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Zeitreise

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Ich habe einen alten Nachbarn, der mich häufig mit seinem Humor überrascht. Kaum ein Zusammentreffen, bei dem er nicht einen Scherz macht. Ein glücklicher Mensch. Es ist ein Vergnügen, mit ihm im gleichen Haus zu wohnen.

Vor einigen Wochen traf ich ihn auf der Straße. Er ging mit seiner Frau spazieren und tat so, als würde er mich nicht erkennen. Seine Frau grüßte mich und ich grüßte zurück. Augenblicklich blieb er stehen, hielt sie fest und tadelte sie: „Was grüßt du junge Männer!“ Er sah mir nach: „Wer ist das?“ Grinsend lief ich weiter. Es war einfach köstlich, wie er den Eifersüchtigen spielte.

Seit vergangener Nacht denke ich anders über die Begebenheit. Kurz vor Mitternacht klingelte es. Über die Gegensprechanlage meldete sich niemand. Ich öffnete und lauschte im Treppenhaus auf Schritte. Es blieb dunkel – wer auch immer die Treppe hinaufkam, lief offensichtlich gern so, dass er die Hand vor den Augen nicht sah. Dann erspähte ich meinen Nachbarn. Ich machte Licht. Etwas in seinem Gesicht war anders. Wir blickten uns an wie Fremde, mit reservierter Höflichkeit.

„Entschuldigen Sie“, sagte er, „man hat mir gesagt, dass ich in diesem Haus wohne.“

Ich lächelte. Wie gut er seine Rolle spielte! Aber das humorvolle Funkeln in seinen Augen blieb aus. Als ich nicht antwortete, lief er weiter die Treppe hinauf, obwohl er ein Stockwerk unter mir wohnt. Ich hielt ihn auf.

„Sie wohnen dort unten, ich kann sie hinführen.“ Langsam dämmerte mir, dass er nicht scherzte.

Die Wohnungstür stand offen. Aus dem Wohnzimmer drang Licht. Beim Betreten der Wohnung bedankte er sich höflich und erklärte mir, dass er erst gestern hier eingezogen sei.

„Jetzt erkenne ich Sie“, sagte er, „vielen Dank.“

Was ist ihm entrissen worden durch die Unfähigkeit, sich zu erinnern! Wir scherzen über die Alzheimerkrankheit, wenn uns ein Name entfallen ist oder eine Telefonnummer, und drücken damit eine Angst aus – die Angst, uns eines Tages überhaupt nicht mehr erinnern zu können.

Es ist kostbar, dass wir in der Lage sind, uns Dinge zu merken. Wir können über Jahrzehnte, ja unser ganzes Leben lang Erinnerungen im Kopf behalten. Welches Geschenk!

Sie wissen nichts damit anzufangen, was Sie jetzt im Moment glücklich machen würde? Lassen Sie mich ein paar Dinge vorschlagen.

Vielleicht geht es Ihnen ähnlich wie mir und Sie sind noch nicht sicher, ob Sie sich dieses Jahr leisten können, in den Urlaub zu fahren. Wie wäre es mit einer Urlaubsreise in die Vergangenheit? Waren Sie in den zurückliegenden Jahren irgendwann im Ausland? Kochen Sie sich das Essen, das Sie dort geliebt haben. Laden Sie Freunde oder die Familienangehörigen ein, die Sie begleitet haben, und schauen Sie mit ihnen gemeinsam die Fotos der Reise an. Lachen Sie über die lustigen Erlebnisse, erzählen Sie sich Geschichten!

Es muss keine Urlaubserinnerung sein. Schulerinnerungen tun es auch. Haben Sie noch Kontakt zu alten Klassenkameraden? Verabreden Sie sich! Versuchen Sie, auf die Namen der Lehrer zu kommen, versuchen Sie, sie nachzuahmen in ihren Gesten, ihrer Art zu sprechen. Wissen Sie noch, damals, als Kalle im Schrank einen Wecker versteckt hatte, der zehn Minuten vor der Pause losschrillte und das Signal gab, dass die ganze Klasse aus dem Raum zu stürmen hatte? Erinnern Sie sich daran, wie Frau Elias das Zettelchen abfing, das Sie in die andere Ecke des Klassenzimmers geschickt hatten, und wie sie es laut vorlas? Jeder Ihrer Gefährten wird andere Erlebnisse im Kopf haben, und wenn Sie zusammentragen, was Sie noch wissen, entsteht ein amüsantes Bild der Schulzeit vor Ihnen. Was sage ich – kein Bild, ein Film!

Ihnen ist nicht nach Gesellschaft? Dann nehmen Sie sich ein Fotoalbum zur Hand und schauen sich Ihre Kinderfotos an. Blättern Sie nicht gleich um, sehen Sie genauer hin! Können Sie sich an die Tapete erinnern? Sehen Sie altes Spielzeug im Hintergrund? Warum weinen Sie auf diesem Bild? Warum lachen Sie auf jenem? Schauen Sie mal, das müssen noch Milchzähne sein. Und diesen Pullover würden Sie um nichts in der Welt heute noch anziehen (wenn er Ihnen passen würde). Ist es nicht großartig, wie Ihre Mutter Sie hier hält? Sie durften Liebe auftanken damals.

Können Sie sich an das Gefühl erinnern, wie es war, am Morgen aufzuwachen und zu wissen: Das Programm für heute lautet: spielen, spielen, spielen? Ich erinnere mich gut. Es war ein Vergnügen, bei Sonnenaufgang aufzustehen. Kein Herumlungern im Bett, kein gequälter Blick auf den Wecker. Endlich war die Nacht vorüber, es war wieder Tag, das Spielzeug wartete!

Natürlich kann eine Zeitreise nicht mit einem echten Urlaub mithalten. Aber probieren Sie es aus, sie hat eine ähnlich erholsame Wirkung. Das liegt daran, dass es dankbar macht, positive Erinnerungen aufzufrischen. Eines der Geheimrezepte der Bibel für ein glückliches Leben lautet: „Seid dankbar in allen Dingen!“

Vom Glück zu leben

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