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Ungarn 1956: Empörung, Solidarität und Proteste
ОглавлениеAm 24. Oktober 1956 beginnt in Ungarn ein tagelanger Aufstand gegen die sowjetischen Truppen und die verhasste Politpolizei, nachdem am Tag zuvor 200 000 Menschen gegen die Regierung protestiert hatten. 3000 Aufständische greifen an diesem Tag zu den Waffen; drei werden von russischen Soldaten getötet, Hunderte verwundet. In den folgenden Tagen erfasst der Aufstand das ganze Land. Wut und Brutalität sind enorm. Dutzende Geheimpolizisten werden gelyncht. Die Arbeiterschaft bestreikt das Land. Unfähige Betriebsleiter werden von Arbeiterräten entlassen. Grosse Teile des Landes fallen unter die Kontrolle der Revolutionäre. Der Regierung um den Reformkommunisten Imre Nagy entgleitet dabei immer mehr die Kontrolle. Am 28. Oktober verkündet er, dass die Sowjetunion versprochen habe, die Truppen aus Budapest zurückzuziehen, und dass seine Regierung Verhandlungen über einen völligen Rückzug aus Ungarn anstrebe. Doch diese Konzessionen, unter anderem auch Lohnerhöhungen, genügen den Aufständischen nicht. Sie verlangen den sofortigen vollständigen Rückzug und ein pluralistisches politisches System. Am 30. Oktober verabschiedet sich Nagy vom Einparteienstaat und anerkennt die Revolutionsräte. Tausende von politischen Gefangenen werden befreit. Am 31. Oktober verkündet Nagy den Austritt aus dem Warschauer Pakt und die Wiederzulassung der Parteien von 1945 sowie freie Wahlen. Die Sowjets scheinen die Massnahmen der ungarischen Regierung zu akzeptieren und stellen Verhandlungen über einen Rückzug in Aussicht.69 Doch das ist eine Finte. Die sowjetische Führung, die zwölf Divisionen mit 60 000 Mann in Ungarn stationiert hat, sieht den Sozialismus in Ungarn in Gefahr und macht eine Kehrtwendung, um «die Ordnung wiederherzustellen». Am 4. November rollen Panzertruppen auf Budapest zu, das vorher von den Russen verlassen worden war. Innerhalb von 24 Stunden ist der Widerstand der Aufständischen in Budapest gebrochen. In einigen Teilen des Landes dauert der Widerstand noch einige Tage an. Schätzungsweise 2700 Ungarn werden getötet, 20 000 verletzt. 720 russische Soldaten kommen ums Leben, 1540 werden verwundet. 150 000 Ungarn flüchten aus dem Land. Grosse Teile von Budapest werden schwer beschädigt, teilweise ganz zerstört. Janos Kadar, der die Regierung am 1.November verlassen hatte, wird neuer Regierungschef. Nagy, der zuvor in die jugoslawische Botschaft geflüchtet war, wird durch die ungarische Regierung freies Geleit zugesichert. Als er sein Asyl verlässt, wird er verhaftet; 1958 zusammen mit weiteren Revolutionsführern hingerichtet.70
Der Aufstand löst als erste Reaktion in der Schweiz eine Welle der Solidarität und Sympathie aus, weil er als Freiheitskampf einer unterdrückten Bevölkerung gegen ein verhasstes Regime gesehen wird. Am 29. Oktober drücken 8000 Demonstrierende ihre Unterstützung aus. Am 7. November protestieren in den wichtigsten Städten weitere Tausende. In Genf gibt es an diesem Tag eine gewalttätige Auseinandersetzung vor dem Hotel Beau-Rivage, wo die Russen ihren Nationalfeiertag begehen. Am 20. November steht die Schweiz während dreier Schweigeminuten still. Der LdU von Gottlieb Duttweiler sowie verschiedene kantonale Parlamente verlangen den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion. Der Bundesrat ist dagegen, weil das gegen das Prinzip der Universalität verstossen würde. Bundesrat Petitpierre geisselt aber das Vorgehen der Sowjets vor dem Parlament in starken Worten: «Il n’y a pas un Suisse digne de ce nom qui n’ait ressenti avec émotion que quelque chose était en train de s’accomplir qui était une offense à l’humanité et qui détruirait pour longtemps toute confiance dans un avenir meilleur pour les hommes et les peuples.»71 Das Schweizerische Olympische Komitee entscheidet am 7. November, die Olympischen Spiele in Melbourne zu boykottieren. Verschiedene wissenschaftliche Gesellschaften ziehen Einladungen an sowjetische Kollegen zurück oder verzichten auf die Teilnahme an Kongressen. Die Sowjetunion wird vom Comptoir Suisse ausgeladen.
Am Anfang nahm die Presse in der Sowjetunion kaum Notiz von den Reaktionen in der Schweiz. Doch mit einigen Wochen Verzögerung reagierte sie ungehalten und übte bei verschiedenen Gelegenheiten Kritik. Dem Schweizer Gesandten in Moskau wurde vom Aussenminister bedeutet, dass die Reaktionen «künstlich» seien und dass er nicht verstehen könne, wieso die öffentliche Meinung in der Schweiz heftiger reagiere als in Frankreich, England oder Westdeutschland. Man müsse aufpassen, dass sich die Beziehungen nicht noch mehr verschlechterten, weil das die internationale Position der Schweiz schwächen würde.72 Man hatte also auch in der Sowjetunion registriert, dass die antikommunistischen Reaktionen in der Schweiz heftiger ausgefallen waren als anderswo.
Auf Protest und Empörung folgte die Hilfe. Die Ungarn-Hilfe erfasste die ganze Bevölkerung, Gross und Klein. Die Lehrerzeitungen und die Lehrerschaft riefen zu Hilfsaktionen auf. Die Spendenfreudigkeit ist enorm: Das Rote Kreuz erhält 17 Millionen Franken – mehr als jede andere Hilfsorganisation in Europa.73 Insgesamt wurden zwei Millionen Pakete mit Medikamenten und Nahrungsmitteln nach Ungarn verschickt.74 Eine Weihnachtsaktion, an der sich 10 000 Schulklassen beteiligten, brachte 53 000 Kilogramm Schokolade zusammen, die an 360 000 Kinder in Ungarn verteilt wurden. Ein damaliger Schüler erzählte im Jahr 2010, wie prägend der Ungarn-Aufstand gewesen sei: «Da wurde man natürlich antirussisch geprägt. Das ging durchs ganze Volk. Die Knaben waren noch ganz separat im Werken. Aber dann haben wir auch gestrickt, Decken gestrickt und während den Mathematiklektionen den Mädchen rüber gegeben, wenn sie Fehler korrigieren mussten […].» Ein anderer meinte, die Decken seien gar nie gebraucht worden, die Armee habe genügend Wolldecken liefern können. Die Aktion habe vielmehr dazu gedient, die Kalte-Kriegs-Stimmung zu schüren.75
Studentische Kreise sammelten Lebensmittel und Kleider und organisierten Materialtransporte. Ein Teil der späteren politischen Elite wie Elisabeth Kopp, Walter Renschler oder Peter Arbenz waren in der Ungarn-Hilfe tätig und wurden nachhaltig politisch sozialisiert. In der Ungarn-Hilfe betätigte sich auch der jüdische Medizinstudent Berthold Rothschild, aus einem freisinnigen Milieu stammend und in der rechts stehenden liberalen Studentenschaft engagiert. Er war im Dezember 1956 in Wien, wo ihm Zweifel kamen. Er hörte von antisemitischen Exzessen, faschistischen Parolen und Opportunisten, die in den Westen geflüchtet waren.
In einer Welt- und Schweizergeschichte aus dem Jahr 1959 wird der Ungarn-Aufstand so geschildert: «Seite an Seite mit den ungarischen Truppen kämpfen Studenten, Studentinnen und Kinder von acht und neun Jahren […]. Bald füllen sich Spitäler, Keller und Korridore mit Matratzen und Verwundeten. In den Strassen werfen die Russen die Leichen der Gefallenen wie ‹Brennholz› auf ihre Lastwagen. Die Ungarn suchen ihnen zuvorzukommen und beerdigen ihre Toten in Parkanlagen.» Zwei Jahre später erfuhren Schülerinnen und Schüler im Geschichtsunterricht: «[…] die russischen Kanonen und Tankgeschütze jagten ihre Geschosse durch die Strassen der ungarischen Städte, legten ganze Strassenzüge in Schutt und Asche und zerschmetterten rücksichtslos Freiheitskämpfer, Frauen, Kinder, Greise. Die Ungarn ergaben sich jedoch nicht.» Diese Schilderungen, die auch falsche Opferzahlen nannten, evozierten Emotionen. Sie vermittelten das Bild eines menschenverachtenden, diabolischen Kommunismus, der auch nicht davor zurückschreckte, Greise, Frauen und Kinder zu schlachten.76
Der Einmarsch der Sowjets und die Niederschlagung des Aufstands empörte die Bevölkerung zutiefst. Angeheizt wurde diese Empörung durch Bilder in der Filmwochenschau von sowjetischen Panzern, die gegen unbewaffnete Bürger vorgingen: ein Kampf, David gegen Goliath. Für die katholische Zeitung Vaterland war es ein apokalyptischer Kampf zwischen Gott und dem Teufel. Was in Ungarn geschehe, schrieb sie, könne «nur eine Ausgeburt der Hölle sein».77 Für noch grössere Empörung sorgte aber, dass sich die PdA anfänglich mit den Sowjets solidarisierte. PdA-Mitglieder wurden zur Zielscheibe von Hasstiraden in nie gekanntem Ausmass, die Kommunisten wurden zur Projektionsfläche für das Böse schlechthin. Noch am Tag des Einmarsches gab der Zürcher Regierungsrat den Tarif durch: «Die Partei der Arbeit ist eine kommunistische Partei. Sie verneint den in langer Entwicklung gewachsenen demokratischen Staat in seinen Grundzügen. Von Bedeutung sind auch ihre Beziehungen zum Ausland und ihre geistige Abhängigkeit von ausländischen Organisationen. Der Regierungsrat wird daher dieser Partei und ihren Anhängern im öffentlichen Dienst im Rahmen seiner Zuständigkeit die erforderliche Beachtung schenken.»78
Die Welle der Empörung nahm in den Tagen nach dem Einmarsch zu. Im Lichthof der Universität Zürich fand am 8. November 1956 eine Kundgebung statt, an der Studierende und Dozierende eine Resolution verabschiedeten. Darin hiess es: «Wir fordern alle, die es angeht, auf, alle wirtschaftlichen, sportlichen und ideologischen Beziehungen mit Sowjetrussland vollständig abzubrechen.»79 Parteilokale, Druckereien und Wohnungen von Funktionären der PdA wurden in den Wochen nach dem Einmarsch von Hunderten aufgebrachter Bürger belagert. Es kam – nur in der Deutschschweiz – zu Sachbeschädigungen und Tätlichkeiten.80 PdA-Funktionäre ersuchten um Polizeischutz. Versammlungslokale für die PdA wurden gesperrt, PdA-Nationalräten in Bern die Unterkunft verweigert. Vielen PdA-Mitgliedern wurde die Stelle gekündigt, sie mussten oft von einem Tag auf den anderen gehen. Die Parteitätigkeit der PdA kam während Wochen völlig zum Erliegen; etliche Sektionen lösten sich auf. Es herrschte gegenüber der PdA eine Stimmung der Verfolgung. Eine Standesinitiative des Urner Landrates verlangte ein Verbot der PdA. SP-Grossrat Friedrich Schneider forderte ein Beamtenverbot von PdA-Mitgliedern und affiliierten Organisationen. Auch die Jungfreisinnigen des Kantons Zürich wollten die Kommunisten aus allen öffentlichen Diensten entfernt wissen. Arbeiterorganisationen wie die Naturfreunde oder der Satus, wo etliche Kommunisten in den Vorständen waren, verfassten Resolutionen gegen die PdA.81 Der Basler Arbeiter-Consum Verein (ACV) schloss die kommunistischen Mitglieder aus der Verwaltung aus und strich die Inserate im Vorwärts.82
Da half es wenig, dass gewisse Parteisektionen wie die Zürcher oder Basler auf Distanz gingen. Marino Bodenmann, Gründungsmitglied der PdA und Nationalrat, dessen Wohnung ein Mob zu stürmen versuchte, missbilligte die Intervention.83 Fritz Heeb, der Präsident der PdA des Kantons Zürich, drückte seine «Empörung über die unglückselige Intervention der Sowjetunion in Ungarn aus und die bittere Enttäuschung über eine Politik, die unserer sozialistischen Überzeugung zuwiderläuft».84 Die Basler PdA veröffentlichte eine Erklärung, die geradezu als Verrat an der Sowjetunion interpretiert werden konnte.
Zwar öffnete die SP dem einfachen PdA-Mitglied die Türe, doch blieb sie ansonsten unnachgiebig. Sie billigte nicht nur das gewaltsame Vorgehen von Demonstranten gegen das PdA-Sekretariat in Basel, sondern heizte die Stimmung zusätzlich an. Helmut Hubacher hatte gegen die Haltung der PdA auf dem Marktplatz in Basel eine mit gegen 10 000 Teilnehmenden besuchte Protestkundgebung organisiert. In der Basler AZ schrieb er sich seine Empörung vom Leib: «Das Beste, was mit diesem politischen Lumpenpack geschehen könnte, wäre eine direkte Verfrachtung nach Moskau. Sie sind es nicht würdig, den Schweizer Pass und den Schweizer Heimatschein auf sich zu tragen. […] Dass keiner mehr mit ihnen rede, dass keiner mehr ihnen die Hand drücke, dass jeder sie hasse und ihnen seine Empörung augenfällig zeige, bleibt unser Wunsch. Unsere Abrechnung muss auf diese, zugegebenermassen viel zu humane Weise geschehen.» Er schrieb weiter, man solle die Funktionäre der PdA «öffentlich auf dem Marktplatz hinter Drahtgehegen ausstellen».85 Der spätere Nationalrat und SP-Präsident Hubacher sagt heute: «Das Zitat wird mir bis heute vorgehalten. Dem Alter entsprechend würde ich es jetzt ‹zivilisierter› formulieren.»86 «Ungarn» war für die Sozialdemokraten die Gelegenheit, sich die politische Konkurrenz vom Hals zu halten. Auf der persönlichen Ebene herrschte hingegen Toleranz. So fühlte sich Hansjörg Hofer, Kommunist und Inhaber des Reisebüros Cosmos, das während Jahren praktisch das Monopol für Reisen in den Ostblock hatte, offenbar sehr wohl in Basel. Dazu Helmut Hubacher: «Hofer sagte mir mal Jahre später: ‹Als Kommunist kann ich in der Deutschschweiz nur in der liberalen Stadt Basel voll integriert leben›.»87
An der Universität Bern bildete sich die Aktion niemals vergessen (ANV). Im November/Dezember 1956 gaben Studenten 15 000 Zünder für Molotowcocktails an die Bevölkerung ab und veranstalteten Übungen zu deren Gebrauch. In einem Flugblatt schrieb die ANV: «Es soll nur jedermann die Möglichkeit gegeben werden, in äusserster Notlage der Vernichtung von Familie und Heim nicht machtlos gegenüber zu stehen.» Während die Aktion in der Deutschschweiz auf grosse Sympathie stiess, verurteilte die welsche Presse diesen Bubenstreich.88
Mit der Aktion «Use mit de Russe» versuchten die Studenten auch den nicht studentischen Teil der Bevölkerung zu aktivieren. Ein «Höhepunkt» dieser Aktion war die Rückkehr der 350 Mann starken Schweizer Delegation von den Weltjugendfestspielen in Moskau. Nachdem die Presse schon 14 Tage lang gehetzt und die Teilnehmer als Landesverräter dargestellt hatte, informierte die AFS an der Leuchtwandschrift beim Bahnhofplatz Zürich, dass die Teilnehmer am 13. August 1957 um 22.25 Uhr im Bahnhof Zürich-Enge einträfen. Die «Moskauwallfahrer», die auch als «Söldlinge der roten Pest», «Marionetten der kommunistischen Propaganda», «Dummköpfe» und «Verräter» bezeichnet wurden, wurden von einer wütenden Menge vorwiegend Jugendlicher empfangen und mit Fäusten traktiert. Der Delegation gehörten auch einige Lehrer an, die als «Schandfleck» für ihren Berufsstand bezeichnet und deren Ausschluss aus dem Lehrerverein gefordert wurden.89 Diese wütende Meute erinnerte Berthold Rothschild an den faschistischen Mob der Nazi-Zeit und führte ihn in einer politischen Wende hin zum Marxismus. Nach langen inneren Kämpfen wurde er Mitglied der PdA.90 In Zürich erlebte er die antikommunistische Hysterie als besonders gross. Gefördert durch die NZZ, sei ein Repressionsniveau entstanden, wie es das in anderen Landesgegenden, insbesondere in der Westschweiz, nicht gegeben habe. «Langsam nistete sich in uns die ‹Rot-gleich-Braun-Ideologie› ein – man baute in seinen Alpträumen langsam Russen ein, wo vorher Nazis waren.»91
Die PdA war in offener Auflösung. Aus der 16-köpfigen PdA-Fraktion im Basler Grossrat traten zehn Mitglieder aus. Die Sektion Basel büsste etwa die Hälfte ihrer Kader ein, in Zürich verliessen drei Viertel die PdA. Viele machten nach 1956 einen radikalen Schwenker. Ulrich Kägi, langjähriger Präsident der Freien Jugend und bis September 1956 Zürcher PdA-Kantonsrat, später Redaktor der Weltwoche mit rechtsbürgerlicher Tendenz, schrieb: «Die PdA wurde immer mehr zu einem blossen Propagandainstrument der sowjetischen Innen- und Aussenpolitik.» Sie sei «eine Kompagnie einer von Moskau geleiteten Armee».92 Zwischen den Deutschschweizer Sektionen und derjenigen in Genf gab es allerdings eine grosse Kluft. Die Genfer Genossen standen unverbrüchlich zur Sowjetunion, wie die NZZ höhnte. «Ungerührt und unberührt vom brutalen Eingreifen der Sowjettruppen in Ungarn steht einzig die Stalinistenclique in Genf da. Sie hat sich bis heute ängstlich gehütet, an der Sowjetunion öffentliche Kritik zu üben.» Sie hätten lediglich ihren «Schmerz» über die Ereignisse bekundet, im Übrigen die These vom Eingreifen zum Schutz vor «reaktionären» Elementen unterstützt. Um von den Ereignissen abzulenken, werde die «Jeremiade über die antikommunistische Welle» angestimmt.93
In der Westschweiz war der Druck auf die PdA-Mitglieder weniger stark, trotz Solidarität gegenüber Moskau. Nur gerade drei prominente Mitglieder traten aus. Es gab auch keinen Inserateboykott von öffentlichen oder privaten Institutionen gegenüber der Voix ouvrière. Im Dezember 1956 unterzeichneten bürgerliche Intellektuelle einen Appell, «in welchem die kommunistischen Mitbürger von jeglicher Diskriminierung in Schutz genommen werden» und die «Intoleranz» gegenüber prosowjetischer Gesinnung als «Verrat an der Sache selbst, für die das ungarische Volk kämpft», bezeichnet wird.94 In der Deutschschweiz wäre ein solcher Appell undenkbar gewesen.
Kein Ereignis im Kalten Krieg war dermassen emotional wie die Unterdrückung des Ungarn-Aufstands. Es befeuerte das Klima des Antikommunismus in einer kaum vorstellbaren Weise und löste eine enorme, oft allerdings nur symbolische Welle der Hilfsbereitschaft und Solidarität aus. In die Hilfsaktionen für Ungarn wurden Zehntausende von Schülerinnen und Schülern eingespannt, die oft den Sinn nicht einsahen, weshalb sie für Ungarn stricken mussten. Dafür erhielten sie eine gehörige Dosis Antikommunismus mit auf ihren Lebensweg. Auf Differenzierung legten die Antikommunisten keinen Wert, wer auch nur den Anschein von Kommunistenfreundlichkeit machte, wurde verfolgt, diffamiert, geächtet. «Ungarn» war für die Schweizer Sozialdemokraten und Gewerkschaften die Gelegenheit, ihre Loyalität zur Schweizer Demokratie und ihre Kommunistenfeindlichkeit zu bezeugen. Ihr Antikommunismus war oft rabiater als der bürgerliche. Die Niederschlagung des Ungarn-Aufstands spaltete die Schweizer Kommunisten. Davon und von ihrer Verfolgung erholten sie sich nie mehr, sie wurden aber noch jahrzehntelang als Gefahr betrachtet und vom Staatsschutz beobachtet.