Читать книгу Vom Glück zu leben - Titus Müller - Страница 7

Heimlich verbündet

Оглавление

Haben Sie einmal einen Fremden angelächelt und Ihr Lächeln wurde erwidert? Das sind Momente, in denen man sich mit der ganzen Welt verbunden fühlt. Alle Fugen sind gekittet, alle Sorgen gegenstandslos. Das Lächeln ist ein Geschenk, das man den ganzen Tag mit sich herumträgt. Es leuchtet, es funkelt. Ich behaupte, dass andere noch nach Stunden von unserem Gesicht ablesen können, dass wir mit einem fremden Menschen ein Lächeln ausgetauscht haben.

Wir hängen dabei nicht von Konventionen ab oder von Verwandtschaft. Wir denken nicht an berufliches Vorankommen und daran, dass später mit gleicher Münze erstattet werden wird. Wir schenken und werden beschenkt, einfach so. Es ist selten geworden, das Gute, das man einfach so erlebt und weitergibt.

Auf meinem Schulweg grüßte ich jeden Morgen einen Mann, ohne ihn zu kennen. Ich weiß nicht mehr, wer von uns damit anfing, in jedem Fall war es bald eine Gewohnheit, ein guter Brauch. Wohin er ging, habe ich nie erfahren. Unsere Wege kreuzten sich zur immer gleichen Uhrzeit am immer gleichen Ort. Wir haben kein Wort gewechselt, nur gelächelt haben wir, weil dieses Zusammentreffen ein Geheimnis war, das wir teilten: Das kurze Heben der Hände machte uns zu Vertrauten. Bald freute ich mich darauf, bald hielt ich nach ihm Ausschau, wenn ich in die Nähe unseres Treffpunktes kam. Was wird er über mich gedacht haben, das Schulkind, das ihn jeden Morgen anlächelte? Ich erinnere mich an seinen roten Bart, die vom Wind zerzausten Haare, den Großvaterblick. Morgen für Morgen gaben wir uns ein Signal: Du bist ein Mensch. Schön, dich wiederzusehen.

Ab und zu gelingt es mir auch heute noch, mit wildfremden Leuten einen freundlichen Blick auszutauschen. Der Mann am Postschalter, die unbekannte Frau am Bahnhof, die es stört, dass der Zug Verspätung hat, der Glatzköpfige, der mir auf dem Gehweg entgegenkommt. Probieren Sie es aus! Unsere Zivilisation lehrt uns, anderen Menschen emotionslos und mit nur kurzem, geschäftsmäßigem Gruß – wenn nicht gleich ganz ohne Gruß – zu begegnen. Aber der Freudensprung, den mein Herz macht, wenn ich menschliche Wärme mit Unbekannten austauschen darf, lässt mich glauben, dass es anders besser wäre.

Natürlich ist es nicht ohne Gefahr, sich der gesellschaftlichen Norm entgegenzustellen. Fremde vom anderen Geschlecht könnten meinen, Sie wären an ihnen als Partner interessiert; Unbekannte Ihres Alters könnten sich verspottet fühlen. Ich will keinesfalls Verwirrung stiften. Ich glaube allerdings, dass es eine Art von Lächeln gibt, die entwaffnet, entwirrt, Freude macht und vor allem daran erinnert, dass wir alle Geschöpfe des einen Gottes sind. Nicht Rivalen, die um ein paar Euro kämpfen oder um die Aufmerksamkeit unserer Mitmenschen, sondern Gefährten, die sich an ähnlichen Dingen erfreuen.

Vor einem Bewerbungsgespräch hört man von seinen Freunden oft den Rat, man soll sich den strengen Herrn oder die strenge Dame vorstellen, wie sie gerade die Toilette aufsuchen, damit einem klar wird, dass auch sie nur gewöhnliche Menschen sind. Ich stelle mir lieber etwas anderes vor. Im Seminar für mittelalterliche Geschichte bemerkte ich einen Ring am Finger meines Professors. Er ist verheiratet? dachte ich. Womöglich hat er sogar Kinder? Ich malte mir aus, wie zwei kleine Jungen an seinen Beinen heraufspringen, wie er seiner Frau einen Begrüßungskuss gibt und das Jackett auf einen Stuhl wirft. Was denken sie von ihrem Vater, der so viel über das Mittelalter weiß? Ist seine Frau stolz auf ihn? Vielleicht haben sie geheiratet, als er noch ein einfacher Student war. Und nun ist er Professor.

Im Zug sehe ich manchmal jemanden weinen. Ich frage mich: Musste sie gerade Abschied nehmen von ihrem Freund? Oder für lange Zeit fortgehen von zu Hause? Wenn ein Kind quengelt, schiebe ich den Ärger beiseite und denke stattdessen darüber nach, wo Mutter und Kind wohl eingestiegen sind, wie lange sie schon fahren, wie sehr sich die Mutter auf die erlösende Ankunft freut. Sie hat vielleicht noch einen Apfel in der Tasche, der das Kind beschäftigen würde, hebt ihn aber für die letzte Stunde auf. Es ist ihr unangenehm, dass ihr Sprössling so laut ist, sie weiß, dass das Geschrei den anderen Reisenden auf die Nerven fällt. Ihre Körpersprache verrät, dass sie sich schämt. Ich lächele ihr zu, um zu sagen: Es ist alles in Ordnung. Sie Arme! Nicht leicht, oder? Und schon sind wir heimlich verbündet. Wie ein Vertreter der anderen Reisenden sage ich ihr durch das Lächeln: Wir halten Sie nicht für eine schlechte Mutter und Ihr Kind nicht für eine verzogene Göre. Ist doch alles verständlich bei einer so langen Zugfahrt. Sie schlagen sich tapfer.

Probieren Sie das mal aus, nur mit einem Blick und einem Lächeln zu kommunizieren! Wagen Sie sich an einen fremden Menschen heran. Und gehen Sie ruhig davon aus, dass all die Leute in der U-Bahn, die Kollegen im Betrieb und die Wartenden an der Aldi-Kasse ähnliche Probleme haben wie Sie. Jeder Mensch ist anders, aber Menschen sind wir alle. Wesen, denen ein Lächeln heilsame Medizin sein kann.

Vom Glück zu leben

Подняться наверх