Читать книгу Aroma Gemüse - Thomas Vierich - Страница 100
ОглавлениеEINE KLEINE GESCHICHTE DES GEMÜSEANBAUS
Ohne die Erfindung des Ackerbaus gäbe es heute kein Gemüse. Und weniger Kultur. Hätten nicht die ersten Steinzeitmenschen zwischen Euphrat und Tigris vermutlich durch Zufall entdeckt, dass man Getreidekörner in die Erde stecken kann, um später weit mehr Getreidekörner zu ernten, hätten diese Jäger und Sammler nicht die Vorteile der Sesshaftigkeit mit Ackerbau und Viehzucht kennengelernt: Dann sähen unsere Landschaften und unsere Zivilisation heute ganz anders aus. Dann gäbe es auch keine Schrift, keine Staaten und auch keine Industrie. Weil dann weniger Notwendigkeit bestanden hätte zu kommunizieren und zu kooperieren. Denn Ackerbau und Viehzucht zu betreiben bedeutet mehr Aufwand als zu jagen und zu sammeln. Man muss planen, vorausschauend agieren und braucht technische Hilfsmittel.
Und ohne Gemüse gäbe es keine Gartenkultur und vermutlich auch keine Geschmackskultur: In Küchen- und Bauerngärten wuchsen und wachsen Kräuter, Obst und immer zahlreichere Gemüsesorten, die züchterisch über Generationen verbessert wurden und werden. Während man dem Gemüse lange Zeit alle Ecken und Kanten und die Bitterstoffe ausgetrieben hat, ist genau das jetzt wieder gewünscht: Weil es näher an der Natur ist und vor allem weil es besser schmeckt. Auch die Kulinarik beginnt im Garten.
GEMÜSE – WAS IST DAS EIGENTLICH?
Will man Gemüse in seiner ganzen Vielfalt erfassen, stellt sich die Frage: Was zählt eigentlich zu „Gemüse“ und was nicht? Ist alles „Gemüse“, was ich als solches behandle? Ist wild wachsendes „Unkraut“ Gemüse, sobald ich es sammle und verzehre? Eine Papaya, wenn ich sie koche? Pilze, wenn ich sie züchte? Zählen Avocados, Brotfrüchte, Rhabarber und Erdbeeren zur Kategorie Obst oder zu Gemüse? Und was ist mit Mais, Reis, Amarant und Quinoa?
Je nachdem, worauf man den Fokus legt, erhält man verschiedene Antworten – aus der Botanik, der Lebensmittelkunde oder schlicht der Tradition. Eine klassische, viel zitierte Definition stammt von Werner Schuphan, dem Gründer der Bundesanstalt für Qualitätsforschung pflanzlicher Erzeugnisse. In seinem 1948 publizierten Buch „Gemüsebau auf ernährungswissenschaftlicher Grundlage“ definiert er als Gemüse „alle nicht zum Obst oder zum Getreide zählenden Nahrungspflanzen aus gärtnerischem oder landwirtschaftlichem Anbau – gleichgültig ob Blätter, Knospen, Wurzeln, Knollen, Zwiebeln, Stängel, Sprosse, Blüten, Früchte, Samen oder auch Pilze – welche ganz und ohne Entzug wesentlicher Bestandteile entweder roh, gekocht, konserviert oder sonst wie zubereitet direkt der menschlichen Ernährung dienen.“ Also sind Kartoffeln Gemüse, Zuckerrüben und Ölfrüchte hingegen nicht, weil bei Letzteren erst entzogene Bestandteile der menschlichen Ernährung dienen. Aber was ist nun der Unterschied zu Obst und Getreide? Und dürfen wir wirklich nur bei angebauten Nutzpflanzen von Gemüse sprechen? Georg Vogel bezieht in seinem „Handbuch des speziellen Gemüseanbaus“ (1996) Wildpflanzen explizit in seine Definition ein. Ihm zufolge zählen zu „Gemüse“ unabhängig vom gärtnerischen Anbau „essbare Früchte, Blätter, Sprossen, Wurzeln, Knospen, Samen, Blüten, Stiele, Knollen und Zwiebeln von kraut-, strauch- und teilweise baumartigen ein- oder mehrjährigen Pflanzen“.
In unserem Buch lehnen wir uns an beide Definitionen an: So tauchen Ölfrüchte und Zuckerrüben hier nicht auf, und von Getreidepflanzen haben wir allein den Mais aufgenommen, weil seine Samen nicht nur zu Mehl verarbeitet, sondern auch als „Gemüse“ gegessen werden. Wir behandeln daher nicht die Zubereitung des Maismehls zu Polenta, sondern konzentrieren uns auf die Maiskörner in der Zubereitung als „corn on the cob“ oder Popcorn. Dagegen rechnen wir einige noch oder wieder wild wachsende Pflanzen in diesem Buch zu Gemüse, denn nachdem in den letzten Jahrzehnten viele essbare Pflanzen als „Unkraut“ von Äckern und aus Gärten verbannt wurden, erleben sie jetzt eine bescheidene Renaissance, wie beispielsweise Gartenmelde oder Portulak zeigen.
Bleibt die Abgrenzung vom Obst. Nach der botanischen Definition gelten Früchte aus bestäubten Blüten als Obst, wie etwa Birnen und Kirschen – aber auch Tomaten, Kürbis und Zucchini (die natürlich in einem Gemüsebuch nicht fehlen dürfen). Die gärtnerische Regel, dass Gemüse im Unterschied zu Obst nur einmal geerntet werden kann, stößt ebenfalls an Grenzen – nämlich bei Ausnahmen wie dem mehrjährigen Rhabarber. Und das immer wieder angeführte Argument, dass Obst meist roh verzehrt, Gemüse gekocht oder anderweitig zubereitet werde, ist am wenigsten stichhaltig: Paprika und viele andere Gemüse isst man ebenfalls roh, Aprikosenkompott wird gekocht. Bei einigen Fruchtgemüsen müsste man kulinarisch sogar zwischen reifen und unreifen Früchten unterscheiden: Reife Papayas isst man roh als „Frucht“, unreife kommen traditionell als „Gemüse“ in Currys.
Letztendlich ist die Unterscheidung also fließend und oft kulturell bedingt. In manchen Ländern gelten Erdbeeren als Gemüse, in anderen ordnen zumindest die Zollbehörden Rhabarber und sogar Tomaten dem Obst zu. Deshalb haben wir uns entschieden, in diesem Buch im Zweifelsfall eher für Gemüse zu plädieren, um das Gemüse in seiner ganzen Vielfalt zu zeigen.
VON WILDBEUTERN ZU ACKERBAUERN – GEMÜSE IN DER VORGESCHICHTE
Die Geschichte des Gemüses ist Teil unserer Zivilisationsgeschichte. In der Region des „Fruchtbaren Halbmonds“, also ungefähr in dem Gebiet der heutigen Osttürkei, Palästinas, Syriens bis zum Irak, nahm die „Neolithische Revolution“, der Übergang vom Nomadendasein zur Sesshaftigkeit, ihren Anfang, ein mehrere Jahrtausende dauernder Prozess. Vor mehr als 11 000 Jahren (oder noch früher) wurden hier die ersten Jäger und Sammler sesshaft, begannen Vieh zu domestizieren und dann Ackerbau zu betreiben. Als Nomaden und „Wildbeuter“ hatten sich die Menschen bis dahin – und taten es in Europa viele tausend Jahre später immer noch – von Fleisch, Fisch und gesammelten Pflanzen ernährt: wild wachsendem Obst, Gemüse und frischen Kräutern. Diese Mischkost muss durchaus gesund und ausgeglichen gewesen sein, denn archäologische Funde in Skandinavien zeigen, dass die nomadischen Wildbeuter hochgewachsene Menschen waren und sich im Aussehen überraschend wenig von heutigen Nordeuropäern unterschieden. Auf alle Fälle sahen sie ganz anders aus als die gedrungenen Bauern späterer Zeiten, die sich in Europa noch bis zur Neuzeit hauptsächlich von Getreide oder Mais ernährten. Dass sie zu Bauern wurden, hatte vermutlich mit der Klimaerwärmung zu tun.
Die zunehmende Versteppung der Landschaft im Vorderen Orient reduzierte das jagbare Wild und die Menschen waren gezwungen, nach Alternativen zur Sicherstellung der Ernährung zu suchen. Sie begannen, die Natur ihren Bedürfnissen anzupassen. Sie rodeten Wälder, machten das Land fruchtbar, hielten das Wild in eingezäunten Gehegen und begannen zu züchten, sowohl das Wild als auch Pflanzen, zu denen zuerst Getreide und Hülsenfrüchte zählten: Einkorn, Emmer, Gerste und Linsen, später der anspruchsvollere Weizen und weitere Hülsenfrüchte wie Erbse und Lein. Auch Mohn wurde angebaut (vermutlich unter anderem als Droge). Wahrscheinlich wurden ebenfalls einige Obst- und weitere Gemüsesorten aus Wildformen gezüchtet, aber das ist archäologisch nicht nachzuweisen. Auch in anderen Erdteilen fand etwa gleichzeitig der Übergang zur Sesshaftigkeit statt: In China, Indien und Neuguinea dominierten Reis, Hirse und Hülsenfrüchte, im Gebiet des heutigen Mexiko kultivierte man sehr früh Mais, Bohnen und andere Leguminosen sowie Kürbis. Und in den Hochlagen der Anden (Peru) baute man Kartoffeln, Paprika und Tomaten an. Vermutlich kultivierte man damals bereits in tropischen Regionen erste Feld- bzw. Gartenfrüchte wie Kochbananen, Taro, Brotfrüchte und andere, allerdings ohne archäologische Spuren zu hinterlassen.
Kulturtechnisch entscheidend für die Menschen in Mitteleuropa waren die Menschen im Nahen Osten. Im Laufe der Jahrtausende verbreiteten die Völker des „Fruchtbaren Halbmondes“ ihre Kenntnisse Richtung Norden. Ab etwa 5 700 v. Chr. wanderten die sogenannten Bandkeramiker (man nennt sie so wegen einer bestimmten Art von Keramik, die sie hinterlassen haben) über den Balkan ein, rodeten das fast vollständig von dichten, undurchdringlichen Eichenwäldern bedeckte Land nördlich der Alpen entlang der Donau und drangen über das Rheintal bis ins Pariser Becken vor. Sie kannten zwar den Ackerbau, aber weder Düngung noch Fruchtwechsel oder eine Dreifelderwirtschaft, bei der der Boden sich als Brache immer wieder erholen kann. War das Land ausgelaugt, mussten sie weiterziehen, um neue Flächen urbar zu machen. Ob sie auf ihrem Zug die ansässigen Jäger und Sammler verdrängten, sich mit ihnen vermischten oder ob es Parallelgesellschaften gab, ist nicht geklärt. Den Bandkeramikern folgten in den nächsten Jahrtausenden viele andere Völker, die alle bereits Ackerbauern waren. Aber auch sie mussten immer weiterziehen. „Die Barbaren wandern“, hieß es noch bei den Römern verächtlich.
ARCHÄOLOGISCH NACHGEWIESENE GETREIDEUND GEMÜSE ARTEN
Funde aus der Zeit ab ca. 10 000 v. Chr.
VORDERER ORIENT / „FRUCHTBARER HALBMOND“
Einkorn, Emmer, Gerste, Weizen, Linsen, Erbsen, Lein, Mohn, vermutlich Obst und weitere, nicht überlieferte Gemüsesorten
ASIEN (CHINA, INDIEN, NEUGUINEA)
Reis, Hirse, Hülsenfrüchte
AMERIKA (MEXIKO)
Mais, Bohnen, Linsen, Erbsen, Kürbis
AMERIKA (ANDEN, PERU)
Kartoffeln, Paprika, Tomaten
TROPISCHE REGIONEN
(vermutlich, nicht überliefert): Kochbananen, Taro, Brotfrüchte