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Abrüstungsinitiativen: Ein Bürgerlicher irritiert

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Weil der Bundesrat nach dem Krieg Defizite in der Ausrüstung erkannt hatte, legte er ein massives Rüstungsprogramm für die Jahre 1951–1956 auf, das auch die Sozialdemokraten mittrugen. Umso irritierender, für viele landesverräterisch, musste es scheinen, dass nun ein bürgerlicher Journalist und Satiriker, ein ehemaliger Stadtschreiber von Lausanne, Mitglied der Freisinnigen Partei, auftrat und 1954 eine Initiative zur Beschränkung der Rüstung lancierte. Der Jurist Samuel Chevallier und sein Kollege L. Plomb verlangten im später als «Chevallier-Initiative» bezeichneten Volksbegehren (Volksinitiative für eine Rüstungspause) eine Reduktion der Armeeausgaben um 50 Prozent auf 500 Millionen Franken. Die eingesparten Mittel sollten zur Hälfte für soziale Aufgaben im Inland und für den Wiederaufbau der kriegszerstörten Nachbarländer eingesetzt werden. 84 500 Stimmberechtigte unterschrieben die als «oeuf de colombe» bezeichnete Initiative, wobei gut 70 Prozent der Unterschriften aus der Westschweiz stammten. Unterstützt wurde die Initiative von der PdA, Teilen der Gewerkschaften, einzelnen SP-Sektionen, nicht aber vom Parteivorstand der SPS.

Die Initiative erschreckte die bürgerlichen Politiker, machte sie doch deutlich, dass es selbst in ihrem Lager Armeekritiker gab. Sie wurde als Angriff auf die Armee und als Ausgeburt von Defätisten interpretiert. So zitierte die NZZ unter dem Titel «Anschläge auf die Wehrkraft» den Schweizerischen Unteroffiziersverband (SUOV). Dieser «erwartete von den verantwortlichen Behörden und den ihrer Verantwortung bewussten Volksvertretern in den eidgenössischen Räten, dass sie allen defaitistischen Versuchen zur Schwächung unserer Wehrkraft entgegentreten und der Ansicht zum Durchbruch verhelfen, dass die Verteidigung unserer schönen und freien Heimat auch entschieden selbst die grössten Opfer wert ist».51 Für das bürgerliche St. Galler Tagblatt ist «kaum je eine Initiative lanciert worden, die in einem solchen Ausmasse utopisch ist und ihr Ziel verfehlen würde, wenn sie eine Mehrheit finden sollte».52 Die NZZ holte, wie später noch oft, die Antikommunismus-Keule hervor. «Sie grenzt in der Tat vielmehr verdächtig nahe an Defaitismus gefährlichster Art, und es ist deshalb kein Zufall, dass sie von den Kommunisten, diesen erklärten Feinden unserer Demokratie und Freiheit, freudig begrüsst wird.»53 In mehreren Artikeln schoss die NZZ ein Sperrfeuer gegen die Initiative ab. Doch auch die Linke unterschied sich rhetorisch kaum von den bürgerlichen Gegnern. Das sozialdemokratische Volksrecht bezeichnete sie als «unsinnige Initiative», die für die Reputation der Schweiz ein Unglück wäre. Diese Zeitung ging sogar weiter als bürgerliche und spielte auch auf den Mann. Die Initiative sei «eine Aktion der äussersten Rechten; Chevallier war ein Bewunderer Mussolinis und bekennt sich heute noch in seinem Witzblatt Le Bon Jour als Verächter der Demokratie».54

Der Bundesrat beschäftigte sich an mehreren Sitzungen mit der Initiative, beschloss, dass sie trotz Formfehlern gültig sei, erklärte sie aber dennoch für ungültig, weil sie praktisch undurchführbar sei.

Das Parlament erklärte die Initiative im Dezember 1955 für ungültig: der Ständerat mit 29 zu 5 Stimmen, der Nationalrat äusserst knapp mit 83 zu 82 Stimmen. Migros-Gründer und LdU-Nationalrat Gottlieb Duttweiler war es nicht wohl bei diesem Entscheid. Er hatte «das Gefühl, dass mit dem Feuer gespielt werde. Wir dürfen im Volke nicht ein gefährliches Klima schaffen, indem wir die Initiative nicht unterbreiten. Lassen wir das Volk entscheiden; es ist nicht so unvernünftig».55

Weil sich abzeichnete, dass die Initiative nicht vors Volk käme, wurde schon vor der Parlamentsdebatte mit der Sammlung von Unterschriften für eine zweite Initiative («zur Begrenzung der Militärausgaben») begonnen, die ebenfalls die Militärausgaben auf 500 Millionen Franken beschränken wollte. Was darüber hinausging, war per Abstimmung dem Volk zu unterbreiten. Zudem solle der Bund ein Zehntel der Militärausgaben hälftig für soziale und kulturelle Zwecke im In- und Ausland verwenden. Dieses Volksbegehren kam in kurzer Zeit mit 68 400 Unterschriften zustande. Diesmal stellten die Gegner nicht nur ein prominent besetztes Gegenkomitee mit General Henri Guisan an der Spitze zusammen, sie fuhren grobes rhetorisches Geschütz auf: Sie stellten die Initiative verstärkt in den Kontext einer kommunistischen Unterwanderung. Guisan betonte, «es sei das erstemal, dass er in seinem Leben eine solche Aufgabe übernehme. Er habe sich darum dazu verpflichtet gefühlt, weil die Verteidigung der Heimat auf dem Spiele stünde». Er wolle dem Schweizervolk auch beweisen, «dass lange nicht alle Waadtländer Bürger mit den nach fremden Ideologien ausgerichteten Prinzipien dieser unüberlegten Initiative einverstanden seien».56 Denn erneut tat sich ein Graben auf, was sich am Beispiel der Sozialdemokraten zeigte. Während die SP des Kantons Waadt für Annahme votierte, war der Parteivorstand der SPS im Verhältnis von 32 zu 16 dagegen. Walther Bringolf, der im Ersten Weltkrieg Soldatenräte gegründet hatte und in den 1920er-Jahren als kommunistischer Nationalrat der SPS mangelnden Antimilitarismus vorgeworfen hatte, rügte Humbert-Droz, weil er sich für diese Initiative einsetzte.57

Obwohl die Initianten bewusst auf Distanz zu den Kommunisten gingen und sich auch keiner im Initiativkomitee fand, wurde ihnen unterstellt, dass sie von Moskau gesteuert seien. Die Schweizerische Metall- und Uhrenarbeiter-Zeitung schrieb: «Dennoch kann kein Zweifel daran bestehen, dass diese beiden Volksbegehren ganz in der Linie der moskowitischen Taktik liegen und durch den kommunistischen Propagandaapparat auch die erforderliche Unterstützung erhalten werden.»58 Die Mitinitianten um den Zürcher Pfarrer Willi Kobe und Jules Humbert-Droz und ihr «Pazifistenzirkel» nähmen «die aktive kommunistische Hilfe bei der Unterschriftensammlung in Anspruch».59 Pfarrer Willi Kobe musste sich gegen den Vorwurf wehren, er stelle sich in den Dienst der Kommunisten. Zwar stand in seiner Fiche von 1956, er sei «keineswegs kommunistenfreundlich», doch änderte zwei Jahre später der Staatsschutz seine Meinung und stellte fest, Kobe habe bewiesen, «dass er ein politischer Kumpan der Kommunisten ist».60 Gegen Kobe, wie gegen viele andere auch, gab es nach «Ungarn» Drohungen. So erhielt er im November 1956 von einer «Aktion Heimat» ein Schreiben: «Wir werden Dir in den nächsten Tagen einen Besuch abstatten. Nimm es nicht tragisch, wenn es etwas laut zugeht und dass Scheiben in Scherben gehen. Es soll Dir zeigen, dass das Schweizervolk Verräter verachtet […]»61 Mit der Initiative geriet Chevallier auf den Radar des Staatsschutzes. Er wurde nie als Kommunist verdächtigt, vom Berner Spezialdienst allerdings als «Instrument der kommunistischen Ideologie» bezeichnet. Deshalb wohl drängte Bundesrat Feldmann auf eine intensivere Überwachung von Chevallier.62

Die Diskussion um die Chevallier-Initiativen kam zu einem abrupten Ende. Am 24. Oktober 1956 begann der Aufstand in Ungarn gegen die kommunistische Herrschaft. Zehn Tage später marschierten sowjetische Truppen ein und unterdrückten ihn brutal. In diesem aufgeheizten Klima, in dem der Antikommunismus einen Höhepunkt erreichte, stieg der Druck auf die Initianten, ihre beiden Volksbegehren zurückzuziehen. Am 14. November 1956 teilte Samuel Chevallier als einer der Erstunterzeichner mit, er sei für deren Rückzug. Drei Tage später folgte ihm das nicht einstimmige Komitee. Wenige Volksbegehren haben solch ideologisch hochgekochte Debatten provoziert wie die beiden Chevallier-Initiativen. Das eigentliche Anliegen, die soziale und friedensfördernde Komponente, trat in den Hintergrund. Es ging um ein Glaubensbekenntnis für oder wider eine starke, sich selbst verteidigende Schweiz. Wer für die Initiative war, war ein von Moskau gesteuerter Defätist. Die dumpfen ideologischen Zuschreibungen im Umfeld dieser Initiativen waren nur das Vorspiel zu dem, was nach dem Ungarn-Aufstand stattfand.

Die Abwürfe der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki veränderten die internationale Lage radikal und auf Jahrzehnte hinaus. Damit begann das nukleare Wettrüsten, denn Stalin wollte für sein Land vor allem eines: Sicherheit und Gleichstand mit den USA. 1949 hatte auch die Sowjetunion ihre Atombombe entwickelt. Obwohl sich die Atommächte mit der Idee, dass man mit Atombomben Waffen hatte, die man nicht einsetzen durfte, bereits Ende der 1940er-Jahre vertraut machten, verhinderte das nicht die Entwicklung der viel verheerenderen Wasserstoffbombe und ein sich beschleunigendes atomares Wettrüsten. Für die Amerikaner ging es darum, die Nase beim atomaren Wettlauf vorne zu haben. 1952 brachten die USA eine Wasserstoffbombe zur Explosion; die Sowjetunion zog im folgenden Jahr nach. Laut Präsident Harry Truman wurde sie entwickelt, damit man gegenüber den Russen eine Verhandlungsmasse hatte.63 1961 zündeten die Russen die von einem Team um den späteren Dissidenten Andrei Sacharow entwickelte stärkste Wasserstoffbombe überhaupt. Sie hatte eine Explosivkraft, die dem 2500-Fachen der Hiroshima-Bombe und dem 30-Fachen aller während des Zweiten Weltkriegs auf Deutschland abgeworfenen Bomben entsprach.64 Bis in die 1980er-Jahre hinein türmten sich die Atomarsenale der beiden Supermächte auf 60 000 Sprengköpfe. Gleichzeitig war allen bewusst, dass nur ein «Gleichgewicht des Schreckens», bei dem nie Atomwaffen zum Einsatz kamen, die Welt vor dem Untergang bewahren konnte. Die Drohung mit Atomwaffen war fortan das bestimmende Strukturelement im Verhältnis Ost-West, dem sich kein Land entziehen konnte.

Da keine der Atommächte im «imaginären Krieg» diese Waffen einsetzte, wurde die Konfrontation anderswo oder über Stellvertreter ausgetragen. Nach dem Umsturz in der Tschechoslowakei und nachdem sich die kommunistischen Regimes im Ostblock etabliert hatten, testete Stalin mit der Blockade von Berlin 1948/49 den Westen. Dies führte zu einer riesigen Solidarisierung mit der Berliner Bevölkerung; die legendären «Rosinenbomber», die die Versorgung der Bevölkerung sicherstellten, sind bis heute Teil des kollektiven Gedächtnisses. Stalin wollte die westlichen Alliierten aus Berlin heraus haben; die Amerikaner sahen Berlin als Testfall. Würde der Westen hier einknicken, wäre der Weg für eine weitere sowjetische Expansion frei. Nach 321 Tagen, während deren die Bevölkerung mit 278 000 Flügen und 2,3 Millionen Tonnen versorgt worden war, gab Stalin klein bei.65 Für ihn war es ein immenses PR-Desaster. Als er die Blockade aufhob, war die Nato gegründet worden, ebenfalls die Bundesrepublik Deutschland, was Stalin vermeiden wollte.66 Im Gegenzug entstand die Deutsche Demokratische Republik.

Der Koreakrieg 1950–1953 war ein Resultat des Kalten Kriegs, ein typischer Stellvertreterkrieg, bei dem auch das mittlerweile kommunistische China auf der Seite von Nordkorea kämpfte. Der Angriff der nordkoreanischen Truppen erfolgte mit Zustimmung Stalins, doch zögerten sowohl Josef Stalin als auch Mao Zedong vorerst einzugreifen.67 Dieser konventionelle Krieg mit Millionen von Toten hätte zu einem heissen Atomkrieg eskalieren können. Doch Präsident Truman entliess 1951 den kommandierenden General Douglas McArthur, der den Einsatz von Atomwaffen gefordert hatte. Im Koreakrieg kam es zu lange geheim gehaltenen Luftkämpfen zwischen russischen und amerikanischen Piloten. Es war das einzige Mal, dass sich die beiden Staaten im Kalten Krieg direkt bekämpften.68

Der Tod Stalins im März 1953 liess Hoffnung auf eine Entspannung aufkommen. In Ostmitteleuropa kommt es zu Protesten gegen die kommunistische Herrschaft. Die Forderung nach Demokratie und Selbstbestimmung wird laut. Doch die Unterdrückung des Arbeiteraufstandes gegen die Erhöhung der Arbeitsnormen in Ostberlin drei Monate später macht diese Hoffnung zunichte. Die Fronten verhärten sich. 1955 tritt die Bundesrepublik Deutschland dem westlichen Verteidigungsbündnis, der Nato, bei. Wenige Tage später gründen die Sowjetunion und ihre Satelliten als Pendant den Warschauer Pakt.

Mit einer Rede am 20. Parteitag der sowjetischen KP prangerte Parteichef Nikita Chruschtschow den Personenkult um Stalin an, den Machtmissbrauch und die staatliche Repression. Die Verbrechen unter Stalin waren fortan nicht mehr tabu, und es ging die Rede von einem «Tauwetter» in den Beziehungen Ost-West um. Doch wenige Monate später marschieren sowjetische Truppen in Ungarn ein. Die Sowjetunion markierte ihre Einflusssphäre, was die Westmächte ihre Strategie ändern liess. Die Politik des Zurückdrängens des Kommunismus erwies sich als obsolet, es ging künftig nur noch um die «Eindämmung». Hinter dem Eisernen Vorhang liess man der Sowjetunion freie Hand. Das Tauwetter wich einer Eiseskälte.

Die Schweiz im Kalten Krieg 1945-1990

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