Читать книгу Die Schweiz im Kalten Krieg 1945-1990 - Thomas Buomberger - Страница 8
Der Kalte Krieg als «imaginärer» Krieg
ОглавлениеDie Zündung einer sowjetischen Atombombe 1949 machte die Erpressung gegenseitig. Diese Drohung mit der Atombombe bildete das entscheidende Strukturmerkmal des Kalten Kriegs beziehungsweise des lauwarmen Friedens. Fast prophetisch hatte diese politische Grosswetterlage wenige Monate nach Kriegsende der englische Schriftsteller George Orwell, der einst mit dem Kommunismus sympathisiert hatte, vorausgesehen. In einem Aufsatz vom Oktober 1945 in The Tribune schrieb er, dass der Besitz der Atombombe nicht zu einem Krieg führen würde, weil die besitzenden Mächte dabei selbst untergehen würden. Sie lebten deshalb in einem «permanent state of ‹cold war›». Die grossen Kriege würden aufhören auf Kosten des verlängerten Friedens, der kein Friede sei.2 Schon wenige Tage nach dem Ende des Kriegs in Europa hatte Winston Churchill den Begriff des «Eisernen Vorhangs» gegenüber dem amerikanischen Präsidenten Truman verwendet; dokumentiert ist der Begriff aus seiner Rede am 5. März 1946 in Fulton. Nazi-Propagandaminister Joseph Goebbels benutzte ihn bereits ein Jahr zuvor und meinte damit die sowjetische Besetzung Rumäniens.3 Churchill verstand diesen Vorhang als einseitig durchlässig für die ideologische Expansion der Sowjetunion, die über die Komintern, die Propagandaorganisation der Sowjetunion, und die Fünften Kolonnen die westlichen Länder ideologisch infiltriere.4 Dieses Bedrohungsmuster bestimmte in den folgenden Jahrzehnten den westlichen Diskurs.
1947 brach die schon instabile alliierte Siegerkoalition endgültig auseinander. Nachdem die Sowjetunion ihren Einfluss in Europa verstärkt hatte, bot US-Präsident Harry S. Truman am 12. März 1947 in einer Rede vor dem Kongress an, «die freien Völker zu unterstützen, die sich der Unterwerfung durch bewaffnete Minderheiten oder dem Druck von aussen widersetzen». Dieser Plan, die Truman-Doktrin, war eine Strategie zur Eindämmung der sowjetischen Expansion mit dem Resultat, dass Stalin die osteuropäischen Staaten noch stärker an die Kandare nahm. Ein Jahr später verabschiedete der amerikanische Kongress das 12,4 Milliarden Dollar schwere European Recovery Program (ERP), das als Marshallplan, benannt nach Aussenminister und Friedensnobelpreisträger Georg C. Marshall, den Wiederaufbau Westeuropas mitfinanzierte. Der Marschallplan unterschied vorerst bei der angebotenen materiellen Hilfe nicht zwischen Ost und West, doch war die von Truman verkündete Containment-Strategie dahinter klar. Das ERP war kein selbstloses Projekt, sondern vereinte gemeinsame Interessen: Die USA hatten untergenutzte Produktionskapazitäten und überschüssige Dollars, Europa lechzte nach Waren und Investitionen.5 Der Marshallplan, der Grossbritannien doppelt so viel zusprach wie Deutschland, war für die wirtschaftliche Erholung Europas nicht entscheidend, aber umso wichtiger war seine symbolische Bedeutung: Das Programm war von Anfang an gedacht als politische Waffe im aufkommenden Kalten Krieg.6 Die Schweiz beteiligte sich ebenfalls am Marshallplan, stellte für Kredite und Zahlungen an Hilfswerke insgesamt 2,5 Milliarden Franken zur Verfügung, pro Kopf der Bevölkerung 532 Franken, womit sie im Verhältnis zum Sozialprodukt mehr leistete als die USA.7
Einen vorläufigen Höhepunkt fand die westöstliche Konfrontation mit dem Putsch in der Tschechoslowakei und der Installierung eines kommunistischen Regimes im Jahr 1948. Weitere Schritte zur Teilung Europas folgten: Bis 1949 entstanden die Nato, der Europarat und die Organization for European Economic Cooperation (OEEC), zu deren Gründungsmitgliedern auch die Schweiz gehörte. Zweck der OEEC war anfänglich die Implementierung des Marshallplans. Damit waren die zentralen politischen und wirtschaftlichen Institutionen zur Eindämmung des Kommunismus etabliert worden.
Der Kalte Krieg war eine schleichende Entwicklung, getrieben von Angst, Unsicherheit und Misstrauen.8 Popularisiert wurde der Begriff Cold War durch den amerikanischen Delegierten Bernard Baruch, der ihn im April 1947 an der UN-Atomenergiekommission verwendete, woraufhin er zum Kampfbegriff westlicher Intellektueller und Regierungsbeamter wurde.9 Aus innenpolitischen Gründen wurde die Bedrohung durch die Sowjetunion lange Zeit übertrieben. Viele amerikanische Politiker hatten eine völlig undifferenzierte Ansicht des Kommunismus. Sie benutzten den Antikommunismus, um ihre globalen politischen Massnahmen zu rechtfertigen und begründeten damit die ideologische Basis des Kalten Kriegs.10
Der Kalte Krieg, der – wenigstens in Europa – nie heiss wurde, wurde in Asien und Afrika als Stellvertreterkrieg ausgetragen. Nach 1945 wurden in der Dritten Welt in rund 150 Kriegen vermutlich 22 Millionen Menschen getötet, wobei nicht alle diese Konflikte Stellvertreterkriege waren, sondern auch koloniale Befreiungskriege. Der «heisseste» und blutigste dieser Kriege war der Koreakrieg, bei dem auf beiden Seiten durch Massaker und Flächenbombardements durch die US-Luftwaffe in Nord- und Südkorea je rund eine Million Koreaner starben. Hinzu kommen 900 000 tote Chinesen und 54 000 gefallene Amerikaner. Der 30 Jahre dauernde Vietnamkrieg war der längste und brutalste Stellvertreter- und Befreiungskrieg, in dem die Amerikaner glaubten, das Land nach der verheerenden Niederlage der früheren Kolonialmacht Frankreich 1954 vor dem Kommunismus bewahren zu müssen. Auf dem Höhepunkt des Kriegs 1968 stand eine amerikanische Truppenstärke von 550 000 Mann in Vietnam. 56 000 amerikanische Soldaten starben; auf der anderen Seite liessen zehnmal so viele Vietcong und nordvietnamesische Soldaten ihr Leben.11 Auf Vietnam fielen mehr Bomben als auf allen Schauplätzen des Zweiten Weltkriegs zusammen. Doch die geballte Macht und die technologische Überlegenheit der USA konnten eine Niederlage nicht verhindern. 1975 zogen die Amerikaner ab; Vietnam wurde wiedervereint und kommunistisch. Die Folgen des Vietnamkriegs sind bis heute sicht- und spürbar, etwa in Form von Giftrückständen und grossflächiger Umweltzerstörung, Schädigung des Erbguts oder Hunderttausenden von unentdeckten Landminen.
Der Kalte Krieg bestimmte die Sicherheitspolitik, die Ideologie und teilweise die Wirtschaft bis 1991. Sein Ende begann mit dem Fall der Mauer, der Wiedervereinigung Deutschlands und dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Er war primär ein zwischenstaatlicher Konflikt, zwischen den USA und der Sowjetunion, eine Art Joint Venture, der aber bis in alle Tiefen der Gesellschaften in Ost und West hineindrang. Der Ost-West-Konflikt war das beherrschende Moment der Nachkriegsordnung. Er war ein «imaginärer Krieg», ein Begriff, den Mary Kaldor eingeführt hat und den ich im Folgenden als theoretisches Konzept verwenden werde.12 Der «imaginäre Krieg» fand in Szenarien von Militärstrategen, Truppenübungen, rhetorischen Redeschlachten, Propagandafilmen, Spionage oder Zivilschutzübungen statt. Die Vorbereitungen dafür waren real, und er schloss auch die Möglichkeit eines Atombombeneinsatzes nicht aus. Er schuf eine Atmosphäre permanenter Angst. Er legitimierte ständig höhere Rüstungsausgaben auf beiden Seiten. Die durch den «imaginären Krieg» erzeugte Angst vor dem äusseren Feind wurde dazu benutzt, um mit den Konflikten innerhalb des eigenen Blocks fertigzuwerden; er hatte also auch eine Disziplinierungs- und Anpassungsfunktion, wie wir das gerade auch im Fall der Schweiz sehen werden. Die jeweiligen Blöcke definierten sich gemäss ihrem eigenen Wertesystem als sozialistisch oder demokratisch. In der Einbildung bedrohte jedes System die Existenz des anderen. Es war ein Kampf zwischen Gut und Böse, der durch eine reale militärische Konfrontation und durch Stellvertreterkriege in verschiedenen Weltgegenden an Glaubwürdigkeit gewann.
Die Schweiz war bei Kriegsende zwar wirtschaftlich in einer hervorragenden Ausgangslage: Der Produktionsapparat war intakt geblieben, der Finanzplatz hatte selbst während des Kriegs seine Dienste geleistet und würde das auch beim Wiederaufbau Europas tun, die Unabhängigkeit wurde gewahrt, das Staatsgebiet war unversehrt geblieben. Doch politisch war das Land in einer wenig beneidenswerten Lage. Unter der formellen Neutralität hatte Nazi-Deutschland kriegswirtschaftlich und finanziell profitiert und damit der Schweiz ihr Überleben gesichert: Das war die Meinung sowohl in der Sowjetunion und in den USA als auch in fast allen anderen Staaten, die am Krieg teilgenommen hatten. Das Image der Schweiz war in beiden Lagern denkbar schlecht. Gegenüber der Sowjetunion betrieb man Schadensbegrenzung, indem man 1946 die diplomatischen Beziehungen wieder aufnahm. Zuvor hatte sich die Sowjetunion geweigert, diese Beziehungen zu aktivieren und die Schweiz als «profaschistisch» bezeichnet. Als Entgegenkommen konnte sich bereits 1944 die verbotene Kommunistische Partei der Schweiz (KPS) wieder als Partei der Arbeit (PdA) neu formieren. Mit den USA arrangierte man sich 1946 mit dem Abschluss des Washingtoner Abkommens, das eine Zahlung von 250 Millionen Franken für das von Nazi-Deutschland völkerrechtswidrig entgegengenommene Raubgold beinhaltete.