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SAMENECHTE SORTEN – VIELFALT UND AROMAREICHTUM
ОглавлениеSeit den 1980er Jahren gibt es – parallel zur zunehmenden „Hybridisierung“ der Landwirtschaft – eine stark wachsende Gegenbewegung, die sich für eine ökologische Züchtung einsetzt. Ihr oberstes Ziel ist die nachhaltige Nutzung der natürlichen Ressourcen. Man verzichtet bewusst auf den Eingriff ins Erbgut der Pflanze und entwickelt samenechte neue Sorten, die es den Landwirten ermöglichen, ihr eigenes Saatgut zu produzieren. Ziel der Züchtungen ist es, Pflanzen mit einer natürlichen Reproduktionskraft und einer hohe Vitalität zu bekommen, die fruchtbare Samen hervorbringen und sich einem Standort anpassen können. Allerdings dauert die Entwicklung so einer neuen samenfesten Sorte 10 bis 25 Jahre. Auf der anderen Seite widmen sich die Züchter daher dem Erhalt seltener und „alter“ samenfester Sorten. „Alt“ bedeutet nicht, dass man Sorten aus dem Mittelalter wieder anbaut. Die ältesten erhaltenen samenechten Sorten lassen sich höchstens bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen, viele sind bedeutend jünger. „Alt“ bedeutet auch nicht „wild“, sondern die Züchtung der jeweiligen Sorte ist „alt“.
Die Vorteile der „alten“ (oder auch neuen) samenfesten Sorten, deren Früchte oder Wurzeln oft weniger schön aussehen und sich schlechter lagern lassen als Hybride, liegen zum einen in ihrer Vielfalt und zum anderen in ihrem Aroma. So tragen sie schlicht durch ihre Existenz zum Erhalt der Biodiversität bei – was in Zeiten, in denen weltweit unzählige Pflanzen und Tiere aussterben, zu einer Überlebensfrage von uns allen geworden ist. Außerdem bedeutet eine große Sortenvarietät, dass man über eine große Palette an verschiedenen pflanzlichen Eigenschaften eines Gemüses verfügt, die man für Züchtungen neuer Sorten z. B. mit größerer Krankheits- oder Trockenheitsresistenz nutzen kann. Und man hat festgestellt, dass alte Gemüsesorten durch ein stärker ausgeprägtes Wurzelsystem und zahlreiche Verzweigungen der Triebe schwankende Wassermengen besser überstehen, man sie also weniger bewässern muss. Darüber hinaus sind sie im nichtkonventionellen, ökologischen Anbau ohne synthetische Dünge- und Pflanzenschutzmittel oft resistenter gegen Schädlinge und Krankheiten.
Abgesehen von diesen ökologischen und gärtnerischen Vorteilen ist es natürlich auch kulinarisch interessanter, wenn man nicht immer die gleichen Tomaten oder dieselbe Kartoffelsorte isst, sondern in der Küche mit Größe und Farbe, Aroma und Geschmack verschiedener Sorten experimentieren kann. Denn das ist ein weiterer, in der Sicht unseres Buches sogar ein zentraler Pluspunkt alter Sorten: Sie sind nicht nur vielfältiger, sie schmecken und duften auch besser! Ihre Aromen fungieren als natürliche Abwehrkräfte gegen Schädlinge. Das tun sie in hybriden Sorten auch, aber dort legt man eben auf andere Eigenschaften wie Aussehen oder Haltbarkeit mehr Wert. Außerdem müssen Hybride meist schnellen Ertrag liefern, während alte Sorten mehr Zeit zum Reifen haben, also mehr Aroma entwickeln können. Von Salat, Gartenbohnen, Erbsen und Petersilie gibt es überhaupt nur samenfeste Sorten, weil sich hier die Hybridzüchtung entweder züchtungstechnisch als schwer möglich herausgestellt hat oder die Kulturarten kaum Bedeutung im Erwerbsanbau haben.
VON GÄRTEN UND ARCHEN
Um seltene und alte Gemüsesorten wieder bekannt zu machen und um neues Saatgut ernten zu können, sind im deutschsprachigen Raum sogenannte Vielfaltgärten entstanden: in der Schweiz etwa der Nutz- und Lustgarten Schloss Wildegg im Aargau, betrieben von ProSpeciesRara mit über 400 verschiedenen Sorten und Arten. Das österreichische Gegenstück ist der Arche-Noah-Schaugarten in Schiltern in der Wachau mit 750 seltenen Gemüse-, Getreide- oder Färberpflanzen. In Deutschland wird im Samengarten in Eichstätten am Kaiserstuhl, der von ProSpeciesRara Deutschland betrieben wird, auf 8 000 qm2 Saatgut für die Region erzeugt. Auf Spitzbergen, etwa 1 000 Kilometer vom Nordpol entfernt, wurde 2008 eine internationale „Arche Noah“ errichtet. Dort deponieren Forscher aus aller Welt das Saatgut der wichtigsten Nutzpflanzen, um es möglichst lange zu konservieren.
Die „Arche des Geschmacks“ wiederum ist ein Katalog bzw. ein Warenzeichen, das der weltweit agierende Verein Slow Food ins Leben gerufen hat. Bedrohte Arten und Sorten mit regionaler Bedeutung werden als „Passagiere“ in die „Arche“ aufgenommen. Schwerpunkt der Arbeit ist das Sammeln, Beschreiben und Erhalten ausgewählter Tiere und Pflanzen. Und das ist keinesfalls eine trocken-museale Arbeit, sondern eine sehr pragmatische und genussorientierte. Weltweit können so über 1 000 regional wertvolle Lebensmittel, Nutztierrassen und Kulturpflanzen erhalten und von Feinschmeckern zubereitet und verzehrt werden – getreu dem Slow-Food-Motto „Essen, was man retten will“.
Immer mehr Menschen in und außerhalb der Landwirtschaft erkennen, dass es nicht nur auf den Ertrag und die einfache maschinelle Verarbeitung von möglichst gleich aussehenden Pflanzen ankommt, sondern letztendlich doch auf das Aroma, den Geschmack und die Vielfalt. Alte, oft regional verankerte Gemüsesorten passen gut zur bei uns gerade populären regionalen Küche. Und in jeder Frucht steckt ein anderes Aroma – je nachdem, ob sie wie etwa bei den Tomaten gelb, braun, rot, schwarz, gestreift, geriffelt oder pflaumenförmig ist. Dieser Variantenreichtum, der sich mittlerweile sogar in den Supermarktregalen zeigt, ist keine Erfindung von Marketingstrategen, sondern uralt. In unserem Buch versuchen wir, einen kleinen Eindruck von der Sortenvielfalt der verschiedenen Gemüsearten zu geben. Sorten, die sich aromatisch, optisch oder aus anderen Gründen für den kulinarischen Einsatz besonders auszeichnen oder für den Anbau im eigenen Garten eignen, stehen dabei im Vordergrund.
Der Renaissance der alten Sorten und der Biodiversität in unseren Gärten und langsam auch wieder auf den Äckern und in den kommerziell betriebenen Gewächshäusern kommt die steigende Beliebtheit von Gemüse in unseren Küchen entgegen, ebenso wie die Bereitschaft kritischer Verbraucher, etwas mehr für gute Nahrungsmittel auszugeben. Man braucht hier gar nicht den steigenden Anteil der Vegetarier oder gar Veganer in der westlichen Welt zu bemühen. Es reicht schon der Hinweis auf immer mehr Hobbygärtner, sogar in der Großstadt, wo sie sich dem Urban Gardening hingeben – der zeitgemäßen Interpretation des Selbstversorger-Schrebergartens.