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Manchmal genügt ein Bahnhofsdach
ОглавлениеDer Bahnhof Berlin-Spandau ist ein Wunder. Zumindest heute Abend. Im gläsernen Dach spiegeln sich die Lichter der Autos: Sie fahren vorbei über mir, fliegen durch den Abendhimmel, eines, und noch eines, wie im Märchen. Ich hätte es nicht bemerkt, hätte mein Zug nicht Verspätung, würde ich nicht hier stehen und in der Kälte warten.
Natürlich könnte ich mich ärgern, könnte mir Sorgen machen um den Anschluss in Neustrelitz. Jetzt schon fürchten, zu spät zur Lesung zu kommen. Würde es mir nützen? Nein. Und über den Himmel fliegende Autos sind mir lieber als sorgenschwere Gedanken, die mich nicht weiterbringen. Also lächle ich und beobachte das Bahnhofsdach-Wunder.
Oft ist Ärger eine Frage der Perspektive. Oder eine Frage der Entscheidung. Gestern hatte eine Freundin einen Autounfall, und ich habe sie ins Krankenhaus gefahren, damit ihr schmerzendes Genick geröntgt würde. Trotz des kaputten Autos, trotz der Schmerzen hat sie mit dem Arzt gescherzt, war freundlich. Dann, plötzlich, kam eine Schwester in das Zimmer gestürmt, rief etwas von einem Notfall und riss den Arzt mit hinaus. Es wurde still in der Notaufnahme.
Wir warteten zehn Minuten, fünfzehn Minuten. Nebenan fing eine alte Frau an zu schimpfen. Warum man nicht auf ihr Rufen reagiere, rief sie. „Noch nie habe ich ein Krankenhaus mit so schlechtem Service erlebt!“ Ich versuchte sie zu beruhigen und erklärte, dass es wohl einen Notfall gebe, sie müsse sich noch ein wenig gedulden. Doch sie ließ sich nicht besänftigen. Es solle gefälligst jemand kommen! Als der Arzt schließlich zurückkehrte und ihr mitteilte, dass man versucht habe, einem Menschen das Leben zu retten, schimpfte sie weiter. Sie konnte ihren Ärger nicht ins Verhältnis zur wirklichen Lage setzen.
Geht es uns nicht oft genauso? Wir wettern über Kleinigkeiten und nebenan ringt jemand mit dem Tod. Wir beschweren uns über einen missglückten Tag und vergessen, dass es Menschen gibt, die ein missglücktes Jahrzehnt durchleiden.
Jetzt rollen Sie die Augen. Das klingt Ihnen verdächtig nach dem Spruch Ihrer Eltern, wenn Sie Ihren Teller nicht leer gegessen hatten: „Die Kinder in Afrika hungern!“ Ja, ich habe ihn früher auch gehört. Und ich fand ihn ebenso an den Haaren herbeigezogen. Half es den Kindern in Afrika denn, wenn ich mein Essen aß? Nein. Und macht es irgendeinen Unterschied, ob es jemand anderem schlecht geht – Tausende Kilometer entfernt?
Es macht einen Unterschied.
Erstens: Statt am Essen herumzunörgeln, sollte ich ihm helfen. Und zweitens: Abgesehen von meinem eigenen kleinen Leben bin ich ein Teil der Menschheit, und wenn es den Menschen in so vielen Gebieten der Erde schlecht geht, habe ich kein Recht darauf, für mich noch mehr Luxus einzufordern.
Natürlich will ich niemandem das Recht absprechen, sich zu ärgern. Ich möchte nur daran erinnern, dass wir in einem Zusammenhang leben und nicht allein wie ein Prinz oder eine Prinzessin in einem riesigen Zimmer voller Spielsachen. Sich diesen Zusammenhang zu vergegenwärtigen, kann in schwierigen Zeiten helfen, die zerstörerische Wut einzudämmen.
In guten Zeiten genügt ein Bahnhofsdach, das Autolichter über den Himmel fliegen lässt.