Читать книгу Vom Glück zu leben - Titus Müller - Страница 10
Der Flügelschlag einer Mücke
ОглавлениеHicham Dequiedt überholte einen Lastwagen, als sein Auto plötzlich selbstständig auf 190 Kilometer pro Stunde beschleunigte. Über eine Stunde raste er daraufhin die Autobahn entlang, benutzte die Lichthupe, wich anderen Fahrzeugen aus. Es war unmöglich, langsamer zu fahren. Die Bremse reagierte nicht, die Zündung ließ sich nicht ausschalten, denn Dequiedts Auto, ein Renault Vel Satis, wird anstelle eines Schlüssels mittels einer Chipkarte gestartet. Über das Mobiltelefon alarmierte der 29-Jährige die Polizei. Die gab im Radio eine Warnung für alle Fahrer durch. „Ich habe die Angst meines Lebens ausgestanden“, sagte Dequiedt der Französischen Tageszeitung Le Parisien. „Ich dachte, mein letztes Stündlein hat geschlagen.“ Erst 200 Kilometer später konnte er den Wagen zum Halten bringen.
Haben Sie manchmal das Gefühl, Ihr Leben besteht darin, mit Tempo 190 über die Autobahn zu brettern und mühevoll den auftauchenden Gefahren auszuweichen? Halten Sie das Steuer umklammert, unfähig, die Augen von der Straße zu nehmen?
Ein guter Test, ob wir zu schnell fahren, ist die Frage, ob wir noch staunen können. Staunen ist nur möglich, wenn man von Zeit zu Zeit innehält. Hicham Dequiedt hat sicher weder die Landschaft Mittelfrankreichs wahrgenommen, durch die er fuhr, noch interessante Bauwerke, verreisende Familien, Rehe, ein Sonnenblinzeln durch die Wolkendecke – dafür fuhr er zu schnell.
Wir müssen gar nicht weit gehen, um etwas Bestaunenswertes zu finden. Selbst in einer öden, wenig bewunderungswürdigen Umgebung kann man staunen. Soll ich ein Beispiel geben?
Ich habe seltsame Knorpel an meinem Kopf, an jeder Seite einen. Sie fangen Geräusche ein, Töne, Worte. Durch einen Tunnel wird der Schall zum Trommelfell geleitet. Es ist unglaublich, was diese Membran alles an die Gehörknöchelchenkette weitergibt! Ich höre den Flügelschlag der Mücke. Wie ein Summen erscheint er mir, weil sie so schnell die Flügelchen bewegt. Im Dunkeln, wenn ich die Mücke nicht sehen kann, höre ich doch, wo sie sich befindet. Das geht nur, weil ich zwei Ohren habe und nicht nur eins.
Ich höre das zarte Streichen eines Pferdehaarbogens auf einer Violinsaite. Ich höre das Zupfen der Basssaite. Ich höre jemanden flüstern. Ich höre Musik – und die Musik macht mich glücklich. Ich höre einen Freund meinen Namen rufen. Ich höre den Wind in den Blättern spielen (mein liebstes Geräusch).
Schnee kann ich hören, am Waldrand, ein feines Klirren, tausendfach: Winzige eisschillernde Schneekristalle rauschen auf Äste, Büsche und Vorjahresgras herunter, treiben übereinander, setzen sich fest. Einige Wochen später, im Frühjahr, kauere ich vor einem Ameisenhaufen und höre das Knistern der vielen Beinchen.
Auf einen Klang warte ich noch. Es gibt Radiomoderatoren, deren Stimme uns beeindruckt; wenn sie reden, laufen uns wohlige Schauer über den Rücken. Aber die Stimme, auf die ich warte, wird viel mehr als das tun. Ich stelle sie mir warm vor, tief und seltsam vertraut. Gottes Stimme.
Vielleicht ist es gar nicht so entscheidend, was Gott mir als Erstes sagt, wenn ich meinen Fuß auf den Boden der neuen Welt setze. Vielleicht ist es einfach der Klang seiner Stimme, der mich weinen machen wird vor Glück.