Читать книгу Von Nachtschwärmern & Schnapsdrosseln - Thomas Majhen - Страница 21
d. From dusk till dawn
ОглавлениеJe später der Abend, desto schöner die Gäste.
Volksweisheit
Auch wenn dieses bekannte Sprichwort dem eigentlichen Sinne nach mehr auf die Wirkung eines fortgeschrittenen Alkohol-konsums abzielt, als auf die vorgerückte Stunde, so ist es doch ungemein bezeichnend für die vielleicht typischste aller Barschichten: die Nachtschicht – auch oder ganz besonders dann, wenn man es einmal von der ironischen Seite betrachten möchte. Denn nirgendwo gilt mehr als hier: je später die Stunde und je näher der Feierabend rückt, desto leidenschaftlicher möchte man als Bartender jeden Gast, der sich noch in die Bar wagt, zum Teufel wünschen.
Lassen Sie mich nun ein wenig weiter ausholen. Von Natur aus sollte es so etwas wie „Nachtmenschen“, also das Gegenstück zu den bekannten „Frühaufstehern“, überhaupt nicht geben. Des Nachts zu arbeiten, wenn die Sonne längst untergegangen und keine natürliche Lichtquelle mehr vorhanden ist, mit Ausnahme des Mondes vielleicht, das kann man selbst mit viel Fantasie nur sehr schwer auf unsere Vorfahren, auf die Menschen der Urzeit übertragen. Sie mögen jetzt vielleicht sagen: „Das ist nun aber ein doch recht großer Spagat vom Urmenschen zum modernen Bartender!“. Doch bedenken Sie: die Gattung Homo Sapiens existiert seit wenigstens 160.000 Jahren, sie reicht also bis in eine Zeit zurück, zu der es noch keine Städte und keinen Ackerbau gab, von des Nachts ausgeführten Berufen ganz zu schweigen.
Auch die Arten, aus denen der Homo Sapiens vor Jahrmillionen hervorgegangen ist, waren tagaktiv – einmal abgesehen von einem unserer entferntesten Vorfahren, einem rattenähnlichen Ursäuger, der zur Zeit der Dinosaurier lebte und vermutlich nachtaktiv gewesen ist. Und kommen Sie mir jetzt bloß nicht mit irgendeiner religiös kontaminierten Schöpfungstheorie. Eine übergroße, durch die Nacht huschende Beutelratte ist unser Urahn, und nicht irgendein Apfeldieb und seine Feigenblatt tragende, heimtückische Geliebte, basta!
Freilich, „arbeiten“ ist im Zusammenhang mit Urmenschen wohl nicht der richtige Ausdruck, reden wir daher lieber vom „Jagen“. Nachts, bei völliger Dunkelheit nun also zu jagen, das ist für uns Menschen, deren Augen nur bei ausreichend guten Lichtverhältnissen funktionieren, ein Ding der Unmöglichkeit. Als ehemaliges affiges Beutetier, das tagsüber auf der Suche nach Nahrung durch die Savanne streifte und sich nach Einbruch der Dunkelheit zum Schutz vor gefährlichen Raubtieren ins sichere Geäst der Bäume begab, war es in unserer Frühgeschichte ganz einfach nicht notwendig, in finsterster Dunkelheit sehen zu können. Die Nacht war ausschließlich zum Ruhen da – und vielleicht noch zur Verfeinerung der Fortpflanzungspraktiken, was schließlich in der Entwicklung der Missionarsstellung gipfelte.
Bestenfalls später dann, nach dem Erscheinen der Gattung Homo (Homo Erectus, Homo Neanderthalensis, Homo Sapiens und Co.) kann man sich eine schmutzige und stinkende Gruppe von Menschen vorstellen, wie sie die Ausbeute des Tages um ein Lagerfeuer sitzend verzehrt und dabei ein angeregtes Schwatzen unter den ungewaschenen und verfilzten Clanmitgliedern herrscht. Doch auch hier dürfte nicht lange nach dem Abendessen dann Schluss gewesen sein, nachdem Vater sein Kotelett abgenagt und Mutter die abgefieselten Knochen weggeräumt hatte, den Geschwistern mit ihren gefüllten Bäuchen die schweren Augen von ganz allein zugefallen waren, die älteren Individuen der Gruppe noch ein Weilchen geistesabwesend und stupide ins Feuer gestarrt hatten, und sich schließlich die ganze Combo allmählich zu ihren milbenverseuchten Tierfellen begab. Irgendwie fühle ich mich gerade auf merkwürdige Weise an meine Kindheit erinnert – natürlich einmal abgesehen von den Tierfellen.
Die Natur hat es so eingerichtet - und seit Anbeginn der menschlichen Entwicklungsgeschichte dürfte es vermutlich nie anders gewesen sein - dass wir wie von selbst nach dem Versiegen des Tageslichts müde und träge werden und es uns zunehmend nach einer Mütze voll Schlaf verlangt. Einzige Ausnahme hiervon bilden vielleicht noch picklige Jugendliche nach dem Eintritt in die Pubertät, die ja gemeinhin dafür bekannt sind, mit großer Vorliebe bis spät in die Nacht vor aggressionsfördernden Ballerspielen zu sitzen, um sodann frühmorgens mit viereckigen Augen und nur unter Androhung jener zuvor noch verabscheuten Gewalt aus dem Bett zu bekommen sind.
Ob dieses wahrscheinlich ebenfalls natürliche Verhalten, ich komme zurück auf das lange Aufbleiben, nun darauf zurückzuführen ist, dass während der Pubertät das Gehirn der jungen Homo Sapiens gewissermaßen umstrukturiert und ihr gesamter Organismus von der anstrengenden Wachstums- auf die weitaus mehr Freude bringende Fortpflanzungsphase umgepolt wird, sei dahingestellt. Denkbar wäre es jedenfalls, schließlich verursacht dieser einschneidende Gehirn-Umbau allerlei merkwürdige Verhaltensweisen und scheinbare Fehlfunktionen, die bei den meisten Erwachsenen, die in diesem Zusammenhang offenbar allesamt unter Gedächtnisschwund leiden was die eigene Jugendzeit anbelangt, auf blankes Unverständnis stoßen.
Die pubertierenden Jugendlichen bekommen nicht nur hormonell bedingte Akne, werden oft unfassbar leichtsinnig und übermütig, zeigen rebellische Tendenzen und denken anscheinend nicht weiter über die Folgen ihres Tuns nach. Sie werden auch neugierig, selbständiger, probieren neue Dinge aus und beginnen sich nach und nach vom Rockzipfel ihrer Eltern zu lösen. Forscher haben die Vermutung angestellt, dass genau dieses Verhalten, eine Nestflucht gewissermaßen, verantwortlich für die rasche Ausbreitung der Menschheit über den Planeten ist. Sexuell heranreifende junge Erwachsene verließen ihren kleinen steinzeitlichen Klan auf der Suche nach paarungswilligen Partnern innerhalb anderer Sippschaften und gründeten letztlich ihre eigenen Familien. Auch hier wird wieder die entfernte Verwandtschaft zur gemeinen Beutelratte deutlich.
Die jugendlichen Tendenzen des Lange-auf-Seins und Spät-Aufstehens mögen nur Nebenerscheinungen des Erwachsenwerdens sein, doch sorgten sie möglicherweise darüber hinaus für die Bewachung des Lagers, während die jüngeren oder älteren Mitglieder der Gruppe in Frieden schlafen konnten. Es mag ein gezielter natürlicher Nutzen dahinter stehen oder auch Zufall sein, unbestreitbar jedenfalls neigen vor allem Jugendliche dazu, die Nacht zum Tage zu machen. Damit soll es mit unserer urzeitlichen Frühgeschichte nun genug sein.
Einmal abgesehen von heranreifenden Jugendlichen und einigen ganz wenigen erwachsenen Ausnahmen, ist es für Menschen vollkommen unnatürlich, während der Nachtstunden einer Arbeit nachzugehen. Tatsächlich hat man mittlerweile herausgefunden, dass sich Menschen in Frühaufsteher und Langschläfer einteilen lassen. Es gibt also einerseits Menschen, die sehr früh aufstehen, den noch jungen Tag nutzen, recht bald nach Anbruch des Abends müde werden, und gegen 21, 22 Uhr zu Bett gehen. Andererseits gibt es aber eben auch diejenigen, die sich morgens gerädert aus dem Bett quälen, während des ganzen vormittags nur äußerst schwer und unter massivem Einsatz von Koffein in die Gänge kommen, gegen nachmittags erst allmählich richtig wach werden, sich abends belebt fühlen und den Drang zu Aktivität verspüren, und sich erst gegen 0 bis 1 Uhr wieder schlafen legen.
Das Verhältnis von Frühaufstehern und Langschläfern innerhalb der Bevölkerung ist relativ ausgeglichen, beide Typen kommen etwa gleich oft vor. Doch selbst für die Langschläfer gilt: ab etwa 22 bis 23 Uhr sinkt der Leistungspegel zusehends ab und Körper und Geist verlangen immer stärker nach Ruhe. Aber genau das ist die Zeit, zu der sehr viele Bars erst richtig zu brummen beginnen. Womit ist dieser scheinbare Widerspruch zu erklären?
Die Nacht wirkt auf viele Menschen eine merkwürdige, schon beinahe magische Anziehungskraft aus, zumal sie ja gerade in den Städten niemals völlig ihre rechtmäßige Herrschaft antreten kann. Stets und allerorts wird der Nacht ihr naturgegebenes Recht von Straßenlaternen, Gebäudebeleuchtungen, Leuchtreklamen und Fahrzeugschein-werfern streitig gemacht. Licht, vor allem blaues Licht, hat nun aber die besondere Eigenschaft, dass es, über die Augen aufgenommen, dem Gehirn signalisiert, es sei Tag. Versuche in Klassenzimmern an deutschen Schulen haben dieses Phänomen auf beeindruckende Weise belegt, wobei sich die Schüler gerade zur dunklen Jahreszeit des Vormittags deutlich wacher und leistungsfähiger gezeigt haben, nachdem die Standard-Leuchtröhren durch andere ausgetauscht worden waren, die eben jenes blaue Licht abstrahlten. Wundern Sie sich also nicht, wenn Sie in jungen Jahren ein lausiger Schüler gewesen sind – die Leuchtröhren waren schuld!
Als weiterer Grund für die Anziehungskraft der Nacht kann die ihr eigene Atmosphäre angeführt werden. Der Umstand, dass wir bei Dunkelheit nur schlecht und schemenhaft sehen können, verleiht der Nacht etwas Geheimnisvolles, Aufregendes – zudem sehen praktisch alle Menschen besser aus, als dies bei Tag der Fall wäre. Nachts sind eben alle Katzen grau, wie schon das bekannte, wenig schmeichelhafte Sprichwort weiß.
Die durch den langen vergangenen Tag bedingte leichte bis mäßige geistige Erschöpfung sorgt bei den Menschen außerdem für eine besondere Stimmungslage. Vorausgesetzt, sie sind nicht zu sehr ermattet, dadurch schlecht gelaunt und wären doch besser zu Hause geblieben, sorgt dieser harmlose Erschöpfungszustand für einen leicht berauschten, manchmal tranceartigen Zustand. In Kombination mit Geselligkeit und natürlich Alkohol entsteht auf diese Weise ein kräftiger und berauschender Cocktail, der dem Nachtleben seine Faszination verleiht und den Bars das Überleben sichert.
Was ab und an eine willkommene Abwechslung sein mag und einem tiefen menschlichen Bedürfnis entspringt, hinterlässt selbst dann, wenn man gelegentlich einmal über die Stränge schlägt, keinen nennenswerten und dauerhaften physischen oder psychischen Schaden. Entwickelt sich ein ausschweifendes Nachtleben allerdings aus welchen Gründen auch immer zu einem Dauerzustand, entsteht auf diese Weise eine erhebliche Belastung für Körper und Geist.
Diesem Zustand des regelmäßigen nächtlichen Aufbleibens - und meist auch Trinkens - geben sich einige Menschen nicht nur gelegentlich aus anscheinend freien Stücken hin, sei es nun aus Einsamkeit, innerer Leere, Vergnügungssucht – oder eben aus beruflichen Gründen. Gerade als Barmann hat man für gewöhnliche keine große Wahl, was die Arbeitszeiten angeht. Die Ausübung des Berufs erstreckt sich fast immer auf die Abend- und Nachtstunden, womit besondere Gefahren und Belastungen einhergehen, die schon so manchen smarten und charismatischen Typen in die Entzugsklinik gebracht haben.
Eben jene Gründe, die die Nacht so besonders und anziehend machen, sind es, die auch den Bartender verlocken und seine Disziplin und Selbstbeherrschung stets aufs Neue einer harten Probe unterziehen. Hinzu kommt noch, dass, jedenfalls ab Überschreitung einer gewissen Uhrzeit, fast alle Menschen um ihn herum betrunken sind. Es erfordert schon besondere Strategien und ein gehöriges Maß an Macht über die eigenen Schwächen, um sich als einzig nüchterner Homo Sapiens unter einer Horde in einen lange vergangenen Urzustand zurückgefallener betrunkener Troglodyten nicht fehl am Platze zu fühlen und der Verlockung zu erliegen, ebenfalls zur degenerierenden Zauberflasche zu greifen.
Es gibt Zeiten, da gleicht das Leben eines Barmannes einer einzigen, schier endlos langen Nacht - beinahe wie zu Zeiten der schon erwähnten nachtaktiven Beutelratte. Gerade im Winter sieht man oft tagelang kaum einmal das Sonnenlicht, man verpennt buchstäblich den Tag, um nicht zu sagen den Großteil der Jahreszeit. Das ist ein hoher Preis für ein Leben, das ohnehin so völlig anders ist, als dasjenige der meisten anderen Menschen.
Doch abgesehen von diesen gravierenden Nachteilen existieren natürlich auch schlagkräftige Vorteile, ohne die wohl ein niemand sich dazu nötigen lassen würde, des Nachts freiwillig zu arbeiten. Ein besonderer Vorzug der Nacht: in ihrem Verlauf passieren die interessantesten, kuriosesten und denkwürdigsten Dinge, die man sich selbst mit einer noch so lebhaften Fantasie nur schwerlich würde ausdenken können. Man verdient aber im Regelfall auch mehr Geld, denn nicht nur, dass kräftige steuervergünstigte Zuschläge auf einen warten, auch die Trinkgeldfreude der Gäste ist gegenüber dem Tagesgeschäft meist deutlich erhöht. Aber der verlockendste Faktor für mich ist und bleibt diese in der Luft liegende Magie, diese besondere Stimmung, in der sich Menschen einige Stunden nach Einbruch der Dunkelheit befinden und die sie manchmal zu Handlungen und Ideen verleitet, an die sie des Tags nie und nimmer denken würden.
Eine lustige Nachtgeschichte, die mir gut in diesem Zusammenhang in Erinnerung geblieben ist, ereignete sich eines Tages in einem großen Wellnesshotel in einem kleinen Kaff irgendwo im tiefsten Bayern . . .
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