Читать книгу Von Nachtschwärmern & Schnapsdrosseln - Thomas Majhen - Страница 15
Der Blutegel
ОглавлениеStellen Sie sich vor, Ihre Beziehung ist schon seit einiger Zeit heftig am Kriseln, zu Hause herrscht nur noch dicke Luft und Sie nutzen jede sich bietende Gelegenheit, um nicht sofort nach der Arbeit direkt Heim fahren zu müssen. Wenn Sie genauer darüber nachdenken und ehrlich zu sich selbst sind, haben Sie und Ihr Partner sich nichts mehr zu sagen und die Geschichte ist schon seit längerem de facto vorbei. Bisher haben nur weder Sie noch Ihr Lebensgefährte den Mut dazu gefunden, diese Tatsache auch laut auszusprechen und endlich einen Schlussstrich zu ziehen.
Zu allem Übel leidet außerdem Ihre Mutter an Meteorismus und malträtiert Sie mehrmals die Woche telefonisch mit detaillierten Beschreibungen ihrer unangenehmen Beschwerden. Sie besuchen sie, wann immer Sie Zeit haben und versuchen ihr in dieser schwierigen Phase beizustehen. Die Ärzte sagen zwar, die Chancen für Ihre Mutter stünden ausgesprochen gut, doch vollkommene Sicherheit können auch sie Ihnen nicht geben.
Ihre Arbeit in der Bar bereitet Ihnen den Umständen entsprechend kaum noch Freude, im Gegenteil wirken Ihre privaten Sorgen wie ein Katalysator und Sie spüren den momentan herrschenden Stress um vieles deutlicher als sonst. Überflüssigerweise lässt auch noch Ihr als Choleriker bekannter Chef kaum eine Gelegenheit aus, seinen eigenen Frust an Ihnen und Ihren Kollegen auszulassen und vergiftet als echter Kotzbrocken die ohnehin schon angespannte Atmosphäre, sobald er das Lokal betritt.
Nach einem langen Abend voll kräftezehrender Kämpfe gegen Horden von britischen, spanischen und italienischen Touristen, bei denen Sie zu allem Übel nur ein Minimum an Trinkgeld erbeuten konnten, kehrt gegen 23 Uhr endlich ein wenig Ruhe in den Schankraum ein. Sie atmen auf: noch ein paar Stunden, dann können Sie sich ein Bier gönnen und nach Hause fahren. Dort mag die Luft zwar auch nicht gerade angenehm sein, aber Sie können sich wenigstens schlafen legen und einen weiteren unbefriedigenden Tag zu den Akten legen.
Mit einem winzigen Funken von so etwas wie Optimismus sehen Sie nun den noch verbleibenden Stunden bis zu Ihrem Feierabend entgegen. Leicht beschwingt machen Sie sich nun an einige erste Aufräumarbeiten.
Dann passiert es.
„Er“ tritt durch die Tür.
Sie haben ihn bereits aus den Augenwinkeln wahrgenommen, noch bevor Sie ihn richtig sehen und mit beiden Augen erfassen konnten. Schon sein bloßer Anblick verdirbt Ihnen die ohnehin fragile Laune und droht Sie nun in neue Tiefen der Hoffnungslosigkeit zu stoßen. Denn Sie wissen genau, was Sie während der nun folgenden zwei Stunden erwartet.
Der unwillkommene Neuankömmling lässt seinen Blick kurz schweifen, dann erkennt er mit einem kaum merklichen Aufblitzen in den Augen, dass sein angestammter Sitzplatz in einer Ecke am Tresen nicht besetzt ist. Schwerfällig, ja beinahe schlurfend, als würde er eine tonnenschwere unsichtbare Last auf seinen Schultern tragen, bewegt er sich in Richtung Ecke und lässt sich kraftlos und mit einem sachten Aufstöhnen auf das abgenutzte Polster niedersacken. Mit einem ebenso schwachen wie freudlosen Lächeln begrüßt er Sie, mit einem nicht minder gequälten Ausdruck erwidern Sie seinen Gruß. Trotz Ihrer begründeten Abneigung gegen den Mann versuchen Sie sich zu einem Mindestmaß an Höflichkeit zu zwingen.
In Wahrheit allerdings hätten Sie bereits jetzt gute Lust einfach zu türmen und verfluchen in Gedanken den Umstand, dass die Bar nicht immer noch brechend voll ist. Denn bei den paar anwesenden Gästen ist eines klar: Sie haben Zeit. Viel Zeit. Und „er“ wird diese Zeit auf seine Weise zu nutzen wissen.
Sie servieren dem Mann ohne irgendwelche Fragen zu stellen sein übliches Getränk und warten schicksalsergeben, bis er das unweigerlich folgende Gespräch eröffnen würde. Er nimmt zunächst einen gierigen Schluck, setzt ab und beginnt langsam, aber unaufhaltsam mit seiner gewohnten Litanei.
Nach einem kurzen, als Einführung dienenden Smalltalk kommt der Atmosphärenvergifter schnell zum Thema und berichtet Ihnen detailliert und ausgiebig von den neusten üblen Ereignissen in seinem Leben. Während er so von unfähigen Hausärzten, unfreundlichen Bankmitarbeitern und widerborstigen Nachbarn berichtet, nimmt er wie eine außer Kontrolle geratene U-Bahn mit beunruhigender Geschwindigkeit Fahrt auf und redet sich mehr und mehr in Rage. Während Sie schon nach ein paar Minuten kaum mehr den Eindruck erwecken, Teilnehmer eines Dialogs zu sein, springt der mentale Pestilenzbringer nahtlos von einem Thema ins andere, von der leidigen Verwandtschaft, über gierige Politiker, bis hin zur Schlechtigkeit der Menschheit im Allgemeinen. All das haben Sie aus seinem Mund schon weit mehr als nur einmal gehört. Vielleicht zehnmal, vielleicht hundertmal, genau wissen Sie das nicht mehr zu sagen.
Längst hat sein Vortrag den Punkt überschritten, an dem sich Ihre Aufmerksamkeit verabschiedet hat. Es handelt sich ohnehin um einen Monolog, der nur eines Pseudo-Zuhörers bedarf, eines Ohrs in Reichweite, das wie ein Placebo lediglich den Eindruck erweckt, als würde es den Worten des Sprechers lauschen. Und in diesen Worten schwingt Wut, ja bei manchen Passagen regelrechter Hass mit, Hass auf die Menschen, Hass auf die Ungerechtigkeit, vielleicht auch ein nicht zu unterschätzendes Maß Hass auf sich selbst.
Mittlerweile sind Sie kaum mehr als nur noch körperlich anwesend, dennoch prasseln seine Tiraden unerbittlich wie Maschinengewehrsalven auf Ihr Unterbewusstsein ein und mähen ohne Mitleid Ihr verzweifelt aus dem Schützengraben stürmendes Gemüt nieder. Sie fühlen, wie sich nach und nach eine Veränderung in Ihnen bemerkbar macht, wie Sie sich schwer und bleiern fühlen, als hätte Ihnen jemand Steine in die Bauchhöhle eingenäht.
Während der unliebsame Besucher zusehends lebhafter und agiler wirkt, spüren Sie, wie er Ihnen - gleich einem Vampir - die Lebensenergie aus den Adern saugt und gierig in sich aufnimmt, um seinen eigenen verfallenden Körper damit zu mästen. Von Ihrer anfänglich so optimistischen Stimmung ist mittlerweile nichts mehr übrig. Sie fühlen sich miserabel, niedergeschlagen und kraftlos. Sie fühlen sich nun leer und ausgelaugt, Sie empfinden das ganze Leben als schwarz und leidvoll. Die Worte des Mannes haben Sie wie die Flüche eines bösen Hexenmeisters vergiftet und Sie krank und ohne Hoffnung zurückgelassen.
Das einzige, das Sie sich jetzt noch wünschen, ist Ruhe. Einfach nur Ruhe. Doch nicht einmal dieser banale Wunsch ist Ihnen vergönnt, denn der Hexenmeister denkt noch längst nicht daran, seinen bequemen Platz an der Bar wieder zu verlassen und Ihre gepeinigte Seele freizugeben.
Selbst wenn er sich irgendwann endlich dazu entschließen wird, Sie aus Ihrer Pein zu entlassen, so spukt Ihnen doch ein überaus beunruhigender Gedanke durch den Kopf: es gibt noch viele andere Menschen wie „ihn“, die nur darauf warten, ihrer Lieblingskneipe mal wieder einen Besuch abzustatten. Ach, gäbe es doch nur mehr durstige Kehlen heute Nacht!
__________
Es ist eine Eigenheit der Stammgästeschaft, dass sich unter ihnen immer wieder einzelne Problemfälle finden, die den Tresen fast ausschließlich als Nervenheilanstalt und den Barmann als unfreiwilligen Therapeuten missbrauchen. Das ist an sich, sofern es bei Einzelfällen bleibt, kein übergroßes Problem. Doch solche Gäste nerven nicht nur recht schnell, sie vergiften auf Dauer die Atmosphäre einer Bar und zerstören die gesellig-freudige Stimmung der anderen. Zudem beanspruchen sie viel Aufmerksamkeit für sich und halten den Barmann dadurch ungebührlich lange von seiner Arbeit ab.
Eine Bar ist ein Ort der Kommunikation. Der Bartender übernimmt dabei die Rollen des Zeremonienmeisters und Protokollführers in einer Person. In seiner Funktion hat er die Aufgabe, die stattfindende Kommunikation innerhalb gewisser Parameter zu halten, die die Aufrechterhaltung einer für die Mehrzahl der Gäste angenehmen Atmosphäre gewährleisten. Hierzu gehört eben auch, unangenehme oder exzessiv redefreudige Gäste im Zaum zu halten – und manchmal die anderen Gäste vor ihnen zu beschützen. Ohne entsprechendes Fingerspitzengefühl ist hier nichts zu machen. Ein Trick jedoch funktioniert immer: man bietet sich selbstlos als Blitzableiter an, erdet den spannungsaufgeladenen Redeschwallerzeuger und bewahrt den Tresen damit vor plötzlichen, zumeist unschönen Energieentladungen.
Glücklicherweise kann ich sagen, dass die absolute Mehrheit aller Barbesucher nur ausgesprochen selten und wenn, dann nur für kurze Zeit das Ohr des Barmannes auf die zuvor genannte missbräuchliche Weise in Beschlag nimmt. Die Rolle des Zuhörers ist wichtig und sie gehört zum Beruf. Und sie bringt durchaus auch Positives mit sich, versetzt sie einen doch in die privilegierte Lage, wie ein Zuschauer das Leben, die Sorgen und Nöte anderer zu betrachten und über sie aus angenehmer Distanz zu sinnieren, zu staunen und auch zu lernen. Denn die besten Witze, die herzergreifendsten Tragödien und die spannendsten Krimis entspringen dem Leben selbst und können in ihrer Ironie und Komplexität kaum von einem noch so tiefsinnigen Geist erdacht werden.
Und fragen wir uns eines: sind letztlich nicht alle großen Romane und Erzählungen der Literaturgeschichte dem wahren Leben entnommen oder doch wenigstens entscheidend von ihm beeinflusst worden?