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c. Sich ein Ohr abkauen lassen und gut dabei aussehen

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Neben der Bewirtung von Gästen und der Zubereitung von Getränken aller Art obliegen dem ordinären Barmann natürlich noch eine ganze Reihe anderer Aufgaben, die entweder unbedingt notwendig sind, um diesen beiden Primärzielen erfolgreich nachkommen zu können, oder sich aus diesen Zielen zwangsläufig ergeben. Hierzu gehören die Umsetzung der hygienischen Standards, also die Reinhaltung der Bar und der Arbeitsutensilien, das Auffüllen des Warenbestandes, die Kassenabrechnung usw. Alles reichlich unspektakulär und an dieser Stelle kaum erwähnenswert. Eine Pflicht jedoch wird unbedingt und ohne Ausnahme mit der Profession des Barmannes assoziiert und nur selten ist ein Klischee derart zutreffend: die Rede ist von der Rolle des Zuhörers.

Viele Menschen suchen einen Ort wie eine Bar nicht nur auf, weil sie durstig sind. Manch einem ist langweilig, ein anderer sucht Gesellschaft, ein dritter will sich wohl tatsächlich einfach nur sinnlos betrinken, und ein vierter sucht eine starke Schulter, an der er sich ausheulen kann. Barmänner waren seit je her und zu allen Zeiten seit Erfindung des Gasthauses das bevorzugte Ziel von frustrierten, deprimierten oder sonst wie bekümmerten Gestalten, wie es sie zuhauf in jeder Art der menschlichen Besiedlung gab und gibt.

Dahinter steckt wohl eine oder mehrere der folgenden, mehr unterbewussten Denkweisen, die Menschen dazu bewegen, sich ausgerechnet den Schankwirt als Halde für den eigenen seelischen Unrat auszuwählen:

1. Der Typ hinter dem Tresen verkauft mir Alkohol, also ist er mein Freund.

2. Er ist mir gegenüber höflich, aufgeschlossen und selbstbewusst. Das schafft Vertrauen.

3. Er begegnet einer Unmenge an Menschen und muss schon allein deshalb über einen ungemein üppigen Erfahrungsschatz verfügen. Er weiß wohl über das Leben Bescheid, wie sonst vielleicht nur noch der Dalai Lama.

4. Er ist immer da, wenn ich ihn brauche und hat auch kaum Möglichkeiten, mir zu entwischen.

5. Alternativ zu 4. bin ich vielleicht nur zufällig in der Gegend, geschäftlich oder im Urlaub, und egal wie sehr ich mich später vielleicht für das Gesagte schämen mag, ich sehe den Kerl vermutlich sowieso nie wieder.

6. Gibt es nicht auch für Barmänner so etwas wie eine „ärztliche Schweigepflicht“?

7. Ich bin betrunken und will reden, ganz gleich, wer gerade in Reichweite ist. Bin ich betrunken in einer Bar, ist zwangläufig auch ein Bartender nicht weit.

8. Ist in den Getränkepreisen bzw. im Trinkgeld nicht auch so etwas wie ein inoffizieller Pachtvertrag für das Ohr des Barmannes enthalten?

Meist ist es so, dass jemand, der sich den Tresen als Beichtstuhl oder Therapiecouch ausgesucht hat, überhaupt keine Ratschläge oder Lösungsansätze erwartet. Ein solcher jemand möchte in aller Regel einfach nur frei von der Leber weg plaudern und sich für kurze Zeit wenigstens der Illusion hingeben, ein anderer jemand würde ihm zuhören und ihn verstehen. Während anwesende Gäste sich ganz einfach abwenden oder auf andere Art zu verstehen geben können, dass sie nicht willens sind, sich dieses deprimierende oder langweilige Gerede weiter anzuhören, fällt es dem Barmann schon deutlich schwerer, seinen Unwillen dem Gast gegenüber höflich aber bestimmt zum Ausdruck zu bringen.

Während der ersten Jahre meines Berufslebens, als ich noch jung und unverdrossen war, lieh ich bereitwillig einer jeden redebedürftigen Barfliege mein Ohr. Ich tat es nicht aus Diensteifer, sondern weil ich Mitleid mit diesen armen Geschöpfen verspürte, denen das Leben so übel und ungerecht mitspielt hatte. In der Tat waren die mir auf diese Weise aufgetischten Geschichten recht oft überaus interessant, bisweilen gar spannend und schier unglaublich anzuhören.

Da war die Rede von prügelnden Ehefrauen; von Müttern, die sich alles zurücklassend einfach mit ihrem um Jahre jüngeren Liebhaber aus dem Staub gemacht hatten; von bekennenden Trinkern, die nur mit dem Saufen angefangen hatten, weil sie sich während ihrer Lehrzeit auf dem Bau von den anderen dazu genötigt sahen; von einer Hure, in die sich einer unsterblich verliebt hatte, mit der dieser sich aber nur heimlich und unter ständiger Angst, vom boxergesichtigen Zuhälter erwischt zu werden, treffen konnte; von Spielern, die buchstäblich Haus und Hof verzockt hatten und sich nun aus lauter Verzweiflung in den Alkoholismus flüchteten.

Nicht selten war ich von den Erzählungen zutiefst betroffen und sah mich auch noch Tage und Wochen danach von dem Gehörten in Gedanken bedrängt. Zu keiner Zeit war es aber so, dass mich die vor Augen geführten Schicksale selbst in ein depressives Loch hinabgezogen hätten. Ich fand es vielmehr unglaublich spannend einen derart tiefen und intimen Einblick in das Leben fremder Menschen zu erhaschen. Das kann man getrost als eine Form von Schaulust, wenn nicht gar als Voyeurismus bezeichnen. Okay, ab ging mir dabei natürlich keiner. Mit meinen jungen Jahren hätte ich mir aber nicht einmal in meiner Fantasie vorstellen können, was mir diese Leute da über die gnadenlose Härte des Lebens zu berichten wussten. Ich hatte bis dahin ein vergleichsweise behütetes Leben und saß nun plötzlich in der ersten Reihe der gruseligen Dauervorstellung „Wie das Leben so spielt“. Die besten Geschichten schreibt das Leben selbst, heißt es nicht umsonst, und kaum ein Sprichwort hat sich als so zutreffend erwiesen wie eben dieses.

Heute ist es längst so, dass es kaum mehr eine Story gibt, die ich nicht schon einmal in der einen oder anderen abgewandelten Form gehört hätte; lediglich die Protagonisten ändern sich. Ihre Namen, ihr Aussehen, ihr Alter und auch die Orte des Geschehens sind andere, aber die wesentlichen Handlungsstränge sind bis auf wenige Ausnahmen dieselben. Das ist auf eine recht skurrile Art schade, ist das Leben doch immer dort am interessantesten, wo es Neues zu entdecken gibt. Die menschlichen Tragödien sind, so scheint es mir heute, durch alle Zeiten hindurch stets die gleichen geblieben.

Die Zahl derer, die einen mit ihrem Ballast aus Schicksalsschlägen, selbstverschuldeten Miseren oder simplem Redeschwall behelligen wollen, ist selbstverständlich nicht kleiner geworden. Überraschenderweise muss ich wohl aber sagen, dass es in einer Großstadt wie Berlin auch nicht mehr von dieser Sorte gibt, als das in einem kleinen Ort in Bayern der Fall ist. Würde man ihren Anteil an der Bevölkerung in Prozent errechnen, so käme flächendeckend vermutlich in etwa der gleiche Wert heraus.

Lassen Sie mich nun zu der Frage kommen, ob die passive Tätigkeit des Zuhörens einen sinnvollen Zweck erfüllt, einen sichtbaren Nutzen bringt. Ohne jeden Zweifel verschafft sie dem aktiven Part, also dem Redner, für einen kurzen Moment Erleichterung, wenn er sich seine Sorgen sprichwörtlich von der Seele reden kann.

Es ist uns Menschen ein drängendes Bedürfnis unsere Gedanken, unsere Probleme, aber auch unsere Freude mit anderen Artgenossen zu teilen. Dabei lässt sich auf den ersten Blick keinerlei Vorteil erkennen, wenn wir unsere Beweg-gründe laut aussprechen, anstatt sie einfach still für uns zu behalten. Ging es nur allein um das Sprechen als solches, so hätte ein Gegen-die-Wand-Reden wohl denselben positiven Effekt auf unser Gemüt. Vielmehr geht es wohl also darum, anderen unser Innerstes offenzulegen, ihnen zu eröffnen, was in unserem Herzen vor sich geht. Wir sind soziale Wesen, in der heutigen anonymisierten Welt jedoch nur allzu oft allein mit uns selbst, unseren Sorgen und Dämonen. Die ständigen in uns kreisenden Gedanken gelegentlich heraus zu lassen kommt einer Befreiung gleich, doch funktioniert dieser Mechanismus nur, wenn uns andere Menschen ihr Ohr leihen. Dieser zwischenmenschliche Austausch ist für jeden einzelnen von uns wichtig, er vermittelt uns das bedeutsame Gefühl, nicht allein zu sein, nicht unwichtig zu sein, sondern Teil einer sozialen Gruppe. Normalerweise erfolgt dieser Austausch innerhalb der Familie oder unter Freunden, der natürlichen sozialen Umgebung eines jeden Primaten. Wer weder Familie noch enge Freunde hat, der geht eben in seine Stammkneipe und zum Bartender seines Vertrauens.

Nimmt das Zuhören kurzfristig den inneren Druck von der Seele des Redners, so ist es doch praktisch völlig ungeeignet, Probleme gleich welcher Art auch dauerhaft zu lösen. Denn die Wurzel, die eigentliche Ursache für das Unbehagen oder das Bedürfnis, sich jemandem anzuvertrauen, vermag ein simples Reden-Zuhören nur ausgesprochen selten zu erreichen. Die getürmte Ehefrau kommt davon nicht wieder, genauso wenig wird man dadurch seine Alkoholsucht los oder kann die Vergangenheit ändern. Auch gut gemeinte Ratschläge führen nach meiner Erfahrung so gut wie nie zu etwas. Wer sein Leben nicht im Griff hat, wird daran auch durch noch so viele Kneipenbesuche nichts ändern können. Wer sich also permanent beim Barmann seines Vertrauens auskotzt, der ist eindeutig auf dem Holzweg bzw. nicht dazu in der Lage, die Ursache seiner Sorgen zu erkennen und effektiv anzugehen. Es gelingt ihm bestenfalls, dann und wann für kurze Zeit seiner Einsamkeit oder seinen Sorgen zu entfliehen – jedenfalls solange die „Zuhörer“ seiner noch nicht überdrüssig geworden sind und ihn zum Teufel jagen.

Verschafft das Teilen des Leids dem aktiven Teil nun also wenigstens kurzzeitig ein gewisses Maß der Linderung, so kann es sich im Gegenzug auf den passiven Part durchaus negativ auswirken. Daher ist ja auch vom Teilen die Rede. Der Zuhörer bekommt sozusagen Bruchstücke der Sorgen des anderen aufgeladen und fühlt sie dank der den Primaten eigenen Fähigkeit zur Empathie in verdünnter Form nach. In der Regel lässt man sich davon als erwachsener und psychisch stabiler Mensch nicht weiter belasten. Ist man allerdings noch jung und unerfahren, von Hause aus selbst psychisch labil oder befindet man sich ebenfalls gerade in einer schwierigen Lebenssituation (es mag für viele überraschend sein, aber auch Barmänner haben ein Privatleben), so kann der mentale Ballast anderer wie ein Bleigewicht wirken, das einen noch tiefer in den seelischen Abgrund hinabzieht. Steht man sodann einmal unter schwafelndem Dauerfeuer, kann das durchaus ein kritisches Ausmaß erreichen und den Barmann an den Rand des Burnouts treiben - zwar nicht als Auslöser dessen, wohl aber als das berühmte Zünglein an der Waage. Ich habe so etwas schon erlebt, wenn schon nicht am eigenen Leib, so doch bei ehemaligen Kollegen.

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Von Nachtschwärmern & Schnapsdrosseln

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