine Mutter und ich haben den Laden zusammen geführt. Meine Mutter hat um sechs Uhr den Laden geöffnet, dann hat mein Vater meine Mutter abgelöst, vorher hat er meinen jüngsten Bruder zum Kindergarten gebracht und Einkäufe erledigt. Ich war an der Fachoberschule. Nach der Schule bin ich direkt zum Kiosk und habe meinen Vater abgelöst.
Götzl Wie war es am 4. April 2006?
Gamze Kubaşık Ich war in der Schule, die Schwester meiner Mutter aus London war zu Besuch. Ich habe meinen jüngsten Bruder in den Kindergarten gebracht.
Götzl Wie war der Laden zugänglich?
Gamze Kubaşık Für einen Kiosk war das ein großer Laden, eher eine Trinkhalle. Kunden konnten reinkommen, rechts war der Tresen, wo unsere Kasse stand. Hinter der Kasse standen die Zigaretten. Links die Getränke. Vor der Kasse waren Chips und Süßigkeiten. Ab 22 Uhr haben wir den Kiosk abgeschlossen, danach haben wir über das Verkaufsfenster verkauft. Da gab es auch eine Klingel.
Götzl Gab es eine Überwachungsmöglichkeit?
Gamze Kubaşık Ja, aber mein Vater hat die ausgemacht.
Götzl Die Person Ihres Vaters würde mich interessieren. Wie lange hat er gearbeitet?
Gamze Kubaşık Mein Vater hatte ein, zwei Jahre vor seiner Ermordung einen Schlaganfall. Davor hat er als Lieferant bei einer Dönerproduktion gearbeitet, das konnte er dann nicht mehr machen. Er war ein Jahr in Behandlung und dann arbeitslos. Dann hat er den Kiosk übernommen.
Götzl Wie setzt sich die Familie zusammen?
Gamze Kubaşık Ich habe zwei jüngere Brüder, die 13 und 18 Jahre alt sind. Der Ältere macht eine Ausbildung, der Kleine ist in der Realschule.
Götzl Wie haben sie die Tat wahrgenommen?
Gamze Kubaşık Mein jüngster Bruder hat nicht viel mitbekommen, weil er damals noch so klein war. Die Erzieherin im Kindergarten sagte ihm, sein Vater sei im Himmel. Weil er so viel gefragt hat. Mein anderer Bruder, mit dem war es etwas schwieriger. Nach dem Mord bekam er Probleme in der Schule. Er hat gesagt, dass ein Mitschüler meinte, er solle ihn nicht anfassen, weil wir keine gute Familie sind. Dein Vater nimmt Drogen, deine ganze Familie nimmt Drogen, sagte der Mitschüler.
Götzl Wie erging es Ihnen?
Gamze Kubaşık (mit belegter Stimme) Für mich war es am schlimmsten. Ich hatte ein sehr gutes Verhältnis zu meinem Vater, enger als zu meiner Mutter. Es fing an, dass ich Gerüchte hörte. Leute haben getuschelt: Seht mal, die Tochter, ihr Vater wurde erschossen, der hat Drogen an Kinder verkauft. Eine Frau sagte: Seine Kinder sollen genauso enden. Es war wie eine Verfluchung, dass wir auch drogenabhängig werden.
Ich habe meinen Abschluss 2006 im Berufskolleg gemacht und dann eine Lehre bei Douglas begonnen, in Münster. Als ich im Zug nach Münster saß, hat alles an mir gezittert, Hände und Knie. Jeder im Zug war für mich verdächtig. Als wenn das die Mörder meines Vaters gewesen wären. Ich bin dann die ganze Nacht wach im Bett gelegen. (Knetet ihre Hände.) Ich habe die Ausbildung wieder aufgegeben, weil ich den Verlust meines Vaters nicht akzeptieren konnte.
Götzl Wie würden Sie Ihre heutige Situation beschreiben?
Gamze Kubaşık Ich gebe mich nach außen stark, innerlich sieht es ganz anders aus. Ich denke viel über meinen Vater nach. Über die Tat. Ich kann so gut wie gar nicht einschlafen. Ich habe das Haus nicht mehr verlassen, ich bin ein Jahr nicht mehr rausgegangen. Meine Mutter kann es bezeugen.
Götzl Wie geht es Ihren Brüdern jetzt?
Gamze Kubaşık Mein älterer Bruder ist achtzehn, er kriegt alles mit und ist sehr zurückgezogen, wenn es um die Sache mit unserem Vater geht. Wenn im Fernsehen was kommt darüber, dann geht er in sein Zimmer und sieht sich das allein an. Ich weiß, dass er mit seinen Freunden nie darüber gesprochen hat. Der Ausbildungsbetreuer hat ihn mal darauf angesprochen, aber er wollte nicht, dass die anderen das mitbekommen.
Götzl Und Ihre Mutter?
Gamze Kubaşık Ich weiß, dass meine Mutter viel weint. Seitdem mein Vater tot ist, zieht sie nichts Helles mehr an. Wenn man schwarz gekleidet ist, weiß man bei uns, dass derjenige in Trauer ist. Ich habe mal versucht, ihr in der Stadt eine weiße Bluse zu zeigen. Aber sie hat sie sich noch nicht mal angeguckt.
Anwalt Scharmer Schildern Sie bitte, auf welche Situation Sie trafen am 4.4.2006.
Gamze Kubaşık Ich bin die Mallinckrodtstraße hochgelaufen. Schon von Weitem habe ich eine Menschenmenge und Absperrungen gesehen. Als ich ankam, sagten die Leute, oh nein, da ist die Tochter. Ich wollte an der Absperrung vorbei. Ein Polizist, so Anfang dreißig, guckt mich an und fragt nach meinem Ausweis und sagt dann: Begleiten Sie mich bitte zum Polizeiauto. Dort sagte ich: Ich muss in den Kiosk, mein Vater braucht mich. Wenn er aufgeregt ist, weiß er nicht, was er sagen soll. Ich muss übersetzen. Der ältere Polizist im Polizeiauto sagte: Frau Kubaşık, Ihr Vater ist tot.
Anwalt Scharmer Am 5.4. wurden Sie von der Polizei vernommen. Erinnern Sie sich noch?
Gamze Kubaşık Wir hatten nicht geschlafen, unsere Wohnung war voll mit Bekannten und Verwandten. Mutter hat die ganze Nacht nur geweint. Wir wurden von der Polizei abgeholt, auf der Wache hat man Mutter und mich getrennt. Ich kam in einen kleinen Raum, dann ging es los. Ich wurde nicht gefragt, ob ich in der Lage bin, auszusagen. Es ging einfach los.
Anwalt Scharmer Wenn man Sie gefragt hätte, was hätten Sie gesagt?
Gamze Kubaşık Dass ich nicht kann, dass ich zu Hause sein möchte.
Anwalt Scharmer Hat man Ihnen erklärt, dass Sie eine Vertrauensperson hinzuziehen können?
Gamze Kubaşık Nein.
Anwalt Scharmer Erinnern Sie sich, was Sie gefragt wurden?
Gamze Kubaşık Ob mein Vater Feinde hatte, ob ich weiß, wer das sein könnte.
Anwalt Scharmer Wurden Sie nach Eheproblemen der Eltern gefragt? Nach Geliebten?
Gamze Kubaşık Ja. Ich habe mich geärgert, weil mein Vater so etwas nie getan hätte.
Anwalt Scharmer Wurden Ihnen Fotos von ausländischen Männern gezeigt?
Gamze Kubaşık Ja. Ich habe mir alle echt gut angeguckt, aber erkannte keinen. Ein Polizist sagte: Ihr fällt noch nicht mal auf, dass da einer mehrmals abgebildet war. Er hat sich lustig gemacht über mich.
Anwalt Scharmer War die Polizei bei Ihnen zu Hause?
Gamze Kubaşık Nach meiner Aussage kamen wir nach Hause, die Tür stand offen. Da kam mir ein Mann entgegen, der sagte, ich soll rausgehen. Ich sagte: Ich wohne hier! Im Haus waren noch weitere Männer, Männer in komischen weißen Anzügen mit großen Hunden, die an Sachen meiner Eltern herumschnüffelten. Da bin ich erschrocken.
Anwalt Scharmer Drei Wochen später waren Sie noch mal bei der Polizei vorgeladen? Erinnern Sie sich?
Gamze Kubaşık Ja, sie haben mich gefragt, ob mein Vater Drogen verkauft hat, ob er bei der PKK war, mit der Mafia zu tun hatte, mit einer türkischen Bank, ob er Geld transportiert hat, ob er Beziehungen mit anderen Frauen hatte. Ich habe alles verneint. Meine Mutter sagte später noch zu den Polizisten: Ich weiß, wer meinen Mann umgebracht hat, das waren die Nazis.
Anwalt Scharmer Gab es irgendeine Reaktion?
Gamze Kubaşık Der Polizeichef meinte, das kann man ausschließen, dafür gibt es keine Beweise.
Anwalt Scharmer Was wurde aus dem Kiosk?
Gamze Kubaşık Wir konnten den Kiosk nicht mehr betreten. Weder enge Verwandte noch Bekannte wollten da rein. Mit den Sachen, die sich noch im Kiosk befanden, wurden unsere Schulden bei der Metro beglichen.
Anwalt Scharmer Welche wirtschaftlichen Auswirkungen hatte der Tod Ihres Vaters?
Gamze Kubaşık Ich hatte zuvor noch nie das Arbeitsamt betreten. Wir waren erstmals auf staatliche Unterstützung angewiesen.
Anwalt Scharmer Wurde Ihnen gesagt, dass Ihre Bank- und Telefondaten überprüft wurden?
Gamze Kubaşık Nein.
Verteidiger Klemke Sie haben doch vorher von Verwünschungen gesprochen. Von wem kamen die?
Götzl Dazu hat die Zeugin doch schon Angaben gemacht.
Verteidiger Klemke Ich meine, welcher Nationalität waren diese Menschen?
Oberstaatsanwalt Weingarten Ich beanstande diese Frage.
Götzl Welche Relevanz hat diese Frage?
Verteidiger Klemke Ich wollte nur die Einzelheiten nachfragen.
Gamze Kubaşık Es waren Deutsche wie Ausländer.
Verteidiger Klemke Waren es Ausländer unterschiedlicher Nationalität?
Oberstaatsanwalt Weingarten (lauter) Ich beanstande diese Frage!
Verteidiger Klemke Warum? Ich frage nur nach.
Götzl Herr Klemke wird uns das jetzt erklären.
Verteidiger Klemke Ich werde mich dazu nicht weiter äußern. Ich beantrage einen Gerichtsbeschluss über die Zulässigkeit der Frage.
Oberstaatsanwalt Weingarten Als Tatfolge sind Tuscheleien relevant. Welche Nationalität diese Tuschler haben, ist irrelevant.
Götzl Dann ergeht jetzt folgender Gerichtsbeschluss: Die Frage ist unzulässig, weil die Nationalität nicht relevant ist. Ein Sachbezug ist nicht erkennbar und wurde auf Nachfrage nicht dargelegt.
Verteidiger Klemke Gut, lassen wir das. Sie wurden gefragt, ob Ihr Vater irgendwas mit Drogen zu tun gehabt haben könnte. Haben Sie mal nachgefragt, wie die Ermittler darauf kommen?
Gamze Kubaşık Ich weiß nicht, ob ich nachgefragt hatte.
Verteidiger Klemke Wie haben Sie reagiert auf die Todesnachricht?
Anwalt Scharmer (genervt) Das hat sie doch schon beantwortet.
Verteidiger Klemke Dann habe ich keine weiteren Fragen mehr.
(Gamze Kubaşık verlässt den Zeugenplatz, die nächste Zeugin ist Elif Kubaşık, ihre Mutter.)
Götzl Können Sie uns Ihren Mann ein wenig beschreiben?
Elif Kubaşık Entschuldigen Sie, wenn ich emotional werde. Er war sehr besorgt um seine Familie, er liebte seine Tochter, war vernarrt in seine Kinder. Er war ein liebevoller Ehemann, wir haben uns geliebt. Mit seiner Ermordung sind alle unsere Träume zerbrochen. Wir hatten wie alle anderen Menschen ein ganz normales, liebevolles Leben.
Götzl Wie war das Leben nach der Tat für Sie?
Elif Kubaşık Es gab nichts mehr, was weiß war für mich, alles ist geschwärzt worden. Ich kann nicht vergessen, wie meine Kinder gelitten haben, wie sie sich in sich verkrochen haben. Der Tag ging nicht zu Ende. Ich erkrankte an Neurodermitis. Entschuldigen Sie bitte, dass ich nicht reden kann. Uns wurde sehr großes Unrecht angetan: Frauengeschichten, Mafia, Drogen – solche Dinge wurden in die Welt gesetzt. Sie zeigten mit Fingern auf uns. Ich konnte kaum atmen. Wenn ein kleines Geräusch zu hören war, hatte ich Angst und schrie. Oder wenn ein Fahrradfahrer an mir vorbeifuhr. Wir haben dann ein zweites Schloss eingebaut. 2008 saß ich zu Hause, da wurde ein großer Stein durchs Fenster geworfen. Die Polizei kam und sagte, es könnten ja Kinder gewesen sein, die draußen spielten. Ich hatte Ängste, dass meinen Kindern was zustößt, aber ich habe mich bemüht, stark zu sein.
Götzl Sie sagten, auf Sie wurde mit Fingern gezeigt. Wurden Sie auch angesprochen?
Elif Kubaşık Die Menschen, die uns kannten, glaubten uns natürlich. Aber andere dachten, wenn es nicht stimmen würde, dann würde die Polizei ja wohl nicht das Haus bis in den Keller untersuchen.
Anwalt Ilius Wie erging es der Schwiegermutter?
Elif Kubaşık Meine Schwiegermutter hat einen Herzinfarkt erlitten. Sie hat den Mord an ihrem Sohn nicht verkraften können. Sie hatte ihren Sohn 15 Jahre lang nicht gesehen. Wir wollten im Sommer 2006 zu ihr in die Türkei fahren.
Anwalt Ilius Trifft es zu, dass auch Ihre Nachbarn in Dortmund nach Drogenverbindungen Ihres Mannes gefragt wurden?
Elif Kubaşık Ja, sie wurden gefragt, ob mein Mann mit Drogen zu tun hatte oder Frauengeschichten hatte. Ein Polizist sagte einem Nachbarn sogar, dass mein Mann sehr wohl mit solchen Dingen zu tun hatte.
Anwalt Ilius Haben Sie bei den Vernehmungen einmal geäußert, dass Sie einen Anwalt haben möchten?
Elif Kubaşık Ja, habe ich gesagt. Aber die Polizei antwortete, es gebe noch keine Tatverdächtigen. Wofür willst du dann einen Anwalt? Dabei habe ich schon früh den Verdacht geäußert, dass Rechtsradikale hinter dem Mord stehen könnten.
Klemke winkt ab.)
Götzl Sie schütteln den Kopf, Herr Rechtsanwalt Klemke, was gibt es denn?
Verteidiger Klemke Nichts.
(Als nächste Zeugin wird Janica D. aufgerufen.)
Janica D. Damals habe ich im Hotel gearbeitet, 100 Meter entfernt von dem Kiosk. Ich wollte Zigaretten kaufen dort. Da kamen mir zwei Männer entgegen, einer fuhr mit dem Fahrrad, der andere ging nebenher. Der hat mich ganz böse angeguckt, das war ganz unangenehm. Darauf habe ich meinen Kopf zur Seite gedreht. Etwas später standen die beiden Männer vor dem Kiosk. Das war so um 12.50 Uhr. Abends habe ich von meiner Mutter erfahren, dass der Kioskbesitzer umgebracht wurde. Das Erste, was ich zu ihr gesagt habe, war: Ich weiß, wer das war.
Götzl Haben Sie eine Erinnerung an das Aussehen der Männer?
Janica D. Der eine trug ein Käppi und eine schwarze Jacke. Mehr weiß ich nicht.
Götzl Erinnern Sie sich an die Haarfarbe?
Janica D. Das Käppi war ganz über den Augen, die Stirn konnte ich nicht sehen. Ich kann mich an gar keine Haare erinnern.