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«Antitotalitärer Kompromiss» und «helvetischer Totalitarismus»

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Das kulturelle Programm der Geistigen Landesverteidigung war darauf ausgerichtet, Althergebrachtes und Traditionelles zu schätzen und zu würdigen, ohne dass aber ausländische Tendenzen, die oft unter dem Begriff «Kulturbolschewismus» angeschwärzt wurden, verurteilt worden wären. Die Botschaft einer schollenverbundenen, rückwärtsgewandten, alpinen und wehrhaften Bauernnation, die in gefährliche Nähe zur Blut-und-Boden-Ideologie der Nazis geriet, wurde gewissermassen in den Rang einer Staatsdoktrin erhoben, die ihre gewünschte Wirkung in der Kultur- und Bildungspolitik entfaltete. Hier bildete sich ein von rechtskonservativem Nationalismus durchdrungenes Gedankengut aus, das sich vorwiegend in der deutschen Schweiz breitmachte. Positiv lässt sich vermerken, dass sie die drei Landessprachen – später vier – fördern wollte.

Angesichts der Bedrohung am Vorabend des Zweiten Weltkriegs begrüssten Kulturschaffende von rechts bis links emphatisch die Grundlagen der Geistigen Landesverteidigung, die rasch grosse Verbreitung fanden. Weil das Konzept der Geistigen Landesverteidigung unverbindlich und nach allen Seiten offen war, die «Eigenarten der Schweiz» nicht konkretisiert wurden, bildeten sich je nach politischem Standpunkt unterschiedliche Spielarten heraus.

Die konservative bis rechte Definition der Geistigen Landesverteidigung strebte eine Umgestaltung der Schweiz in einem autoritären, antidemokratischen und ständestaatlichen Sinn an und sympathisierte teilweise mit der nazifreundlichen Frontenbewegung. Sie setzte sich für Föderalismus, die Rechte der Familie und die Freiheit der Kirchen ein. Sympathisanten dieser Richtung fanden sich auf höchster politischer Ebene, etwa die Bundesräte Giuseppe Motta, Philipp Etter, Marcel Pilet-Golaz und ihr ehemaliger Kollege Jean-Marie Musy. Diese Richtung beherrschte den Diskurs.24 Die bürgerlich-liberale Definition verteidigte den freiheitlich-demokratischen Bundesstaat von 1848, die Rechtsstaatlichkeit und die Menschenrechte sowie die Schweiz als Willensnation.25

Die linksliberal-sozialdemokratisch-gewerkschaftliche Spielart, die sich um die «Richtlinienbewegung» gruppierte, zeichnete sich durch Antifaschismus, Bekenntnis zur demokratischen Verfassung und Einstehen für sozialpolitische Reformen und soziale Gerechtigkeit aus. Die Bejahung von demokratischen Aushandlungsprozessen statt einer revolutionären Umgestaltung wurde auch gefördert durch die Erfahrung der Niederlage im Landesstreik 1918, den reaktionären Rückschlag in den 1920er-Jahren, aber auch durch parlamentarische Erfolge der Arbeiterschaft auf Kantons- und Gemeindeebene. Gemeinsam war allen Strömungen die Betonung der geistig-kulturellen Eigenständigkeit der Schweiz, der Rückgriff aufs Historische, die Wiederbelebung der demokratischen Staatsform sowie eine Abwehrhaltung gegen aussen und die Rückbesinnung auf gemeinsame Werte.26

Die drei Lesarten der Geistigen Landesverteidigung waren weitgehend inkompatibel, wurden aber gleichwohl ins Gefäss einer nationalen Ideologie gegossen. Möglich wurde das, weil sich die politischen Differenzen angesichts der Bedrohung durch Nazi-Deutschland verwischt hatten. Mit der Betonung des Eidgenössisch-Nationalen, der Abgrenzung gegen aussen und der impliziten Verordnung eines kulturellen Mainstreams übernahm die Geistige Landesverteidigung Elemente einer Ideologie, die sie eigentlich bekämpfen wollte. Der «antitotalitäre Basiskompromiss» eines breiten politischen Bündnisses gemäss Kurt Imhof lässt sich deshalb auch nach Georg Kreis als «helvetischer Totalitarismus» lesen. Die heutige Deutung der Geistigen Landesverteidigung geht eher Richtung kultureller Offenheit. Das zeigt sich etwa darin, dass auch linke Künstler und Intellektuelle sich an der «Landi» 39, diesem symbolischen Höhepunkt der Geistigen Landesverteidigung, beteiligten. So gestaltete Hans Erni das monumentale Wandgemälde in realistischem Stil, womit er bekannt und von der Linken geschätzt wurde. Konzeptionell arbeitete an diesem Gemälde sein Freund Konrad Farner mit. Und am Bulletin zur Landesausstellung wirkte Theo Pinkus mit, später das Feindbild des Bürgertums schlechthin. Dass sich auch Linke mit der Geistigen Landesverteidigung identifizieren konnten, zeigt, wie vage, wie deutungsoffen und ambivalent sie war.

Viele Schweizer Schriftsteller stellten sich mit aufbauenden, positiven und lebensbejahenden Geschichten in den Dienst der Geistigen Landesverteidigung und merkten dabei nicht, «wie ähnlich ihre Produkte den in den Nachbarländern noch geduldeten waren».27 Sie stellten ihr Schaffen «in den Dienst einer schweizerischen Integrationsideologie, die Fremdes als unschweizerisch diffamierte».28 Das ging bis hin zu Antisemitismus, als Ferdinand Rieser, dem 1938 in die USA emigrierten jüdischen Direktor des Zürcher Schauspielhauses, vorgeworfen wurde, er vernachlässige die Schweizer Dramatik. Für die einheimischen Kulturschaffenden hatte die Geistige Landesverteidigung den angenehmen Nebeneffekt, dass in dieser wirtschaftlich schwierigen Zeit die ausländische Konkurrenz weitgehend ausgeschaltet wurde, nicht selten mithilfe der Fremdenpolizei.

Was genau die Geistige Landesverteidigung war, konnte wohl kaum jemand definieren; es gab weder Leitplanken noch Handlungsanweisungen, doch alle wussten, was gemeint war. Zensur und die Schere im Kopf, eine durch Sozialisation geprägte Vorstellung von «schweizerischen» Verhaltensnormen verhinderten, dass man sich gegen diese nebulöse Doktrin aufgelehnt hätte. Der Widerstand wäre nicht als ein Auflehnen gegen einen Diktator oder eine autoritäre Staatsmacht verstanden worden, sondern als Rebellion gegen die Gemeinschaft der Wohlmeinenden und Redlichen, gegen das «Schweizerische» an sich. Einer, der schon Jahre zuvor den Konformitätsdruck verspürt hatte, war der Schriftsteller Ludwig Hohl, der in seinen 1934–1936 entstandenen Notizen schrieb: «Schweiz. Die Starrheit ergreift nach und nach, ohne dass sie es merken, auch die Besten, und sie werden wie mit einer Glasur überzogen. Du siehst es mit Entsetzen und fürchtest, dass sie nach und nach ganz und gar zementiert werden.»29 Ein Kritiker war auch der Theologe Karl Barth, der die von etlichen Theologen verwendete Bezeichnung eines «Schweizerchristentums», die Vermischung von Religion und Glaube einerseits, Nationalismus, Rasse, Helden- und Ahnenverehrung andererseits, verurteilte. In einer Rede 1938 sagte er: «Man braucht kein Hellseher zu sein, wenn man in aller Ruhe konstatiert: der Nationalsozialismus hat schon nach uns gegriffen; er ist schon da, auch bei uns in der Schweiz. Ich denke dabei am allerwenigsten an die sogenannten Fronten. Ich denke an die zahlreichen Einbruchstellen in allen Kreisen, auch in den christlichen Kreisen unseres Volkes […] Ich denke an das unter dem Titel der ‹geistigen Landesverteidigung› ersonnene Spottgebilde eines neuen helvetischen Nationalismus mit dazugehörendem ‹bodenständigem Antisemitismus› – o ihr Kindsköpfe!»30

Bundesrat Etter forderte in seiner Botschaft eine Stiftung zur Förderung der geistigen Werte im Inland und zur Kulturwerbung im Ausland, die 1939 als «Pro Helvetia» gegründet wurde. Aus ihr ging aufgrund eines Truppenbefehls von General Henri Guisan die Sektion Heer und Haus hervor, deren Aufgabe vorerst war, die Truppen zu unterhalten und zu belehren. Zwei Jahre später erteilte Guisan den Befehl, diesen Dienst zu reorganisieren zum Zweck der «Aufklärung der Zivilbevölkerung». Mit Vorträgen, Aufführungen, Sportanlässen, Radio- und Filmvorführungen sollte der Widerstandswille der Bevölkerung gestärkt werden. In rund 3000 zweitägigen «Aufklärungskursen» mit 200 Referenten wurde die Funktion der zensurierten Presse ergänzt beziehungsweise die Sichtweise der Geistigen Landesverteidigung unters Volk gebracht. Ein Netz von 7000 «Korrespondenten» rapportierte der Armeeführung die Stimmungslage in der Bevölkerung. Heer und Haus wurde damit während des Kriegs zum wichtigsten – offiziellen – Instrument der Geistigen Landesverteidigung, obwohl Etter sie «primär dem Bürger, dem Menschen, der freien Entfaltung des Geistes» überlassen wollte.31 Ein weiteres Projekt der Geistigen Landesverteidigung war die Gründung des Landessenders Beromünster oder des noch heute existierenden Schweizer Feuilletondienstes, der Schweizer Schriftstellern eine Publikationsmöglichkeit bot. Schliesslich ist auch die 1940 gegründete Schweizer Filmwochenschau ein Kind der Geistigen Landesverteidigung. Unter Androhung von Bussen wurde 1940 jedem Kinobetreiber auferlegt, vor einem Spielfilm die Wochenschau zu zeigen. Zwar sollte sie eine offiziös-schweizerische Sicht auf das Zeitgeschehen vermitteln, doch es irritierte, dass Filmsprache und Diktion der Sprecher der Filmwochenschau fatal ähnlich waren wie das hervorragend und verführerisch gestaltete, stark von Leni Riefenstahl geprägte, deutsche Pendant.

Den emotionalen Höhepunkt fand die Geistige Landesverteidigung in der Landesausstellung 1939 in Zürich – an diesem Hochamt des Patriotismus entzündete sich der Landigeist, der noch während einer ganzen Generation hell lodern sollte. Die von Bundesrat Etter verantwortete Landi, die mit zehn Millionen Besuchen einen nie erwarteten Erfolg – trotz Querelen und Unstimmigkeiten im Vorfeld – feierte, war eine dreidimensionale Demonstration der Geistigen Landesverteidigung. Sie inszenierte etwa mit dem Schifflibach oder dem Dörfli eine Kultur eines friedliebenden, genügsamen, den Traditionen verhafteten Volkes, das sich von einer internationalistischen Zivilisation abgrenzte, einer Zivilisation der Verstädterung, Industrialisierung, Kommerzialisierung, Leere, Sinnlosigkeit und Gleichmacherei.32 Doch es war auch die Demonstration einer modernen Schweiz als freundliches Ferienland und internationale Verkehrsdrehscheibe mit einer leistungsfähigen Industrie. Auch architektonisch beschritt der Landistil, der eine gemässigte Moderne repräsentierte, neue Wege. Daneben zeigte die Ausstellung mit der Monumentalstatue «Wehrbereitschaft» von Hans Brandenberger, die einen Soldaten/Arbeiter darstellte, die im Titel dieser Skulptur ausgedrückte Integration. Die Bildsprache war indes kaum zu unterscheiden von den heroisierenden skulpturalen Darstellungen in Deutschland oder Italien.

Haften blieb im kollektiven Gedächtnis vor allem das folkloristische Gemeinschaftserlebnis. Kaum einer hätte dieses Gefühl der Einigkeit und der Erhabenheit besser ausgedrückt als der Schriftsteller Alfred Graber, der in der Schweizer Illustrierten schrieb: «Der Gang über den Höhenweg beweist es. Hier spricht die Schweiz selbst, entkleidet von jeglichem Privatinteresse. Dein Land! Du lernst es neu und tiefer begreifen, du lernst – wenn du je gezweifelt hast – wieder glauben. An die Schweiz, an ihre hohe Sendung. Du lernst das Land lieben in seiner Vielfalt und sehen als eine Einheit.»33

Wo kippt Stolz in Selbstgerechtigkeit um? Die Schriftstellerin Victoria Wolff, eine deutsche Emigrantin, die aufgrund einer Denunziation des Schweizerischen Schriftstellerverbands aus der Schweiz ausgewiesen wurde, der Gestapo in die Hände fiel, aber dennoch in die USA fliehen konnte, besuchte noch die Landi, als sie bereits ihren Ausweisungsbefehl hatte. Sie schrieb: «Der Schweizer, der bisher genug gehabt hat an biederen Tugenden, hat plötzlich das grosse Gefühl bekommen, und er wagt es endlich, jawohl, endlich wagt er es, das auch zu zeigen: es besteht aus Freude und Bewunderung und Stolz. Es ist da, weil er nicht nur weiss, was er selbst kann, sondern weil er vor sich sieht, was seine Landsleute können. Er kritisiert nicht mehr, er bewundert. Und das tut gut. Der Fremde, der auch bewundert, sieht es an jedem Gesicht.»34

Die Geistige Landesverteidigung war nicht nur der schützende Rock von Mutter Helvetia. «Dass dieser Rückzug ins ausschliesslich Nationale, das ins Nationalistische abzugleiten drohte, nicht nur heroisch, sondern auch tragisch war, haben manche von uns bereits damals empfunden. […] Geistige Landesverteidigung kam in Gefahr, in geistige Selbstgenügsamkeit, ins Glück im Winkel, in Fremdenhass umzuschlagen»,35 schrieb rückblickend der Historiker Jean Rudolf von Salis, der ein feines Gespür für das Subkutane in einer Gesellschaft hatte.

Als Bollwerk gegen faschistische Ideologien wurde die Geistige Landesverteidigung errichtet. Doch gegen Ende des Kriegs wurde sie um 180 Grad gewendet, und nach Kriegsende als Offensivwaffe gegen den Kommunismus eingesetzt. Etter hatte allerdings schon früh das Terrain vorbereitet. In seinen Reden von 1937 und 1939 kamen die Begriffe «Faschismus» und «Nationalsozialismus» nie vor, während er den Kommunismus als grösste mögliche Bedrohung hinstellte. «Wenn wir uns z. B. gegen die geistige und politische Infiltration durch den Kommunismus zur Wehr setzen, so verteidigen wir damit nicht nur die demokratische, wir verteidigen damit zugleich die geistige Schweiz. Der Kampf gegen den Kommunismus bedeutet in meinen Augen nicht nur eine politische Notwendigkeit. Er entspricht vielmehr auch einer wesentlichen Forderung der geistigen Verteidigung des Landes gegen den gefährlichsten Feind menschlicher Freiheit und Persönlichkeit.»36

Erst mit der Uminterpretation nach dem Krieg entfaltete die Geistige Landesverteidigung während eines Vierteljahrhunderts ihre nachhaltige Wirkung, die noch mehr als vorher Konformismus und Duckmäusertum, Anpassung und Denunziation förderte und einen antikommunistischen Furor entfachte, der von kaum einem anderen westlichen Land übertroffen wurde. Diese Ära in der Schweiz lässt sich mit Fug und Recht als Zeitalter des Antikommunismus bezeichnen. Die Geistige Landesverteidigung erwies sich als das wirkungsmächtigste geistig-kulturelle Konstrukt des 20. Jahrhunderts, das die mentale Verfassung grosser Teile der Bevölkerung geprägt, einen retardierenden Einfluss auf die Aussenpolitik und einen beschleunigenden auf die Sicherheitspolitik hatte, das Reduit-Denken beförderte und eine Öffnung der Schweiz behinderte.

Die Schweiz im Kalten Krieg 1945-1990

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