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Der Gotthard: Befestigung, Reduit, Mythos

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Der Gotthard spielte in der Geistigen Landesverteidigung eine zentrale Rolle. Er hatte schon immer viele Bedeutungen: Passübergang, Bollwerk, Herz Europas, Wasserscheide, Sehnsuchtsort, Kraftquelle, mentale und materielle Festung. Der Mythos Gotthard wurde zur Zeit der Bedrohung durch Nazi-Deutschland fest eingebunden in die Geistige Landesverteidigung. Er evozierte die Vorstellung einer unverdorbenen Alpeninsel, wo der Sitz des edlen «homo alpinus helveticus» war, es bot sich das Bild des Wächters der Passstrasse an oder des Granits, aus dem die Willensnation Schweiz gefestigt ist.

Doch wichtiger als der Mythos war die Funktion des Gotthards als Bollwerk. Nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 und der rasanten Entwicklung der Waffentechnik stellte sich für die Schweiz die Frage, wie die Landesverteidigung zu gewährleisten sei. Es stritten sich dabei die Verfechter eines Grenzkordons mit den Befürwortern einer Zentralfestung. Eine 1872 eingesetzte Landesbefestigungskommission sollte die Frage klären. Mit der Eröffnung des Gotthardtunnels 1882 war die Sache entschieden. Der Krieg hatte die strategische Bedeutung der Eisenbahnen deutlich gemacht. Vier Jahre später wurde mit dem Bau einer Festung am Alpenübergang begonnen.37 Das Projekt sah eine Abwehrstellung in der Region Airolo und im Raum Andermatt vor. 1892 wurde mit den Arbeiten an den Festungswerken Daily und Savaton oberhalb von St-Maurice zur Sperrung von Simplon und Grossem St. Bernhard begonnen. Aus den Befestigungen wurde kein Geheimnis gemacht: Bis 1913 waren sie kaum getarnt, man konnte sie sogar besuchen.38 Die Tarnungen, oft in Form von Chalets oder Ställen, fanden allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg ihre grösste Verbreitung. Mit dem Kalten Krieg gewann die Tarnung als Teil des Verteidigungsdispositivs wegen der Spionagetätigkeit zusätzlich an Bedeutung.

Während des Ersten Weltkriegs wurden die Alpenfestungen nur unwesentlich verstärkt. Bei Kriegsende 1918 kam die Armeeführung zum Schluss, die Festungswerke hätten ihren strategischen Wert verloren, der Unterhalt sei reine Geldverschwendung, neue sollten keine mehr gebaut werden.39 Eine pazifistische Grundströmung in Europa nach dem Ersten Weltkrieg liess die Rüstungsausgaben allgemein schrumpfen. Mit einem Memorial forderte Eugen Bircher, bedeutender Kriegschirurg, Divisionär und damals Präsident der Schweizerischen Offiziersgesellschaft (SOG), Gründer der Bürgerwehren 1918 und Mitbegründer der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB, heute SVP), den Bundesrat im August 1934 auf, der Befestigungsfrage mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Mit Mitteln der Wehranleihe und einem Arbeitsbeschaffungsprogramm begannen ab 1937 die Befestigungsarbeiten. Diese waren verzögert worden, weil in der Zwischenzeit viel Knowhow verloren gegangen war.

Es entstand eine Bunkerkette entlang der nördlichen und östlichen Landesgrenze zwischen Basel und St. Margrethen. Im Westen wurde sie von St-Croix nach Vallorbe fortgesetzt. Bis Mai 1940 wurden mehr als 250 Bunker erstellt, die als «Grenzbefestigung» ins kollektive Gedächtnis eingingen. 110 waren noch im Bau oder projektiert. Die letzten Lücken im Neuenburger und Waadtländer Jura wurden 1943/44 geschlossen. Der Bau dieser Befestigungen wurde oft unkoordiniert durchgeführt, es gab keine Typenpläne oder Baunormen. Alleine bei den Geländepanzerhindernissen gab es 40 verschiedene Typen.

Mit der Kapitulation Frankreichs im Frühling 1940 änderte sich die strategische Situation der Schweiz. Die schlecht gerüstete Schweiz war nun von den Achsenmächten umzingelt. Mit dem Rütli-Rapport vom 25. Juli 1940 schwor der Oberbefehlshaber der Schweizer Armee, General Henri Guisan, das Offizierskorps auf eine neue Strategie ein: Rückzug ins Reduit national, verbunden mit der Demobilisierung eines grossen Teils der Armee von 450 000 auf 150 000 Mann. Diese demobilisierten Soldaten hielten die Industrie- und Rüstungsproduktion aufrecht, deren Erzeugnisse im Gegenzug für Kohle und Eisen zu einem guten Teil nach Nazi-Deutschland exportiert wurden. Dieser strategisch heikle Schritt erfolgte im Wissen, dass die Befestigungen nur zum geringsten Teil gebaut waren. Der Rückzug ins Reduit wurde denn auch von Militärstrategen wie dem britischen Feldmarschall Bernard Law Montgomery als «undurchführbarer Unsinn» bezeichnet.40 Die Armee solle – so sagte er anlässlich eines Ferienaufenthalts in der Schweiz – der Verteidigung des Mittellands mehr Aufmerksamkeit schenken und sich nicht aufs Reduit verlassen. Doch auch wenn es seine Tauglichkeit nicht beweisen musste, festigte das Reduit doch den Willen zum Durchhalten und verankerte später den Reduit-Mythos in der Erinnerungskultur der Aktivdienstgeneration.

Als Verteidigungsstellung gegen einen Einfall italienischer Truppen und als Sperre der Gotthardachse wurden die Artilleriewerke «Foppa Grande» und «San Carlo» am Gotthard41 kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ausgebaut. Nach Kriegsende, im Herbst 1945, wurde das Werk vervollständigt und in den folgenden Jahrzehnten waffentechnisch erneuert. Ende 1992 wurden die letzten 38 Schüsse abgegeben, 1997 wurde es deklassifiziert und kann seither besichtigt werden. Auch die Festung «San Carlo» wurde mit dem Reduit-Beschluss sukzessive in Betrieb genommen und war 1944 voll ausgebaut.42

Einen Tag vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs bewilligte der Bundesrat 36 Millionen Franken für den Bau der Festung Sargans, die ursprünglich zur Grenzsicherung vorgesehen war. Der Mangel an Arbeitern verzögerte den Bau vorerst, und auch im weiteren Verlauf führten die zu knappen Mittel immer wieder zu Diskussionen.43 Der endgültige Ausbau, der 83 Millionen Franken gekostet hatte, erfolgte Ende 1946, wobei noch 1993 wie bei den anderen Reduit-Werken St-Maurice und Gotthard BISON-Geschützbunker eingebaut wurden, die man sechs Jahre später wieder demontierte. 2003 wurden diese Festungen endgültig aufgehoben und zu den historischen Bunkern geschlagen. Bis Kriegsende übernahm das Festungswachtkorps Bauten im Gesamtwert von über einer Milliarde Franken. Wie schon der Bau der Grenzbefestigung erfolgte auch der Ausbau des Reduits nicht ohne Schwierigkeiten und Kompetenzgerangel, die von Koordinationsproblemen bis hin zu kriminellen Taten reichten.

Auch wenn letztlich Unsummen in den Bau der Grenzbefestigung und ins Reduit gesteckt wurden: Die Schweizer Armee hinkte dem Kriegsverlauf immer hinterher. «Die Landesbefestigung deckte die operativen Bedürfnisse der Aktivdienstzeit immer nur mit einiger Verspätung ab. […] Die schweizerische Verteidigungsstruktur, die tausende von unterirdischen Anlagen umfasst, wurde im Ausland als Emmentalerkäse versinnbildlicht, der ja ebenfalls zahlreiche Löcher aufweist.»44 So waren im Gefahrensommer 1940, als ein Einfall seitens Deutschlands drohte, weder die Grenzbefestigung noch die Limmatstellung fertig erstellt. Und im März 1943, als wieder Alarm ausgelöst wurde, war auch die Zentralraumstellung nicht voll in Betrieb. Selbst im Herbst 1944, als sich ein Ende des Kriegs abzeichnete, klafften noch «bedeutende Lücken in der Befestigung des westlichen Grenzgebiets».45 Taktisch sinnvoller wäre es gewesen, so der Historiker und Generalstabschef Hans Senn, wenn ein Teil der enormen Mittel statt in Beton und Eisen in Panzer und Panzerabwehrwaffen investiert worden wäre. Denn eine für diese Kampfführung geschulte Truppe hätte mehr erreicht «als wohlgeschützte, aber bis zu einem gewissen Grad dem ‹Maginotgeist› verfallene Werk- und Stellungsbesatzungen».46 Nichtsdestotrotz wurden nach dem Krieg nochmals 40 Millionen Franken aufgewendet, um die angefangenen Bauten zu komplettieren. Fertiggestellt und mit den fehlenden Waffen bestückt wurde das Reduit erst Anfang der 1950er-Jahre, obwohl es mit der Truppenordnung 51 (TO 51) offiziell aufgegeben wurde.47

Das Reduit festigte als Vermächtnis General Guisans den Mythos der Alpenfestung Schweiz. Dieser war so stark, dass man selbst dann noch in Ausbau und Unterhalt investierte, als das Reduit nach Meinung von Militärstrategen längst obsolet geworden war. «Mit dem Aufkommen der Atomwaffen war klar, dass die Tage der grossen Festungen gezählt sein würden.» Sie seien – so Hans Senn – zu aufwendig und zu verwundbar geworden.48 Dennoch vertraute man weiterhin auf die Feuerkraft der Artilleriegeschütze und ersetzte 1983 die alten Haubitzen durch neu entwickelte 15,5-cm-Geschütze. «Die Ideen General Guisans erlebten eine Renaissance.»49 Selbst der Fall der Mauer 1989 und der Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks konnten an der Alpenfestung nicht rütteln. Immerhin passte die Armeespitze mit der «Armee 95» das operative Dispositiv der Realität an und deklassierte 13 000 Artillerie- und Infanteriewerke, Waffenstellungen, Unterstände, Sperrstellungen, Panzersperren und Sprengobjekte.

Seine Tauglichkeit als Festung musste das Reduit nie unter Beweis stellen, was wohl auch nicht gelungen wäre, weil dessen Vollendung asynchron zum Kriegsgeschehen verlief, es also nie auf dem vorgesehenen Stand war. Aber die geheimnisumwitterten unterirdischen Anlagen der Alpenfestung trugen stark zur Produktion von Imagination bei. Das Reduit mit seinen gegen aussen gerichteten Stacheln der Kanonenrohre war uneinnehmbar, weil man daran glaubte. Diese imaginierte Unbesiegbarkeit festigte im Kalten Krieg den Reduit-Mythos.

Friedrich Dürrenmatt sagte 1986 in einem Interview über das Reduit: «Ich greife die Schweizer im Zweiten Weltkrieg überhaupt nicht an. Das war die einzig mögliche Politik, und der Gedanke des Reduits war ein genialer Gedanke, der darin besteht, dass die Armee sich selber schützt und das Volk im Stich lässt. Absolut absurd! Aber es war die einzige Möglichkeit vom militärischen Denken her – so eine Art Nibelungenstrategie. Aber die Schweiz bezieht sich auf einen Heldenkampf, der nie stattgefunden hat.»50

Die Schweiz im Kalten Krieg 1945-1990

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