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Kopfrechnen und Schuhe zubinden

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Alles wird teurer! Die Zeit reicht für nichts mehr! Es geht einfach nicht voran! Unzufriedenheit ist zum Dauerzustand geworden. Wir klagen über alles und jedes. Nun kann Meckern ja durchaus Spaß machen. Man lässt so herrlich Dampf ab dabei – für eine Weile. Auf die Dauer macht uns Missmut allerdings blind und undankbar. Schon gemerkt? Denken Sie mal darüber nach: Wann sind Sie das letzte Mal mit einem Lächeln aufgewacht?

Der hartnäckigste Grund, um unzufrieden zu sein, ist die Enttäuschung über sich selbst. Vielleicht sind Sie durch eine Prüfung gefallen. Oder Sie kommen sich schwach und unbegabt vor, weil Ihnen nicht gelingen will, was Sie sich erträumt haben. Dann probieren Sie es doch mal mit diesem alten Wanderertrick: Wenn ein Bergsteiger müde wird und der Gipfel unbezwingbar erscheint, blickt er zurück. So viel ist schon geschafft! So weit ist er schon gelaufen.

Manchmal ist es einfach an der Zeit, dass man sich lobt, dass man sich freut über das bereits Erreichte – und neues Vertrauen in die eigenen Kräfte gewinnt. Diesen Blick zurück haben wir verlernt, die Zufriedenheit vergessen, die einen dabei durchströmt. Es ist für einen modernen Menschen befremdlich, sich von seinen Zielen abzuwenden und rückwärts zu schauen. Unsere schwächlichen Rettungsversuche lauten: Das wird schon wieder. Nur nach vorn schauen. Dabei liegt die Lösung oft hinter einem, da nämlich, wo die eigene Kraft eine sichtbare Spur hinterlassen hat und Mut machen kann.

Versuchen Sie einmal den Blick in Ihre Vergangenheit? Es gibt viel, auf das Sie stolz sein können! Allein schon das Lesen! Erinnern Sie sich, wie es war, als Sie noch nicht lesen konnten? Ich weiß noch, wie ich als Kind im Bad eine Flasche Shampoo in den Händen gedreht habe. Diese seltsamen Muster! Das war Schrift, ein Geheimnis, von dem ich glaubte, es niemals lösen zu können. Heute sitze ich am Computer und füge die geheimnisvollen Schriftzeichen in rasender Geschwindigkeit aneinander, fast so schnell wie ich spreche. Und es ist zur Selbstverständlichkeit geworden.

Sie dürfen sich wundern über sich selbst. Ihre Augen wandern über diese Seite, und Sie entschlüsseln ihren Sinn. Das haben Sie mühsam gelernt in den ersten Schuljahren. Es ist großartig, dass Sie es beherrschen! Wussten Sie, dass Sie nicht einmal die einzelnen Buchstaben lesen? Dass Sie vielmehr den Anfang und das Ende eines Wortes im Vorbeirasen ertasten und den Rest mit einer äußerst guten Trefferquote erraten? Probieren Sie es mal aus: Selsbt wnen die Bcuhasteban drcehuienndaerergaten, knöenn Sie ncoh eknenren, um wlehces Wrot es scih hnadelt.

Sie haben auch anderes gemeistert: Kopfrechnen, die Bedeutung der Verkehrszeichen zu verstehen, die Schuhe zubinden, Höflichkeit, die Uhr zu lesen. Es ergäbe eine unglaubliche Liste, würde man alles aufzählen, was Sie seit Kindheitstagen gelernt haben. Sie können stolz sein auf das, was Sie bisher geleistet haben. Staunen Sie ruhig darüber. Und haben Sie Selbstvertrauen. Sie werden auch in der Zukunft vieles lernen und bezwingen.

Staunen, sagen Sie, staunen, obwohl das doch jeder kann? Es meldet sich die zynische Stimme, die uns die Leistungsgesellschaft in den Kopf gepflanzt hat. Warum nörgelt sie herum? Weil sie Ihnen weismachen will, dass Sie überlegen zu sein haben. Dass es nicht genügt, in Ordnung zu sein.

Stellen wir uns Europa als ein Dorf vor. Der Bäcker backt die Brote, weil er das besser kann als jeder andere im Ort. Der Schuhmacher näht die Schuhe. Der Busfahrer bringt die Leute zum Bahnhof, und die Lehrerin bringt den Kindern Englisch bei. Jeder wird gebraucht, denn der Bäcker will Schuhe anziehen, der Schuhmacher Brot essen, die Lehrerin zum Bahnhof fahren und der Busfahrer seine Kinder unterrichten lassen. Jeder tut das, was er am besten kann. Das ist das Bild, das man uns eingeprägt hat. Ein zweiter Bauer soll sich gefälligst spezialisieren, eine zweite Lehrerin kann ja Mathe unterrichten. Einen Landstreicher brauchen wir überhaupt nicht. Richtig?

Falsch. Der Busfahrer ist nicht weniger wert, wenn er im Alter erblindet und nicht mehr hinter dem Steuer sitzen darf. Der Landstreicher hilft den anderen, das Teilen zu lernen. Und wenn es zwei Bauern gibt oder sogar zwanzig, dann sind die Bauern immer noch nicht weniger wert als der eine Schuhmacher, auch wenn er weniger Konkurrenten hat. Glauben Sie wirklich, Sie sind nur dann kostbar, wenn die Gesellschaft Sie im Augenblick gut gebrauchen kann? Glauben Sie wirklich, Ihr Wert steigt mit Ihrer Leistung?

Wir sind es gewohnt, unseren Wert dadurch zu bestimmen, dass wir uns mit anderen vergleichen. Am besten man macht etwas, das kaum ein anderer tut, dann steht man besser da. (Ich zum Beispiel schreibe Bücher. Das macht in meiner Nachbarschaft niemand. Ein Blick in die Buchhandlung genügt allerdings, um mir die Flausen wieder aus dem Kopf zu treiben.)

Also gar nicht vergleichen? Wie soll man da Erfolgserlebnisse feiern? Der Vergleich mit anderen, die schon weitergekommen sind, ist ein Fehler, den uns die Leistungsgesellschaft antrainiert hat. Gesund ist der Vergleich mit uns selbst – wo wir vor einem Jahr waren, vor fünf Jahren, vor zehn Jahren. Wer würde da nicht lächeln und mutig weiterwandern?

Und was den Wert angeht: Auch wenn ich die Buchhandlung gesehen habe mit ihrer Masse an guten Büchern, pfeife ich ein fröhliches Lied. Ich glaube nämlich nicht an einen Wert durch Bücherschreiben, sondern an ein faszinierendes Überwesen namens „Gott“, das sich gedacht hat: So einen Titus, den brauchen wir, den soll es geben.

Vom Glück zu leben

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