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Streit um die Landesverteidigung

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Anders als nach dem Ersten Weltkrieg hörte man nach dem Zweiten die Parole «Nie wieder Krieg!» nicht, und man rüstete auch nicht ab. Im Gegenteil: Der Kalte Krieg mobilisierte massive Investitionen in die Rüstung. Doch wie sollte sich ein neutraler Staat verhalten, dessen Armee sich nicht bewähren musste? Die Schweizer Armee war in einer Orientierungskrise, die sich schon während des Kriegs abgezeichnet hatte und die in einen Konzeptionsstreit mündete, der erst 1966 beendet wurde. Zwar konnten sich die Militärs nicht über zu wenige Mittel beklagen, fuhr doch die Schweiz ihre Rüstungsausgaben stark hoch. Von 1949 bis 1952 erhöhten sich die Militärausgaben von 478 auf 880 Millionen Franken, was 40 Prozent der Staatsausgaben ausmachte.44 Doch wie auf das neue Feindbild, die Sowjetunion, reagieren? Eine Operationsstudie aus dem Jahr 1946 schildert die ungemütliche Lage in Europa so: «Eröffnen die Russen Operationen auf dem europäischen Kriegsschauplatz, so ist zunächst festzuhalten, dass die Mächte des Westblocks in der nächsten Zukunft nicht imstande wären, einem russischen Vormarsch irgendwie nennenswerte Erdstreitkräfte entgegenzustellen. Die Russen dürften von vornherein in der Lage sein, allein durch Deutschland mit über 100 Divisionen und wohl etwa 40 Panzerbrigaden zu operieren, ohne hiefür wesentlich frisch mobilisierte Kräfte einzusetzen.» Die Schweiz hätte laut dieser Studie Zeit, «rechtzeitig zu mobilisieren und unsere ersten Massnahmen zu treffen, da die Russen immerhin mehrere hundert Kilometer von unserer Grenze entfernt stehen». Und falls alle Stricke reissen würden: «Im letzten und schlimmsten Falle, nämlich wenn es den Russen gelingen sollte, nicht nur ganz Frankreich, sondern auch noch ganz Oberitalien zu besetzen, würde immer noch der Rückzug ins Reduit als letzte Möglichkeit bleiben.»45 Gerade hoffnungsvoll war diese Strategie nicht.

Schon während des Kriegs stritten sich die Schweizer Militärstrategen heftig, wie die Armee einzusetzen sei. Während die einen die Doktrin des Bewegungskriegs nach deutschem Vorbild vertraten, suchte die andere Seite die spezifischen Vorteile der Topografie mit einer defensiv ausgerichteten Infanteriearmee auszunützen. In diesem «Konzeptionsstreit», der insbesondere in den 1950er-Jahren heftig tobte, standen sich die «Statiker» um Alfred Ernst und die Zürcher Offiziersgruppe um Georg Züblin gegenüber. Diese vertrat das Nato-Konzept der «Mobile Defense», einer mobilen Verteidigung mit starken Panzerkräften, mechanisierten Divisionen mit hoher Feuerkraft und einer Luftwaffe mit 800 Flugzeugen, was der 1955 als Bundesrat gewählte EMD-Chef Paul Chaudet unterstützte. Auch die 1958 gegründete Landesverteidigungskommission schwenkte auf diesen Kurs ein; im EMD blieb das Konzept aber bis in die 1960er-Jahre hinein umstritten. Dieses Konzept hätte die Finanzkraft der Schweiz bei Weitem überschritten.

Die Zürcher Gruppe, die in der Tradition eines Generals Ulrich Wille stand, war überzeugt, dass ein Gegner nur mit ebenbürtigen Mitteln wirksam bekämpft werden könnte, weshalb die Schweiz gezwungen sei, den internationalen technischen Fortschritt nachzuvollziehen. Mit der Truppenordnung 61 (TO 61) setzte sich diese Gruppe durch. Die TO 61 sah eine hoch mechanisierte und technologisch auf den neuesten Stand gesetzte Armee vor, die mit jedem Gegner des Aggressors ein Bündnis eingehen konnte, also anschlussfähig an die Nato war.46 Zwar wehrte sich der bürgerliche Teil des Parlaments gegen den Vorwurf, man wollte eine «kleine Nato-Armee» schaffen, dennoch wurde im Ostblock die Truppenreform als Annäherung an die Nato und als Missachtung der Neutralität verstanden.47 Für die PdA kam die TO 61 einer «Totalliquidation der Neutralität» gleich.48 Die beschränkten Budgets verhinderten allerdings einen Ausbau nach Nato-Vorbild.49 Die Visionen der Zürcher Gruppe sollten in einem Debakel enden.

Die Statiker waren realistischer, insbesondere bezüglich der finanziellen Möglichkeiten. Ihr Konzept, basierend auf dem Milizsystem, sah einen defensiv, vorwiegend mit Infanterie geführten Abwehrkampf vor, der die Vorteile des Geländes ausnützte. Die Anhänger der «Mobile Defense» sprachen vom Reduit als einer «Mausefalle», während die vermeintlich rettende Funktion dieser Strategie im Volk breite Resonanz fand. Vorläufig setzten sich die Anhänger der «Mobile Defense» durch, was sich in einem Ausbau der Panzerkräfte in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre zeigte. Doch noch bis zum Ende des Jahrzehnts war die Schweizer Armee eine ausgesprochene Infanteriearmee. Zur Aufmunterung der Fusstruppen stellte Das Soldatenbuch von 1958 fest: «Alle Ärzte und Erzieher sagen, dass der Marsch die natürlichste und gesündeste Sportart sei.»50

Der Beitrag der Armee zur Verteidigung des Landes während des Kriegs war in der öffentlichen Wahrnehmung unbestritten, derjenige der Rüstungsgeschäfte, der Finanztransaktionen und Raubgoldgeschäfte zugunsten von Nazi-Deutschland unbekannt, weshalb das Prestige der Armee in den Jahren nach dem Krieg so gross war wie wohl nie mehr. Das Gemeinschaftserlebnis des Aktivdienstes zur Verteidigung von Neutralität und Unabhängigkeit war zudem für die beteiligten Wehrmänner in höchstem Mass identitätsstiftend. Es kam dazu, dass die – auch staatlich geförderte – Erinnerungskultur den vermeintlich alleinigen Beitrag der Armee zur Bewahrung der Unabhängigkeit während Jahrzehnten überhöhte. Der breiten Bevölkerung blieben die Mängel in der Armee weitgehend verborgen.

Die Schweiz im Kalten Krieg 1945-1990

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